Ein fliehendes Pferd - Martin Walser

  • Martin Walser


    Ein fliehendes Pferd


    - Eine Novelle -


    Inhalt:


    Seit elf Jahren verlebt das Ehepaar Halm seine Ferien am Bodensee, in immer derselben Ferienwohnung mit den vergitterten Fenstern.
    Es sind Ferien, die Helmut und Sabine Halm anspruchslos beginnen, die ruhig dahingehen.
    Vom Kaffeetisch aus betrachtet Sabine heiter gestimmt die bewegungsvolle Trägheit auf der Uferpromenade.
    Helmut wünscht sich nichts sehnlicher, als dieser abendlichen Idylle zu entkommen. Dann aber geschieht etwas, das das eingespielte Verhältnis stört: Vor dem Tischchen bleibt Klaus Buch stehen und will nicht glauben, dass sein Jugendfreund und Kommilitone Helmut ihn nicht mehr erkennt...


    Ein Kritiker hat über Ein fliehendes Pferd geschrieben: "... Diese Geschichte könnte zu dem gehören, das einmal übrigbleibt von einem Jahrhundert."



    Meine Meinung:


    Für 2 Euro im Ausverkauf erstanden, naja kann man mal ja mitnehmen, dafür jetzt heiß geliebt. Man könnte ja soviel dazu sagen, wäre diese kleine Geschichte nicht eben das, was sie eben ist: eine kleine Geschichte. Ich will also nicht allzuviel verraten.
    Keine Diskussion, ob Martin Walser toll ist oder nicht, dieses Büchlein ist jedenfalls ein kurzweiliges Vergnügen, egal, ob man es mit an den Strand nimmt oder ins Bett oder so tut, als würde man Literatur lesen.


    Ist es Literatur? Ich weiß es nicht. Der eine ist ein Spießer, der andere enervierend charmant, man will auf keinen Fall so werden wie sie, aber es ist köstlich, beide beim "Hahnenkampf" zu beobachten.


    Der Film läuft gerade aktuell im Kino (ua. mit Katja Riemann) und den werde ich mir auf jeden Fall auch antun.


    ASIN/ISBN: 3518371002

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“

  • Ich weiß nicht, was mich vor drei Tagen dieses Buch hat aus dem Regal ziehen lassen, der späte Abend, die Wirkung des einen Glases Wein, der Umstand, daß das schmale Bändchen im Halbdunkel des Zimmers noch schmaler wirkt? Die Erwartung eines letzten kurzen Genusses vor dem Schlafengehen, also?


    Dreißig Jahre alt wird das Buch in diesem Jahr, ich kann mich gut daran erinnern, wie es war, als es erschien. Jeder, aber wirklich jeder sprach davon, Radio, Fernsehen, Feuilletons waren voll davon. Man sah es in der Straßenbahn und im Bus, im Wartezimmer bei Ärzten und sogar beim Friseur. Es tauchte blitzgeschwind in den sauberen bundesdeutschen Wohnzimmern auf, es lag auf den Nachtischchen neben den weichen bundesdeutschen Federkissen. Es wurde sogar gelesen und, erstaunlicherweise, eben von den Leuten, die es so böse, so witzig, so traurig porträtiert.


    Dabei, so sollte man meinem, steht doch manches dem Lesevergnügen entgegen. Das Ding stammt von einem Schriftsteller, ist also Literatur.
    Und dann heißt auch noch Novelle. Die Gattung, mit deren Nennung man sogar LiteraturwissenschaftlerInnen ins Schleudern bringen kann.


    ‚Herr Dr. XY, was ist eine Novelle?’
    ‚Äh, nun, eine Erzählung, nein, nicht ganz, eher länger als eine Erzählung, aber kürzer als ein Roman, auf jeden Fall, und es muß einen Wendepunkt enthalten, also, die Handlung muß sich umdrehen, will sagen, also, ändern. Am Ende hat sich das geändert. Der Falke, nicht wahr. Boccaccio. Daher kommt das. Er ist da, dann wird er geschlachtet, ein Symbol. Paul Heyse hat das definiert. Verwandt mit dem Drama, eng verwandt, aber Prosa, natürlich. Haben Sie Conrad Ferdinand Meyer gelesen oder Gottfried Keller? Die haben Novellen geschrieben. So also. Das sind Novellen. Bei denen sieht man das ganz genau. Storm auch. Lesen Sie das und Sie werden es verstehen.’
    ‚Äh .... .’


    Eine Erzählung mittlerer Länge, die auf einen Wendepunkt hinläuft, der eine grundlegende Veränderung im Handeln mindestens einer der Personen bewirkt. Von der Stelle an läuft die Geschichte dann weiter bis zum Ende und da hat sich tatsächlich etwas, das zu Beginn fest und unverrückbar erschien, vollkommen verändert. Liebesbeziehungen z.B. bekommt die Gattung ‚Novelle’ meist nicht gut.
    Das, was Autorin oder Autor als ‚Wendepunkt’ wählen, bestimmt die Motivik. Sie ist recht eng gefaßt und wird wieder und wieder in Variationen durchgespielt, Symbole, Metaphern, alles entstammt einem einzigen Bereich.


