Eddy Bellegueule ist der erste Sohn eines Fabrikarbeiters aus der Picardie und seiner Frau, die ihrerseits bereits zwei Kinder aus einer ersten Beziehung mit in die Ehe bringt und insgesamt auf sieben Kinder hat. Eddy ist aus der Art geschlagen, schmächtig und asthmatisch, aber vor allem: homosexuell. Das macht ihn in seiner Familie und in seiner Heimat zum Außenseiter, der ständig mit erniedrigenden Anspielungen seiner Familie und mit physischer und psychischer Gewalt seitens einiger seiner Mitschüler konfrontiert ist.
Der Text, der von Eddy in Ich-Perspektive erzählt wird, beschreibt seine Kindheit und Jugend, seine vergeblichen Versuche, sich den Rollen- und Verhaltensvorstellungen seiner Umgebung anzupassen, schließlich seine Kapitulation und den erlösenden Umzug nach Amiens, wo er ein Stipendium des dortigen Lycée erhält.
Eddy Bellegueule ist kein Revolutionär, er leistet im ganzen Buch keinen spürbaren Widerstand. Sein ganzes Streben ist darauf gerichtet ein „harter Kerl“ zu werden, sich für Fußball, Alkohol, Rapmusik und Mädchen und nicht für Bücher und Bildung zu interessieren. Obwohl er sich redlich Mühe gibt, ist all dieses Streben vergeblich und er beginnt, sämtliche Verhaltensweisen seiner Umgebung zu hassen. Er hasst die Gewalttätigkeit und die Antriebslosigkeit seines Umfelds, die Art und Weise, wie sie jeder und jedem jeden noch so bescheidenen Traum auf Verbesserung der eigenen Lebensumstände austreiben. Für ihn als geborenen Außenseiter ist die Distanz zu seiner Umgebung so groß, dass seine Isolation praktisch zwangsläufig dazu führt, dass er seine Heimat am Ende verlässt. Es wird aber deutlich, dass jede geringere Form des Andersseins (z.B. bei Eddys Schwester oder seiner Mutter) ebenso zwangsläufig nur zu einem Sich Abfinden mit den Verhältnissen führen kann.
„En finir avec Eddy Bellegueule“ (dt. etwa „Eddy Bellegueule ein für alle mal hinter sich lassen“, wobei Bellegueule ein sprechender Name ist und „en finir“ durchaus auch eine gewalttätigere Konnotation haben kann) war einer der Überraschungserfolge des französischen Bücherfrühjahrs. Lange auf den Bestsellerlisten hat sich das Buch inzwischen mehr als 200.000 mal verkauft und eine erhitzte Debatte in Frankreich entfacht. Der Text, der – man ahnt es – autobiographisch inspiriert ist, ist in mehrere Sprachen, allerdings bisher nicht ins Deutsche übersetzt. Ich vermute jedoch, dass ihm sein Erfolg bereits ein deutsches Zuhause beschert hat, das an einer Veröffentlichung arbeitet. Allerdings wundert es mich nicht, dass sich die deutschen Verlage nicht sofort auf ihn gestürzt haben. Das hat aus meiner Sicht zwei Gründe: Der Text ist in mehrfacher Hinsicht sehr französisch und er wirkt ein bisschen aus der Zeit gefallen.
Französisch ist er zum einen, weil Edouard Louis (der tatsächlich als Eddy Bellegueule geboren wurde) sich mit seinen 21 Jahren bereits intensiv mit der soziologischen Theorie Pierre Bourdieus auseinandergesetzt hat, die in Frankreich viel präsenter ist als hierzulande. Bourdieu hat unter anderem den Begriff des Habitus eingeführt, der ein unbewusst durch die eigene Herkunft geprägtes Verhalten bezeichnet. Kinder aus einer bestimmten sozialen Schicht lernen vereinfacht gesagt einen bestimmten Code, den sie ganz natürlich und unbewusst anwenden, sie verstehen es, sich in bestimmten sozialen Situationen instinktiv angemessen zu verhalten. Edouard Louis hat nun in mehreren Interviews darauf hingewiesen, dass er seinen Text bewusst als Roman konzipiert hat und ihn nicht als Abrechnungsbuch oder Schlüsselroman verstanden wissen will. So sind im Verlauf der Rezeption auch einige Zweifel am Wahrheitsgehalt einzelner Episoden aufgetaucht – für einen Roman eigentlich selbstverständlich. Louis betont dabei stets, dass er ein Porträt einer Schicht zeichnen wollte, die er auch im Französischen „Lumpenproletariat“ nennt, also der Schicht, für die schon Arbeiter eigentlich verkappte Kleinbürger sind, die als abgehoben und übermäßig intellektuell abgelehnt werden. Der Text beschreibt nun aus der Perspektive eines Ausgestoßenen den Habitus eben dieses Lumpenproletariats. Aus meiner Sicht geschieht das zwar nicht eigentlich herablassend, aber eben auch nicht neutral, die tiefe Abneigung gegenüber dieser ganzen Welt, ist im Text die ganze Zeit deutlich spürbar – durch seinen Zuschnitt aus der Sicht eines diskriminierten Außenseiters weiß ich auch nicht, wie das anders hätte sein können.
