Es ist vielleicht nicht das richtige Buch für eine Zeit, in der der Winter gerade mit Mühe gewichen ist, denn es beginnt in einem Dezember mit dickem Schnee. Irgendwann hat es –21°C und aus der Glomma, dem größten Fluß Norwegens, steigen Frostwolken, dicht und undurchsichtig.
Die Geschichte spielt an der Grenze zu Schweden, in einem Gebiet kleiner Städte und noch kleinerer Dörfer, mit viel Wald und Landschaft dazwischen.
Daniel Kaspersen kommt nach zwei Jahren Gefängnis wegen Drogenschmuggels in seinen Heimatort Skogli zurück, nur um zu erfahren, daß sein jüngerer Bruder Jakob Selbstmord begangen hat, ohne Abschiedsbrief, ohne überhaupt ein Zeichen, obwohl die Brüder doch unzertrennlich waren. Damit nicht genug, wird noch in der Nacht nach der Beerdigung einer der reichsten Grundbesitzer der Gegend in seinem Haus überfallen und fast erschlagen. Er ist der Großvaters des Mannes, der Dan zum Schmuggeln überredet und danach bei der Polizei angezeigt hat. Grund genug für den leitenden Kommissar aus der Kleinstadt, Dan ganz oben auf die Liste der Schuldigen zu setzen.
Was sich dann entspinnt ist jedoch kein Krimi, auch wenn das Buch zuweilen so angepriesen wird. Es enthält durchaus klassische ‚detection’, aufgeklärt wird das zugrundeliegende Verbrechen aber eher beiläufig. Aufgespürt wird vielmehr die Bedeutung, die das Dorf, das Elternhaus und vor allem die Beziehung zu Jakob für Dan haben. Dan, der sich bislang eher hat treiben lassen, muß sich seinen Erinnerungen stellen. An den Hof, an die Eltern, die fromme Pfingstler waren, der Vater sogar Prediger, an Liebesbeziehungen, die Jugendzeit mit dem zwei Jahre jüngeren Bruder und ein wenig mit dem Glauben. Er muß sich mit der Frage auseinandersetzen, was ‚unzertrennlich’ heißt, was Verbindung ist und was Bindung und ob all die Straßen, die da so verlockend vor ihm lagen, wirklich irgendwohin führen.
Weißt Du, was Kolumbus als Einziges entdeckt hat? will sein Onkel einmal von ihm wissen.
Amerika? fragt Dan ein wenig gelangweilt.
Daß er sich verirrt hat sagt sein Onkel und wie so häufig, wenn Rein Kaspersen etwas sagt, sitzt es.
Ein Entwicklungsroman also, ja, durchaus. Eine Frau, in die Dan sich verliebt, taucht auch schon auf den ersten dreißig Seiten auf.
Was dieses Buch aber heraushebt, ist, daß die Erzählstimme wie –perspektive eine rein männliche ist und bleibt. Die Welt, die vorgestellt wird, ist die Welt aus den Augen eines Mannes. Die Art zu sprechen, zu sehen, zu verstehen, die Zurückhaltung, die Schwierigkeiten mit den langsam wachsenden Emotionen ist allein diesem Blick unterworfen. Es gelten Männergesetze und Männerrituale werden vorgeführt.
Zugleich wird kein einziger altbekannter Männermythos abgefeiert.
Der Starke ist am mächtigsten allein? Nichts da. Er lernt zu sprechen, denn Worte können befreien und machen erst wirklich stark. Ein Mann in diesem Buch macht vielleicht nicht tausend Worte um seine Probleme, er macht fünfzig. Die aber spricht er zu einem anderen Mann und dort findet er Verständnis.
Ein Mann macht Fehler, aber er versucht zu begreifen und sich zu ändern. Die, die drauflosprügeln, sind die Verlierer. Es wird getrunken, kräftig, aber Mann hält Maß, denn Probleme kann man nicht wegsaufen.
Ein Mann hat Schwierigkeiten in die Gemeinschaft zurückzufinden? Es sind die Männer der Gemeinschaft, die ihm den Weg öffnen. Männer sorgen füreinander, kümmern sich umeinander. Die Szenen zwischen Daniel und seinem Onkel sind originell und überraschend - überhaupt ist der Onkel eine großartige Schöpfung. ( Feuchte Hölle!)
Der Moment, in dem Dan den Säugling Sebastian zum erstenmal richtig wahrnimmt, ist einer der berührendsten, die man sich nur denken kann.
Die Perspektive verhindert es erfolgreich, daß aus der schwierigen Hauptfigur der geprügelte klischeehafte Held wird, in den sich die Leserin unweigerlich verguckt, weil sie ihn retten will. Dan rettet sich selber, er findet sich, mit Hilfe der Männer seiner Umgebung und ja, mit Hilfe einer Frau, die ihrerseits eben aufgrund der gleichen Perspektive nicht zur Übermutter werden muß. Der Ausgleich ist gelungen.
Ich habe selten ein Buch gelesen, das so ‚männlich’ war und zugleich eine so moderne Sicht auf die Welt hatte. Eine Welt, in der Vergangenheit und Tradition, Familie, Heimat, Zusammengehörigkeit, Schuld und Verantwortung höchste Bedeutung haben, ohne, wie eigentlich längst gewohnt, die Menschen zu ersticken. Das Hergebrachte wird überdacht und aus persönlicher Überzeugung mit neuem Inhalt gefüllt. Es ist ein Angebot, man darf es annehmen, gewzungen wird keiner.
Jeder darf mit dem Leben einen Ausflug ins Freie unternehmen, wenn man nur nicht vergißt, wo man zu Hause ist. sagte Dans Vater und darüber kann man durchaus mal nachdenken.
Es ist die Rückkehr des verlorenen Sohnes à la 2004.
All das ist wunderbar langsam erzählt, die Entwicklung geht behutsam vor sich, gemächlich. So gemächlich wie fallender Schnee. Deswegen ist der Originaltitel, etwa: "Schnee fällt auf Schnee, der schon gefallen ist," eigentlich schöner als der deutsche, der sehr nach Krimi klingt. Mit dem Schluß bin ich nicht ganz zufrieden, der kommt für meinen Geschmack ein wenig zu schnell.
Man kann das Buch nicht in einem Rutsch lesen, man muß oft innehalten und nachdenken. Es ist trotzdem keineswegs weitschweifig, nicht übermäßig poetisch, hin und wieder brutal. Es ist auf jeden Fall emotional, aber nie sentimental. Obwohl es schrecklich kalt ist zwischen Skogli und Kongsvinger im Dezember, wird es einem beim Lesen warm ums Herz.
Es der erste Roman von Levi Henriksen, der 1964 in Kongsvinger geboren wurde und dort als Journalist arbeitet. In einem Interview in einer norwegischen Zeitung sagte er von sich selbst, daß er in jeder Lebenslage schreiben könne, sogar mit einem Kind auf den Knien. Nur wenn er Musik mache, ginge das nicht. Er tourte selbst jahrelang als Bassist mit einer Band durch Norwegen. Hin und wieder merkt man die Liebe zur Musik im Roman.
In Norwegen erschienen ist 2002 bereits ein Band mit Erzählungen. "Snø vil falle över snø som har fallet" erschien 2004 und wurde vom Buchhandel dort zum Buch des Jahres gewählt. Die deutsche Übersetzung stammt von Gabriele Haefs und ist sagenhaft schön zu lesen, ich kann mich nicht entscheiden, ob ich schreibe: wie gewohnt oder aber: besser denn je.
ASIN/ISBN: 3426635011 |