Trümmergöre - Monika Held

  • Trümmergöre
    Monika Held
    ISBN: 978-3847905707
    Eichborn Verlag
    237 Seiten, 19,99 Euro


    Über die Autorin: Monika Held ist Journalistin und Autorin und hat für ihre Arbeiten zahlreiche Preise bekommen. Sie lebt in Frankfurt am Main. Bei Eichborn erschienen bereits „Augenbilder“, „Melodie für einen schönen Mann“ und 2013 der hochgelobte Roman „Der Schrecken verliert sich vor Ort“.


    Amazon-Kurzbeschreibung: Jula ist ein kleines Mädchen in der Hamburger Nachkriegszeit. Für sie sind Trümmer und halbe Häuser normal. Sie spielt "Der Russe kommt", "Wir bauen ein KZ" oder "Opa hat sein Bein verloren". Am liebsten ist sie auf dem Platz, wo ihr Onkel Gebrauchtwagen verkauft, ihre Schularbeiten macht sie in der Kneipe auf der Reeperbahn. Als sie zwölf wird, holt sie ihr Vater - der im diplomatischen Dienst und deshalb abwesend war -, um aus der "versauten Göre" eine höhere Tochter zu machen. Und Jula beginnt ein perfektes Doppelleben zwischen Alstervilla und Ganovenkiez.


    Meine Meinung: Was habe ich erwartet, nachdem ich diese Buchbeschreibung gelesen habe? Ein Buch, das die Geschichte einer netten, sympathischen „Göre“ erzählt, deren „Doppelleben“ auf dem Hamburger Ganovenkiez und in einer Alstervilla spielt und das humorvolle und komische Momente enthält – kurz gesagt, ich hatte leichte Unterhaltung erwartet und bin nun nach dem Lesen des Buches umso glücklicher, weil genau das nicht der Fall war.


    Jula, die Diplomatentochter ist inzwischen erwachsen geworden und sucht eine Wohnung für sich und ihren Freund. Nur durch Zufall erfährt sie, dass die Wohnung, in der sie in ihrer Kindheit bei ihrer Großmutter und ihrem Onkel lebte, zu verkaufen ist. Sie hat noch lange nicht mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen und so besichtigt sie die Wohnung und erinnert sich an alles, was zu diesen Räumen gehörte. Der Vater schob sie als Vierjährige zur Oma ab, um reisen zu können und Jula lernt dort ihren Onkel kennen, der mit seiner Mutter zwar unter einem Dach lebt, doch sie nicht sehen will. Beide begegnen sich so gut wie nie und wenn, dann ignorieren sie sich. Doch Jula erobert schnell das Herz des Onkels und das, was ihr Vater ihr vorenthält, Liebe und Nähe, bekommt sie vom Onkel, der sie mit zu seinem Gebrauchtwagenhandel nimmt, wo sie allerhand schräge Erwachsene kennenlernt und Freunde im Kiez gewinnt. Schnell lernt sie, was sie welchem Erwachsenen erzählen darf und worüber sie besser schweigen sollte, denn „in Wahrheit wollen Erwachsene die Wahrheit gar nicht hören.“


    Trotz der anfangs schönen Erinnerungen, spürt man die ganze Zeit den Schmerz der Erzählerin. Man ahnt, dass das, was sie in dieser Wohnung, mit diesen beiden Menschen erlebte, weit über belanglose Nettigkeiten hinausging. Dass die Vergangenheit sie tief geprägt hat. Monika Held hat einen Stil, der unter die Haut geht. Die Verletzlichkeit ihrer Figuren überträgt sich auf den Leser - man fühlt mit ihnen, sieht ihre Wunden vor Augen und manchmal, da möchte man die gelesenen Sätze laut aussprechen, einfach nur, um die Schönheit ihrer Sprachkomposition als Klang im Raum zu hören.


    Mein Fazit: Ein absolut beeindruckendes und zutiefst berührendes Buch. Die Autorin hat in diese wenigen Seiten so viel Leben, soviel Schicksal hineingepackt, wie es nur geht und trotzdem wirkt das Ganze nicht überladen, sondern nur überaus dicht, komplex und sprachlich wunderschön. 10 Eulenpünktchen für ein kleines Meisterwerk.

  • Eine ganz tolle Buchvorstellung. :anbet
    Danke dafür.
    Buch wandert dann auch sofort auf den Weihnachtswunschzettel bzw. die Weihnachtsbuchbestellliste. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Danke Eskalina.


    Auch wenn es etwas gedauert hat, ich habe mir das Buch aufgrund Deiner tollen Rezi besorgt und kann mich Deiner Begeisterung und vor allem Deinem Fazit nur restlos anschließen.


    Zitat

    Original von Eskalina
    Mein Fazit: Ein absolut beeindruckendes und zutiefst berührendes Buch. Die Autorin hat auf diese wenigen Seiten so viel Leben, soviel Schicksal hineingepackt, wie es nur geht und trotzdem wirkt das Ganze nicht überladen, sondern nur überaus dicht, komplex und sprachlich wunderschön. 10 Eulenpünktchen für ein kleines Meisterwerk.


    :write Für mich das erste echte Highlight in diesem Jahr.

