Klassiker - Notwendig oder nicht?

  • Hallo zusammen,


    glaubt ihr das es für ein tiefergehendes Verständnis der zeitgenössischen Literatur notwendig ist sich mit den Klassikern näher auseinander zu setzen, oder sind, z.B. die hierzulande allbekannten Goethe, Schiller, Heine und Konsorten schon so vergangen das man getrost auf sie verzichten kann?

  • Grundsätzlich ja. Und das ist keine Glaubensfrage :grin


    Literatur entsteht nicht im luftleeren Raum, sondern stets in Auseinadersetzung mit bestehenden Traditionen.
    Das kann ganz direkt geschehen, z.B. wenn sich Fühmann mit Trakl auseinandersetzt, Joyce mit der Odyssee, Pound mit der Renaissance, Arno Schmidt mit Barock, Christa Wolf mit der Antike.
    Kehlmann hat den klassischen Kanon drauf, von vorne bis hinten und wieder zurück, und das kommt in so ziemlich jeder länger Äußerung seinerseits auch deutlich zum Vorschein. Gilt auch für Alban Nikolai Herbst oder Özdogan.


    Das heißt nicht, daß die Leute zitieren oder abschreiben, sondern sie lassen sich von Ideen inspirieren, entwickeln ästhetische Systeme auf der Grundlage des Bestehenden.


    Nur darf man 'Klassiker' und Kanon nicht eng fassen, es geht üblicherweise über das hinaus, was gemein dazu gezählt wird.
    Auch Conan Doyle kann darunter fallen, Henry Miller, Philip K. Dick oder Banana Yoshimoto.


    Wenn man diese Bezugssysteme erkennen kann, hat man in der Regel mehr vom Lesen, der Blick wird weiter, es gibt ein vielschichtiges Bild.


    :wave

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Ich möchte nie auf klassische Literatur verzichten, aber ich wüßte nicht, wie sich das auf das Verständnis der modernen Literatur auswirken sollte. Die bleibt für mich oft nach wie vor außerordentlich unverständlich. Wie soll man da eine Verbindung herstellen können?

  • @sylli


    über den Wiederererkennenseffekt.
    Motive, Themen, das kommt einfach im Lauf der Zeit, wenn man viel liest.


    Ich sage nicht, daß man zeitgenössische Literatur überhaupt nicht versteht, wenn man andere und ältere Literatur nicht kennt.
    Man sieht nur deutlicher, was die Autorin, der Autor da gemacht haben.

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    K. Kraus

  • was ist denn "klassische Literatur"?


    alles was älter als 50 Jahre ist, 100 Jahre? alles, was irgendwelche Literaturpreise erhalten hat? werden die Bücher von heute in 100 Jahren Klassiker sein?


    wer mir das beantworten kann, dem antworte ich gern darauf, ob Klassiker m.E. notwendig sind oder nicht.

  • Das ist schon alles wahr, was du da schreibst, aber ich frage mich trotzdem, wieso die klassischen Autoren mit der Sprache umso viel besser umgehen konnten als die meisten der modernen Schriftsteller. Ich lese gerade wieder den Zauberberg und mich hat der Stil von Anfang an genauso begeistert wie bei der ersten Lektüre, obwohl viele Jahre dazwischen liegen. Für John Irving werde ich mich aber weiterhin nicht begeistern können, obwohl er von vielen sehr geschätzt wird.
    Aber sicher gibt es auch Klassiker, die mir nicht zusagen. Bei Marcel Proust fühlte ich mich bei seinen seitenlangen Sätzen auf der Suche nach Subjekt und Prädikat oft in die Lateinstunden meiner Mittelschulzeit zurückversetzt. Und J. Joyce harrt auf meinem SUB auch schon ganz lange aus, wurde mal begonnen und dann wieder weggelegt. "Die Elenden" hingegen habe ich wiederum verschlungen.
    Vielleicht muß ja doch jeder für sich selber herausfinden, was ihm bei der Lektüre zusagt und auch Klassiker sind kein Garant für ungetrübten Lesegenuß. Wichtig ist nur, dass man für alles offenbleibt und sich selber keine Zensuren auferlegt.

