Der Grund - Anne von Canal

  • Die Autorin (Amazon)
    Anne von Canal, geboren 1973, war nach dem Studium der Skandinavistik und Germanistik zehn Jahre lang im Verlagswesen tätig, bevor sie sich selbst dem Schreiben widmete. Heute lebt sie auf einem Weingut an der Mosel und zeitweise in Hamburg. »Der Grund« ist ihr literarisches Debüt.


    Kurzbeschreibung (Amazon)
    Wie oft kann ein Mensch von vorn beginnen?


    Ein reicher Stockholmer Vorort in den Sechzigerjahren: Laurits liebt das Spielen mit seinem besten Freund, das Schwimmen und Tauchen am Sommerhäuschen und vor allem die Klavierstunden bei Fräulein Andersson. Überall fühlt er sich wohler als in Gegenwart seiner überspannten Mutter und des dominanten Vaters, der für seinen Sohn eine Zukunft als Mediziner vorsieht. Doch als Laurits 18 wird, ist eine Karriere als Konzertpianist zum Greifen nah, und er spielt um sein Leben.
    Dann kommt alles anders als gedacht; Laurits findet seine Bestimmung als Arzt - und mit seiner großen Liebe Silja und der gemeinsamen Tochter Liis das Glück. Bis er Jahre später bei einem Familienfest erfahren muss, dass sein Leben auf Sand gebaut ist. Er trifft eine folgenschwere Entscheidung...


    »Der Grund« erzählt die Geschichte eines Mannes, der immer wieder gezwungen ist, sich neu zu erfinden - und entwickelt dabei einen atmosphärischen Sog, dem sich der Leser nicht entziehen kann. Mit allen Sinnen erlebt man zusammen mit Laurits Licht und Schatten im großbürgerlichen Elternhaus zwischen Pflichterfüllung und Freiheitsdrang und begleitet ihn auf seiner Suche nach Aussöhnung, die ihn um die ganze Welt führt.


    Meinung
    Wen dieses Buch nicht berührt, den berührt nichts. „Der Grund“ ist ein anrührendes literarisches Debüt.


    Eine nahezu perfekte Sprache, überzeugend skizzierte Charaktere und interessante Erzählperspektiven formen einen Stoff, aus dem anspruchsvolle Bestseller gestrickt sind. Und zum Schluss stellen wir uns die Frage, was wir ohne dem Dominanzstreben unserer Väter wären, die willentlich unser Schicksal zementiert haben.


    Das Verdrängen und das Ausweichen sind dem Menschsein immanent. Züge des Protagonisten tragen wir alle. Allerdings ist dieser wahrlich ein Fluchtmensch. Eigentlich hätte er vermuten müssen, dass sein Vater ein übles Spiel mit ihm gespielt hat. Der Leser spürt es schon nach ein paar Seiten. Warum kommt er nicht selbst drauf? Schließlich hat ihm schon sein bester Freund Pelle bewiesen, dass sein Vater ein Lügner ist. Nicht jeder hätte so reagiert wie der Protagonist. Vielleicht hätten die meisten Söhne ihrem Vater erst einmal die Fresse poliert, anstatt in ein fremdes Land zu fliehen. Und damit wiederholt der Sohn den Fehler seines Vaters an seiner Tochter. Er zwingt sie, ihre Freunde zu verlassen und in ein sehr fremdes und heruntergekommenes Land zu ziehen. Auch dieser Zwang bleibt nicht ohne Folgen. Alles hat einen Grund.


    Das Buch zählt zu den besten Werken, die ich dieses Jahr gelesen habe. Allerdings haben mich fast alle Beschreibungen, Kommentare, Kritiken, Besprechungen, Rezensionen (einschl. des Klappentextes), die ich bisher darüber gelesen habe, überhaupt nicht überzeugt.

  • Beeindruckende Buchvorstellung. Herzlichen Dank dafür.


    Ein solcher Satz aber.....


    Zitat

    Wen dieses Buch nicht berührt, den berührt nichts.


    betätigt bei mir automatisch die Widerspruchstaste.



    In jedem Falle aber werde ich das Buch wohl bald auch lesen. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Der Grund - ein Debüt, das sich jetzt schon einen Platz auf der Liste meiner Lesehighlights gesichert hat und dem ich viele Leser wünsche.