    "Wie kann es sein, dass ausgerechnet diejenigen, die alles vernichten wollten, was gut ist an unserem Land, am eifrigsten die Nationalflagge schwenken?"
    (Winter der Welt, S. 239 - Ken Follett)

  • Inhalt
    Jula ist vier Jahre alt, als ihr Vater sie auf einem Schlitten durch das verschneite Hamburg zieht, um sie bei ihrer Großmutter abzuliefern. Der Vater geht, ohne sich noch einmal umzublicken. Kein Wort über ihre verstorbene Mutter, kein Wort über die Zukunft. "Du bist jetzt vier und sehr vernünftig", heißt es. Mit der Großmutter in einer Wohnung, doch in einer völlig getrennten Welt, lebt Onkel Hans, der jüngere Bruder des Vaters. Hans kocht für sich allein, die Erwachsenen reden kein Wort miteinander, gehen sich mithilfe geheimnisvoller Zeichen bewusst aus dem Weg. Hans findet sofort Zugang zur vom Trennungsschock verstörten Jula und bringt ihr sehr bald bei, dass sie besser nicht über die Dinge spricht, die sie tagsüber gehört und erlebt hat. Details eines Kinderlebens unter Kiezgrößen und Prostituierten erfährt die Großmutter zum Glück nie, die schon immer tagsüber als Näherin gearbeitet hat.


    Onkel Hans handelt mit Gebrauchtwagen und Autoteilen, bildet mit Trümmer-Otto und Schuten-Ede ein geschäftlich außerordentlich erfolgreiches Trio. Jula verbringt ihre Tage wie Hans Maskottchen auf dem "Platz", putzt Auto-Kennzeichen und lernt außer Buchstaben und Zahlen dabei von ihm, was es über Menschen und Autos zu wissen gibt. Zahlen werden zu einem Bindeglied mit tragischer Bedeutung zwischen Onkel und Nichte. "Bummeln mit Onkel Hans war Heimatkunde ohne Schule", wird Jula als Erwachsene rückblickend feststellen. So wie Jula ihre Umwelt mit den Augen in Tischhöhe wahrnimmt, genau so fühlt es sich an, vier Jahre alt zu sein. Aus erwachsener Perspektive von heute ist die Diele von Schulturnhallen-Größe zu einem winzigen Flur geschrumpft.


    Bei jedem Gang mit der Großmutter in den Keller begegnet Jula der Krieg. Der ehemalige Luftschutzkeller trägt noch Spuren aus der Zeit der Luftangriffe auf Hamburg. Die Großmutter als großartige Geschichtenerzählerin verpackt die Bombennächte in Abenteuergeschichten. Jula erfährt, dass das merkwürdige Verhältnis zwischen Hans und seiner Mutter u. a. in Erlebnissen in diesem Keller begründet liegt. Mit 8 Jahren wird sie sich allmählich Hans auffallender Ordnungsliebe, seiner Ängste und Zwänge bewusst. Der Onkel fühlt sich beobachtet und verfolgt; kaum verwunderlich bei jemandem, der als Jugendlicher Krieg und Nationalsozialismus erlebt hat. Zwanzig Jahre später, als aus Jula längst wieder Juliana geworden ist, konfrontiert ein Verkaufsangebot für eine Wohnung im Haus ihrer Kindheit Juliana mit ihrer Nachkriegskindheit.


    Jula balanciert elegant zwischen mehreren Welten, eine für Zeiten des Umbruchs, in denen die Erwachsenen mit sich und dem Überleben beschäftigt waren, absolut treffende Wahrnehmung. Ein wichtiges Thema des Buches sind die Versuche der Erwachsenen, Kinder vor vermeintlichen Gefahren zu schützen. Was ist wirklich gefährlich, das Bekannte oder das Unbekannte? Sind Erfahrungen Erwachsener in der Gegenwart überhaupt noch anwendbar? Schützt Verschweigen Kinder? Sehr authentisch wird dieser Konflikt deutlich im auf der Straße aufgeschnappten Lied- und Versgut jener Zeit, das Peter Rühmkorf später "das Volksvermögen" nennen wird.


    Fazit
    Monika Helds großartiger, berührender Roman wirkt zunächst tragikomisch durch die Perspektive eines Kindes, das noch nicht einordnen kann, was es von den Erwachsenen aufschnappt. Erzählt wird von der Icherzählerin im Rückblick mit dem Wissen der Gegenwart. Mit Julas allmählicher Annäherung an Hans Kriegstrauma entwickelt sich die Kindheitsgeschichte zum Roman einer Generation, die über ihre Erlebnisse nicht sprechen und deshalb keine therapeutische Hilfe finden konnte.


    10 von 10 Punkten

  • Zitat

    Original von Eskalina


    Jula, die Diplomatentochter ist inzwischen erwachsen geworden und sucht eine Wohnung für sich und ihren Freund.


    Dem Satz entnehme ich, dass es sich um eine Fortsetzung von "Der Schrecken..." handelt. Ist das richtig und wenn ja- sollte man das 1. Buch vorher lesen?

  • Ja, aber dieses INZWISCHEN erwachsen geworden, ließ mich annehmen, dass es in dem ersten Buch vielleicht um ihre Kindheit ging.
    Ich habe aber gerade die Beschreibung gelesen, die gehören wohl doch nicht zusammen.

  • Die Figur in "Der Schrecken" heisst Lena. Hier klärt "inzwischen" die Zeitebene. Es wird von Jula mit 4, mit 8, mit 12 Jahren erzählt. Die Wohnungssuche gibt der Handlung den Rahmen und verdeutlicht, dass die Empfindungen der Vierjährigen mit dem Wissen der erwachsenen Jula erzählt werden, die inzwischen die Dinge anders werten kann.