    Darüberhinaus enthält eine Novelle immer und grundsätzlich eine Moral. Diese Moral wird vor allem in den Dialogen vermittelt, in denen das zugrundeliegende Thema als Für und Wider diskutiert wird - daher die Verwandtschaft zum Drama.
    Die strengen Erfordernisse der Form macht die Novelle zu einer altmodisch anmutenden Gattung. Umso interessanter ist es, wenn ein Autor sich im späten 20. Jahrhundert dazu entschließt, eine Novelle zu schreiben.


    Walsers Geschichte beginnt unauffällig. Ein Ehepaar auf einer Promenade am Bodensee, die Ehefrau, Sabine, möchte sich die Leute anschauen und läßt sich am Tischchen eines Straßencafés nieder, der Ehemann, Helmut, möchte das nicht, setzt sich aber dazu. Aus der Beschreibung seiner inneren Abwehr gegen das aktuelle Geschehen entwickelt sich in wenigen Seiten eine tiefgehende psychologische Studie seines Charakters. Da ist ein Mann, Lehrer, knapp über Mitte Vierzig, der das Leben scheut. Er scheint die Orientierung verloren zu haben, er ist auf dem Rückzug. Sein Leben scheint stark von Routine geprägt, aber das reicht ihm nicht mehr, alles bleibt dennoch unsicher. Tatsächlich ist er auf der Flucht.
    In diese Situation des Davonlaufens platzt ein Freund aus der Kindheit, Klaus Buch, mit seiner um einiges jüngeren Frau Helene. Er scheint genau das zu sein, was Helmut nicht ist, einer, der das Leben rundum erfolgreich meistert.


    Helmut ist irritiert, fühlt sich gestört, herausgefordert. Er kann der indirekten Herausforderung des Mannes nicht widerstehen und so beginnt der Kampf zwischen den beiden.
    Was sich zunächst wie eine private Auseinadersetzung liest, ein Hahnenkampf zwischen zwei Männchen, ist tatsächlich ein Blick auf eine ganze Generation. Es ist die Generation derer, die das Wirtschaftswunder als junge Erwachsenen miterlebt haben, die immer vorwärts blickten, aufbauten, für die materieller Wohlstand zentral war. In den mittleren Jahren scheinen sie aufzuwachen, blicken sich um und stehen, wie sie meinen, mit leeren Händen da.
    Literatur und Kultur - für die Helmut auch stellvertretend steht, schützt nicht vor dem Nachdenken.


    Ungeheuer hellsichtig zeigt sich Walser in der Charakterisierung des ‚Klaus’, mit seinem Jugendlichkeitswahn, seiner übertriebenen Sportlichkeit und vor allem dem Gesundheitswahn. 1978 gab es noch keine Grünen als Partei, aber die Ökologie durchaus als Thema und auch schon als medienwirksames wie als verkaufsförderndes, wenn auch erst in den Anfängen.
    Auch Klaus ist auf der Flucht, ebenso vor sich selbst und vor dem Leben wie Helmut. Fliehende Pferde überall, nicht erst, als tatsächlich ein echter Gaul durchgeht.
    Diese Szene ist Kunstgriff und Taschenspielertrick in einem. Das Symbolisch - Moralische - lebendige Wesen auf der Flucht - Fleischwerden zu lassen und das wiederum zum Anlaß zu nehmen, für weitere moralische und symbolische Ausführungen zum Thema Fliehen, was für eine Idee!
    Formstrenge, kann man nicht anders bezeichnen.


    Faszinierend bei der Beschreibung aller vier Personen, der Männer wie der Frauen, ist, wie es Walser gelingt, Zuneigung und Abneigung gegen sie in rascher Folge hervorzurufen und abwechseln zu lassen. Faszinierend auch die Erzählperspektive, die eigentümlich zweigespalten wirkt. Ein Erzähler erzählt uns von Helmut, seine Gefühle, seine Kommentare werden mal näher, mal distanzierter berichtet und betrachtet. Das Rätsel löst sich erst am Ende, es ist Helmut selbst, der in der Rückschau von Helmut erzählt und von den wenigen Tagen am Bodensee in der aufgezwungenen Gesellschaft seines Jugendfreunds.


    Natürlich reicht die Formstrenge bis in die Namens - und Wortwahl. Die einsilbigen Nachnamen, Halm und Buch, die gleichlautenden Anfangssilben der Namen Helmut und Helene. Ein Pferd und ein Heupferd. Ameisen und das sich klein fühlen. Gitter vor den Fenstern der Ferienwohnung und die Gitter, die Helmut gern vor sein Dasein ziehen möchte. Wasser und Wein, die Konkurrenz und das sich messen müssen, das vom Geistigen - Lehre versus Journalist, in Handumdrehen beim Körperlichen und bei der sexuellen Soll-Erfüllung angekommen ist.
    Handlungen, Nebenhandlungen, Wetterverhältnisse, das Essen, alles folgt einem eigenen, kleineren oder größeren Spannungsbogen. Nichts ist zufällig an dieser Konstruktion, Ausdrücke, scheinbar gedankenlos dahingeschriebene Bemerkungen entwickeln ganz sicher im Lauf des Texts ihre Bedeutung.