  • Queedin


    Die Frage kann Dir jedes Oberschulamt beantworten.
    :grin



    Deswegen schrieb ich ja oben, daß man den Rahmen nicht eng fassen kann. es ghet darum, das Bezugssystem zu erkennen, in dem die jeweilige Autorin/ der jeweilige Autor arbeiten.
    Das wiederum setzt sich aus verschiedenen einflüssen zusammen.
    Aber ganz ohne geht's nicht.


    :wave

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    K. Kraus

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  • @sylli


    was meinst Du mit : die klassischen Autoren konnten mit Sprache besser umgehen?
    Der Umgang mit der Sprache hängt doch von der jeweiligen Zeit ab, in der geschrieben wird?


    Ich z.B. finde Thomas Mann bis auf Buddenbrooks und einige Erzählungen unlesbar.
    :grin


    Klar muß jede für sich herausfinden, was sie gern liest, aber das war nicht die Ausgangsfrage.
    Sondern ob das, was man unter 'Klassiker' versteht, einen Einfluß auf heutige Literatur hat.
    Es kann also passieren, daß ich die Odyssee toll finde und Joyce bescheuert und umgekehrt.
    Das sagt aber nur etwas über mich aus, nicht über Joyce.


    (Ich finde Ulyssees klasse und bin der Ansicht, daß die Ur-Odyssee verflixt wenig damit zu tun hat. :lache)

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    K. Kraus

  • "Zeitgenössische"Literatur wäre ohne "klassische" Literatur nicht denkbar, ist sie doch eigentlich nichts anderes als das Fortführen dessen was wir als klassische Literatur bezeichnen. Und die zeitgenössische Literatur von heute ist doch nichts anderes als die klassische Literatur von morgen. Das eine bedingt das andere.


    Und der Begriff "klassisch" ist ja auch kein Gütesiegel. Der total überschätzte Thomas Mann gilt ja wohl auch als Klassiker, aber auch unverständliche Wortaneinanderreihungen können halt als "Klassiker" gewertet werden. :-)


    Höre gerade einen Klassiker der Rockmusik: REO Speedwagon...... :grin :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Aber ich kann nur von meiner persönlichen Meinung ausgehen, wenn ich etwas lese, außer ich möchte mich literaturwissenschaftlich damit beschäftigen und das tun die meisten Leser dann doch nicht.
    Das die Literaturwissenschaft von J. Joyce oder M. Proust viel hält, muß aber noch nicht bedeuten, dass ich diese Begeisterung teilen kann.
    Umgang mit Sprache bedeutet für mich, dass ein Autor ein Werk schaffen kann, in dem er mit der Sprache einen neuen, unverkennbaren Stil hervorbringt. Ein Beispiel dafür ist für mich G. Grass. In der "Blechtrommel" hat er doch atemberaubende Satzgebilde und Wortspiele geschaffen, von seiner unglaublichen Phantasie ganz zu schweigen.
    Und wie Th. Mann oder H. Hesse formulieren können, ist einfach genial.
    Für mich sind viele Klassiker eben ein Lesegenuß (viele aber auch nicht), ohne dass ich deswegen moderne Schriftsteller besser verstehen könnte.

  • Der deutschen Seele ist das Einordnen, in Schubladen schieben, abstempeln, katalogisieren so nahe, dass man auch für Bücher Etiketten braucht. Klassiker kann dabei zum Schimpfwort, zum bloß- nicht, aber auch zur Heldenverehrung, zu, bloß-keine- Kritik-an verkommen, oder noch schlimmer zum Marketing Instrument. Jeder sollte für sich selbst definieren, was er für Klassiker hält und das sind die Bücher, die für ihn unverzichtbar sind- also ist die Frage immer zu bejahen- Klassiker sind notwendig, für jeden Leser seine Klassiker. Nicht notwendig ist mir von MRR oder sonstwem vorschreiben zu lassen, was ein Klassiker ist.