Der Text ist außerdem sehr französisch, weil er in einer Zeit des gesellschaftlichen Aufruhrs in Frankreich erscheint. Dem Land geht es schlecht und Zulauf erhalten in solchen Zeiten fast zwangsläufig rechte Parteien wie der FN. In der Picardie hat Marine Le Pen bei den letzten Präsidentschaftswahlen 30% der Stimmen erhalten. Außerdem gab es seit dem letzten Jahr die großen Demonstrationen gegen die in Frankreich eingeführte Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare. In solch eine Diskussion ist nun dieser Text mit seinem sezierenden Blick gefahren, der eine dumpfe und zum Teil ausdrückliche Homophobie beschreibt, oft aber auch die inneren Widersprüche, die Vorurteilsstrukturen meist begleiten (auch dazu hat Bourdieu übrigens geforscht). So wird Eddy Bellegueule im Buch oft von seinem Vater gegen die Gewalttätigkeit anderer in Schutz genommen, obwohl der Vater selbst aus seiner Abneigung gegenüber Homosexuellen (und anderen Minderheiten) keinen Hehl macht, und Eddy von ihm verprügelt wird, nachdem die Mutter diesen mit einem anderen Jungen erwischt hat. Auch in der Diskussion über das Buch fallen übrigens solche Widersprüche auf. So war etwa in einer Reportage über die Hintergründe des Romans im renommierten Nouvel Observateur zu lesen, dass sich der Bruder Edouards durch die tumb gewalttätige Darstellung seines alter ego im Text schwer beleidigt fühlte – und daher mit einem Baseballschläger bewaffnet nach Paris aufbrach, um dem inzwischen dort lebenden Edouard eine Abreibung zu verpassen.
Aus der Zeit gefallen wirkt das Buch ein bisschen, da man kaum glauben kann, dass eine solche minderheitenfeindliche Gesellschaft in den 90er und 00er Jahren in Frankreich noch existiert haben soll. Andererseits erleben wir in Deutschland ja gerade ebenfalls eine Renaissance dieser Denkmuster – und das trotz aller Behauptungen nicht erst seit dem Erstarken der AfD, sondern seit sicherlich 15 Jahren. Der Zulauf zur AfD, die Zunahme der Hassreden im Internet gegen alles, was absurderweise als „linker Zeitgeist“ bezeichnet wird, die Petition gegen den baden-württembergischen Bildungsplan und dergleichen mehr, sind nur die neuesten Symptome eines seit den vergleichsweise liberalen 90er Jahren aufgebauten unbehaglichen Drucks bei einem bestimmten Teil der Gesellschaft. Insofern ist „Eddy Bellegueule“ vielleicht doch nicht aus der Zeit gefallen, sondern mit seinem nur scheinbar anachronistischen Charakter am Ende das richtige Buch zur richtigen Zeit.
In Frankreich ist das Buch von der Kritik zumeist gelobt worden. Ich selbst habe es mit wachsender Faszination gelesen, konnte aber nicht umhin, mich zu fragen, ob einen so vergleichsweise meinungsstarken Text wirklich nur ein 21jähriger schreiben konnte. An vielen Stellen erschien mir die Darstellung der Verhältnisse klischeehaft überspitzt und nachgerade unwirklich. Interessanterweise hat Louis in einem Interview zu Protokoll gegeben, dass mehrere Verlagshäuser den Text mit genau dieser Begründung abgelehnt haben, bevor Seuil ihn annahm. Seine interessante Anmerkung dazu war, dass seine fiktionalen Schilderungen eine Realität beschreiben, die vielen Bewohnern der Metropolregionen als abgeschmackt erscheinen mag, was das aber nur daran liege, dass seit Jahrzehnten eine Schicht existiert, die außerhalb ihrer selbst keine Stimme hat.
Vielleicht wirkt das Buch deshalb beim ersten Lesen so seltsam anachronistisch, weil es die Äußerungen von Menschen wiedergibt, deren Existenz die intellektuellen Großstadtbewohner und weite Teile des Bürgertums einfach vergessen haben.
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