Gerade als aus dem verträumten 18-jährigen Finn und seiner Mitschülerin, der unkonventionellen und erschreckend unverblümten Luna, ein Paar wird, spitzen sich die Probleme in ihren Familien dramatisch zu. Und Probleme haben beide Sippen reichlich.
Lunas Familie
Stellas Tod hat Familie Jannick nachhaltig verändert. Mutter Tabea plagt sich mit Schuldgefühlen, Vater Urban zieht sich zurück, die Ehe ist in einer ernsthaften Krise, und Stellas mittlerweile 16-jährige Zwillingsschwester Luna, die sich stets an ihrer Schwester orientiert hat, muss nun zu einer eigenen Identität finden.
Am besten hat noch Evi den Verlust verkraftet, Tabeas Schwester - eine bezaubernde junge Frau mit einer leichten geistigen Behinderung, die bei den Jannicks lebt.
Finns Familie
Auch die Familie Drostenhagen, die neu in die Nachbarschaft zieht, hat ihre Schwierigkeiten: Mutter Marianne, eine Mode-Designerin, ist geschieden, ihr Sohn Finn leidet unter der Bluterkrankheit und unter der Überfürsorglichkeit seiner Mutter. Seiner temperamentvollen kleinen Schwester „Motte“ dagegen wäre ein bisschen mehr Aufmerksamkeit ganz lieb. Überhaupt hängt sie mehr an ihrem Vater als an der Mutter und setzt alles daran, zu ihm ziehen zu dürfen. Auch wenn ihm das gar nicht so Recht ist.
Chaos, Krisen, Katastrophen
Durch die Medien erfährt Tabea Jannick, dass sie dem Arzt, der ihre Tochter Stella operiert hat, völlig zu Recht misstraut hat. Ihm werden Kunstfehler vorgeworfen. Sie beschließt, ihn zu verklagen. Aber ist diese Art von Rache wirklich im Sinne ihrer verstorbenen Tochter? Luna, die immer noch eine starke spirituelle Verbindung zu ihrer verstorbenen Schwester spürt, hat Zweifel. Finn hält auch nichts von dieser Idee – und das nicht nur, weil er in Luna verliebt ist. Kann das junge Paar die Erwachsenen davon abhalten, sich in Hass und Rachephantasien zu verrennen?
Damit nicht genug: Luna bekommt nun auch noch Probleme in der Schule. Mit ihrer allzu direkten Art können eben viele Mitmenschen nicht umgehen. Insbesondere nicht ihre Klassenlehrerin, Frau Brecht, der Lunas gut gemeinte Verbesserungsvorschläge für ihren Unterricht sauer aufstoßen. Auch „Motte“ Drostenhagen hat Schulschwierigkeiten und versucht, mit sehr drastischen Mitteln ihre Umzugspläne zum Vater voranzutreiben. Ihre Mutter Marianne wiederum muss feststellen, dass Familiengeheimnisse die fatale Eigenart haben, nicht auf ewig geheim zu bleiben. Und Finn lässt vor lauter Verliebtheit seine medizinische Vorsorge schleifen und bringt sich dadurch in Gefahr ...
Rasen sie nun alle mit Vollgas in die Katastrophe? Oder kommt der eine oder andere doch noch rechtzeitig zur Besinnung? Was könnte die einzelnen Personen zur Einsicht und zur Umkehr bewegen? Und hat Luna wirklich eine außergewöhnliche Begabung – oder nur zuviel Phantasie?
Alles ist denkbar in diesem Buch, das einen zum Lachen und zum Weinen bringt wie das wahre Leben. Und natürlich verrate ich hier nicht, wie sich die verschiedenen Handlungsstränge entknoten und auflösen.