  • Voltaire


    Du solltest die Erzählungen von Mann lesen, die lohnen sich. :grin


    @Sylli


    ich schrieb doch, daß es nicht ums Abschreiben geht. Sondern um den Rahmen, in den man das Ganze dann stellt.
    Neben einigem anderen ist die Blechtrommel ein Entwicklungsroman. Damit und mit der Wirkung, die sie in ihrer Zeit hatte, ist sie z.B. vergleichbar mit Goethes Wilhelm Meister. Er zeigt die radikalen Ansprüche einer neuen Generation.
    Das wäre ein Ansatzpunkt.
    Das Trommeln wiederum läßt Brechts Mutter Courage anklingen etc.


    Neues mischt sich mit Altem.
    Es geht auch nicht um Literaturwissenschaft.
    Es geht z.B. darum, daß man beim Lesen viel mehr Vergnügen daran haben kann, wenn man Vergleiche anstellen kann.
    Muß man ja nicht machen.
    Lesen ist wieder etwas anderes.


    Schreibende aber tun es, sich mit ihren VorgängerInnen auseinandersetzen. Wenn es Kunst sein soll.


    @Doc


    :grin


    ich glaube, du bist der einzige Typ, den ich unverändert niedlich finde, wenn er rundum blau ist.


    Henry Miller mögen ist eine Sache, Erotisieren grundlegend als Sinn und Zweck der Darstellung zu nutzen, ist etwas ganz anderes. ;-)

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • ich frage mich gerade, warum ein bestimmtes Buch zu einem "Klassiker" geworden ist? wirklich, weil es besser war/ist als andere, oder weil der Schriftsteller zufällig gerade besonders viel Beachtung gefunden hat? was ist an Conan Doyle so besonders, was heutige Krimi-Reihenautoren nicht haben? oder war er einfach nur einzigartig zu seiner Zeit?


    kann es sein, dass heute viel mehr Bücher erscheinen als zB noch vor 100 Jahren? haben deshalb die heutigen Autoren weniger eine Chance, Klassiker zu werden? wie war das, erschien früher auch so viel "Trivialliteratur"? ich vermute mal nicht, Bücher waren doch sicher eher etwas für die bürgerlichen, die gut genug lesen konnten, sich Bücher leisten konnten und die Zeit hatten, diese zu lesen.
    ich meine, so viel Erfolg ja ein Buch wie "Die Wanderhure" haben mag, aber ein Klassiker wird es sicher nicht werden. Dazu gibt es einfach zu viel ähnliches.



    wirklich notwendig finde ich Klassiker nicht unbedingt, um ein erfolgreiches, ausgefülltes, sinnvolles Leben führen zu können. Ich finde es eher als eine Art Luxus, bestimmte Bücher lesen zu können, zu verstehen und Zusammenhänge zu anderen Büchern zu erkennen. Es ist so eine Art geistige Wellness.
    In der Schule empfand ich es als große Last und viele Klassiker wurden mir elendig vergrätzt, obwohl ich schon damals sehr gerne gelesen zu haben. Ich glaube zB, dass ich nie eine gute Erinnerung an Kafka haben werden - kein Wunder, unsere Deutschlehrerin hat ihn geliebt und wir haben in auf dem Gymnasium JEDES Jahr gelesen. arggghhhh! ich glaube, bestimmte Bücher muss man lesen WOLLEN, um sie zu mögen.
    aber ich schweife ab, das ist ein ganz anderes Thema!

  • Zitat

    Original von beowulf
    Der deutschen Seele ist das Einordnen, in Schubladen schieben, abstempeln, katalogisieren so nahe, dass man auch für Bücher Etiketten braucht. Klassiker kann dabei zum Schimpfwort, zum bloß- nicht, aber auch zur Heldenverehrung, zu, bloß-keine- Kritik-an verkommen, oder noch schlimmer zum Marketing Instrument. Jeder sollte für sich selbst definieren, was er für Klassiker hält und das sind die Bücher, die für ihn unverzichtbar sind- also ist die Frage immer zu bejahen- Klassiker sind notwendig, für jeden Leser seine Klassiker. Nicht notwendig ist mir von MRR oder sonstwem vorschreiben zu lassen, was ein Klassiker ist.