    Das Beste daran ist, daß man das alles gar nicht bemerkt. Man liest einen kleinen Roman über zwei Paar in der Midlife-Crisis. Treffen sich, nerven sich, beneiden sich, begehren sich. Klaus Helmut, Sabine Klaus, Helmut Helene, Helene Sabine. Wie ernst kann man das nehmen? Sommertage am Bodensee. Was passiert da im Sturm auf dem See? Unfall oder Mordversuch? Wie ernst kann man das nehmen?
    Verpfuschte Leben, drei oder vier? Oder gar nicht verpfuscht?


    Am Ende hat sich etwas verändert, Helmut vor allem. Deswegen kann er uns seine Geschichte erzählen. Es ist entschieden eine moralische Geschichte. es ghet um den Sinn des Lebens.
    Es bleiben auch Fragen offen. Was wohl aus Klaus und Hel wird? Und wer ist eigentlich Sabine? Die stille Ehefrau? Die Dulderin? Die Lebensbejahende, die genau weiß, daß man Ende sowieso nicht alles so heiß gegessen wird, wie es gekocht wurde?
    Wenn mir etwas fehlt bei dieser kleinen Geschichte, dann ein wenig mehr Information zu Sabine. Muß Helmut aber auch gar so zugeknöpft sein, wenn es um seine Frau geht? Sie ist eben sein größter Schatz, von dem schweigt Mann wohl eher.


    Und wenn ich etwas kritisiere an dem schmalen Büchlein, dann das, daß mir der Schluß heute, aus dreißig Jahren Rückschau, romantisch erscheint, nicht moralisch. Etwas Neues ausprobieren als Zeichen, sich dem Leben zu stellen. Vorwärtszublicken, als ob vorne nicht auch auf das Morgenrot unweigerlich die Dämmerung und die Nacht folgen würden. Oder die Erkentnis, daß man immer derselbe bleibt.
    Wie fern war man Ende der 1970er noch dem Pessimismus der späten 90er und danach.


    Aber das stört nicht wirklich, schließlich hat man da nichts Geringeres in der Hand als einen meisterlich konstruierten Text, der meisterhaft eine Geschichte erzählt. Man kann sie ein dutzendmal lesen und entdeckt immer noch etwas Neues. Sprachlich, erzählerisch, in der Charakterisierung.
    Sehnsucht nach dem Bodensee übrigens inklusive.


    Kein kurzer Genuß vor dem Schlafengehen, diese Novelle, also, sondern ein langanhaltender, über Jahrzehnte.
    Lektüre und Re-Lektüre empfohlen.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Marcel....ähm Magali


    Du bist ertappt, gibs jetzt einfach zu.


    :bruell DU BIST DOCH DER REICH-RANICKIIIIIIIIII........



    Sorry bin etwas OT.... :lache

    Avatar: James Joyce in Bronze... mit Buch, Zigarette und Gehstock.
    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Joan ()

  • Joan


    glaube mir, es ist mir verdammt peinlich, daß ich mit dem mal einer Meinung bin.
    Aber ich bin hübscher als er, ehrlich.
    Ich habe Zeugen.
    :lache


    :wave


    magali

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • ...und man braucht auch keinen Regenschirm, wenn man Dir beim Referieren zuhört??? :lache

    Avatar: James Joyce in Bronze... mit Buch, Zigarette und Gehstock.
    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

  • Meine Rezension:


    Wenn das, wie vielerorts behauptet, Walsers bestes Buch ist, dann werden Herr Walser und ich zumindest literarisch keine Freunde, obwohl ich ihn in einem Interview sehr sympathisch fand. Mich hat die Novelle über den biederen Lehrer Helmut, der einen alten Schulfreund wiedertrifft, an den er sich nicht einmal ein bisschen erinnern kann, weder begeistert noch fasziniert. Zu spröde war mir der Erzählstil, zu belanglos erschienen mir die Probleme des Protagonisten, obwohl sie dies bei näherem Hinsehen gar nicht sind. Ich konnte mit den Figuren weder mitfühlen noch mitleiden, ich empfand sie auch nicht als unsympathisch (mit Ausnahme des nervtötenden Klaus), sie waren mir schlicht egal. Zugegeben, das waren keine guten Voraussetzungen, um Gefallen an der Novelle im Gesamten zu finden. So wundert es auch nicht, dass ich die letzte Seite gleichgültig zugeschlagen habe und nur ein einziges Gefühl zurückbleibt: Schade! :-(

  • Für mich ist Ein fliehendes Pferd tatsächlich nicht nur das am meisten gelesene sondern auch (zusammen mit "Brandung", dem Folgeband) mit das beste Buch von Walser. Am meisten fasziniert mich die Sprache... die Beschreibungen des Innenlebens eines Menschen, die oft wahnsinnig zutreffend ist. Und dafür muss man sich mit dem "Antihelden" Halm gar nicht identifizieren.

    "Ich bin dreimal angeschossen worden – was soll man da machen." (Robert Enke)


    "Accidents" happen in the dark.