Liebenswerte Exzentriker
Was ich guten Gewissens verraten kann: Die wahren Sympathieträger in diesem Buch sind die, die nach landläufiger Meinung ein bisschen schräg drauf sind. Da ist Luna, der nichts peinlich ist, die stets meint, was sie sagt und sagt, was sie meint. Dass ihre gut gemeinte Offenheit für ihre Mitmenschen verletzend sein kann, kann sie nicht nachvollziehen, weil sie selbst sich von Kritik nicht angegriffen fühlt sondern sie als Chance begreift, sich zu verbessern. Luna kommuniziert rein auf der Sachebene. Mit Ironie, dem Lesen zwischen den Zeilen und dem Hineininterpretieren von emotionalen Botschaften kann sie überhaupt nichts anfangen. Ihre Persönlichkeit trägt meines Erachtens Züge des „Asperger Syndroms“, einer leichten Form des Autismus, auch wenn das in dem Buch nie direkt angesprochen wird und meines Wissens nach von der Autorin auch so nicht beabsichtigt war. Manch ein Hochbegabter und/oder Wissenschaftler ist so „gestrickt“, und so mag die literarische Figur der Luna Vorbilder aus dem wirklichen Leben haben.
Besonders gut kommt Luna mit ihrer geistig behinderten Tante Evi klar. Auch Evi ist das Abstrakte in der Kommunikation ein Buch mit sieben Siegeln. Sie nimmt jede Botschaft wörtlich und ist außerstande, sich zu verstellen. Die Eigenschaften, die Evi liebenswert machen, machen Luna ein wenig anstrengend. Doch Lunas Schuldirektor Rex bringt es auf den Punkt. Luna wird trotzdem Freunde finden. „Sogar bessere Freunde als die meisten von uns, denn alle schwachen und zur Selbsterkenntnis unfähigen Menschen werden sie meiden. So bleiben nur die wenigen Starken. Die reifen Charaktere. Die Menschen mit Format und Rückgrat. Solche Freunde wünscht man sich doch, oder?“
Überhaupt ... Direktor Rex ... das ist auch so eine Marke! Zieht, als er Luna und Finn für eine Unbotmäßigkeit bestrafen soll, eine Riesenshow ab, um seine Pädagogen bei Laune zu halten – und gibt, kaum dass die Lehrer den Raum verlassen haben, seinen Schülern Recht. „Das ist wirklich ein starkes Stück, wenn die Schüler bessere Pädagogen sind als die Lehrer“, stellt er fest. Dass er selbst einen Affen für geeigneter hält, Deutsch zu unterrichten als seine Frau Brecht, verrät er ihnen zum Glück nicht. Das gesteht er nur gegenüber Lunas Mutter ein. Die nun endlich weiß, wer der Bär von einem Mann war, der auf Stellas Beerdigung so bitterlich geweint hat.
Heiter, ernst, spirituell
Die tragisch-heitere Geschichte hat auch eine spirituelle Komponente: Luna, die mit ihrer verstorbenen Schwester in Verbindung steht und nachts den Schnee zum Leuchten bringt. Finn, der die Verstorbene ebenfalls sieht ... Doch selbst hartgesottene Skeptiker, die mit Esoterik &. Co. gar nichts am Hut haben, werden ihr Vergnügen an diesem Roman haben. Sie verbuchen das Übersinnliche als phantastisches Element und freuen sich an den raffiniert verflochtenen Handlungssträngen und lebendigen Charakteren – vor allem an den skurrilen. Und nicht zuletzt an den Weisheiten über das Leben. Man wünscht sich beim Lesen, man könne sich alles merken ... was die Haushälterin der Drostenhagens Kluges zum Thema Erziehung zu sagen hat ... wie sich Schulleiter Rex über die Freundschaft äußert, Urban Jannick über Liebe und Ehe, Tabea Jannick über Wut und Angst. Und auch ihre, sagen wir mal, „flammende Rede“ an die unfähige Lehrerin Brecht ist (be)merkenswert.
Was ich mir sicher dem Sinn nach merken werde, ist diese Erkenntnis von Urban Jannick: „Druck ist (...) grundsätzlich selbstgemacht. Man kann Forderungen auch ignorieren, Ansprüche enttäuschen, Vorstellungen widersprechen. Dann ging alles durch einen durch wie ein Neutrino durch einen Stern. Nichts blieb haften, nichts beschwerte einen. Man war frei.“