    Hut ab, wunderbar ausgedrückt!


    genau meine Meinung

  • Mir war bis dato nicht klar, daß es sowas wie eine 'deutsche Seele' gibt.
    Man muß wohl eine haben, um so etwas zu erkennen.


    Queedin


    warum ein Buch, ein Bild, ein Musikstück zum 'Klassiker' wird, hat vielfältige Gründe.


    Die Sherlock-Holmes-Geschichten sind es geworden, weil sie auf ihre Art maßgeblich ein ganzes Genre (mit)begründet haben.
    So gesehen, kann 'Die Wanderhure' durchaus auch zum 'Klassiker' werden, weil sie im Rahmen des deutschsprachigen historischen Unterhaltungsromans eine eigene Bedeutung entwickelt hat.
    Wie 'Die Päpstin' im englischsprachigen.
    Wie Stephen King für 'Horror', wie Dan Brown für religionsgestützte Verschwörungstheorien.
    Es geht um Bücher, die 'typisch' sind. In ihnen finden sich Anschauungen, Gedanken, Themen, die noch weitere Generationen, wenn auch wiederum auf ihre Art, beschäftigen.


    Ja, heute erscheinen bedeutend mehr Bücher denn je.
    Trotzdem können Zeitgenossen nicht entscheiden, was aus ihrer Zeit zum Klassiker werden wird.
    Das zeigt sich erst im Lauf der Zeit.


    Goethe wurde zu seiner Zeit nicht so viel gelesen. 'Werther' war sein einziger Bestseller. Auch seine Gedicht hatten eher Achtungserfolge. Faust wurde zu seine Lebzeiten kaum aufgeführt, Faust 2 ließ er sowieso nicht raus.
    Schiller wurde erst mit seinem hundertjährigen Jubiläum zum 'großen deutschen Autor', Bach wurde erst im 19. Jahrhundert wiederentdeckt. Ebenso Mozart (ich frag mich bis heute, warum! :grin)


    Therese Huber und George Sand waren DIE Bestseller-Autorinnen der 19. Jahrunderts, Charlotte Birch-Pfeiffer DIE Autorin fürs Theater, Carmen Silva (mit bürgerlichem Namen Königin von Rumänien) eine gefeierte Dichterin - kennt sie noch jemand?
    Freiligrath? Uhland? Mörike? Das waren Renner.
    Hesse mußte für den Druck seines ersten Buchs zahlen. :grin
    Kafka fand keinen Verleger.


    Leute, die schreiben, aber lassen sich von solchen Canones nicht beeindrucken und vor allem nicht abschrecken. Sie lesen, massenhaft. Und sie nehmen nicht nur passiv auf, sondern setzen sich damit auseinander.
    Daraus kann Literatur entstehen.


    Zum zehnten Mal.
    :grin

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

  • Hallo Magali


    ob ich Dir nun diese ganz persönliche Frage stellen darf? Du musst sie ja nur beantworten wenn Du das auch magst :wave


    Hast Du denn ein Literaturstudium absolviert oder Germanistik oder so was in dieser Form, dass Du so enorm bewandert bist in Sachen Literatur? :anbet


    Grüessli Joan

    Avatar: James Joyce in Bronze... mit Buch, Zigarette und Gehstock.
    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

  • Zitat

    Original von magali
    Voltaire


    Du solltest die Erzählungen von Mann lesen, die lohnen sich. :grin


    Ich habe sie gelesen - sie lohnen sich nicht! :wave
    Thomas Mann und ich passen einfach nicht zusammen.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Waldlaeufer


    Und dabei dachte ich immer, Gegensätze ziehen sich an?


    Versteh ich jetzt irgendwie nicht...... :-)

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.