    Untergang der Estonia am 29. September 1994:


    „In der Schwärze der Nacht, in tosendem Sturm, reckte das weiß-blaue Schiff um 01.48 Uhr ein letztes Mal den Bug in die Luft und versank nach weniger als einer Stunde mit einem lauten Seufzer. Mit ihm verschwanden die Wünsche und Träume, die Sehnsüchte, Sorgen, Ängste und Pläne all jener, die an Bord geblieben waren.“ (Seite 11)


    Ein Pianist, der in Venedig auf ein Kreuzfahrtschiff geht. Der lieber auf der Flucht ist und sich doch nichts sehnlicher wünscht als einen Hafen, in dem er zur Ruhe kommen kann. Er kann nicht schlafen, betäubt sich mit Whisky, sucht Trost bei fremden Frauen und führt Tagebuch, um sich selbst nicht vollends zu verlieren. Er ist präziser Beobachter am Klavier, sieht und versteht mehr als viel – aber verharrt in ständiger Distanz.


    Laurits, ein klassischer Oberklassefuzzi, sitzt vor dem Prüfungskomitee eines Konservatoriums, spielt um die dortige Aufnahme – und um sein Leben, denn für ihn gibt es nur diese eine Chance: schafft er die Aufnahme nicht, muss er Medizin studieren. Nur unter dieser Bedingung stimmte sein Vater überhaupt einer Teilnahme zu.


    Und während er spielt, lässt er in rückblickenden Sequenzen sein ganzes bisheriges Leben an sich vorbeiziehen:


    Geboren und aufgewachsen als Sohn eines angesehenen, einflussreichen Augenarztes, der zu Hause den Patriarchen gibt, und einer ständig angespannten, musikalischen Mutter, die ihren Fokus im Laufe der Jahre eher weg vom Klavier und hin zum Klang gefüllter Gläser richtete. Sie war es, die ihn einführte in die geheimnisvolle Welt der Musik: sie zeigte ihm, „dass er mit den Ohren sehen, riechen und schmecken konnte“. Gegen den Willen des Vaters, für den es eigentlich nur um sinnloses Geklimper ging, setzte sie durch, dass Laurits von einer strengen, aber gerechten Klavierlehrerin unterrichtet wurde. Obwohl er die Zeit vor der ersten Unterrichtsstunde als furchtbar, fast schon traumatisch empfindet, werden die regelmäßigen Stunden bei ihr zu einem wichtigen Fixpunkt in seinem Leben.


    Während seine Finger sich sicher über die Tasten arbeiten, erinnert er sich an seinen Jugendfreund Pelle, mit dem er seine gesamte freie Zeit verbrachte und der, obwohl nicht standesgemäß, in seinem Elternhaus ein- und ausging und der selbst von seinem nahezu „göttlichen“ Vater eine besondere Art des Respekts genoss, obwohl oder gerade weil er absolut unbekümmert und selbstbewusst allen anderen Menschen entgegentrat. Der unbestechliche Pelle durschaute selbst als Kind bereits die Strukturen und Verflechtungen, in denen Laurits gefangen war und deckt sogar eine Lüge seines Vaters auf – und lachte ihn aus wegen seiner Angst.


    Und nun sitzt er hier, spielt um seine Zukunft, für sein Ziel, seine Freiheit. Das erste Mal geht es nur um ihn, er spielt gut, und er weiß, dass er gut spielt.


    Jahre später: Laurits feiert mit seiner Frau Silja, seiner Tochter Lijs, Familie und Freunden seinen zehnten, glücklichen Hochzeitstag. Es ist ein großes, harmonisches Fest – bis ihm sein Lieblingsonkel, einem Impuls nachgebend, eine Eröffnung macht, die Laurits ganzes bisheriges Leben mit einem Schlag zusammenfallen lässt und ihm buchstäblich den Boden unter den Füßen wegzieht. Er zweifelt und verzweifelt an allem: an sich, seinem Leben, an der Liebe und dem Vertrauen, empfindet verbittert nur noch Verrat. Laurits sieht keine Möglichkeit mehr, sein altes Leben weiterzuführen und fühlt sich gezwungen, sich völlig neu zu erfinden und beginnt noch einmal von vorn…


    “Die Erinnerung ist tückisch, sie kommt und geht, wie es ihr passt. Ich habe gelernt, sie zu ignorieren. Sie lähmt nur. Faktisch ist sie absolut irrelevant.” (Seite 87)


    Wie das alles zusammenpasst? Es passt, und wie. Aber vorher führt Anne von Canal uns durch die Höhen und Tiefen eines möglichen Lebens. Wir müssen uns die Frage stellen, wie viel ein Mensch in einem Leben zu verkraften vermag. Wir erleben Situationen, die absolute Grenzpunkte in einem Leben darstellen; Grenzpunkte, in denen die alten Kategorien, mit denen wir unser Leben bisher zu ordnen versuchten, nicht mehr greifen. Es gibt kein gut oder schlecht mehr, kein richtig oder falsch; es geht nur noch darum, wie man weitermachen kann, wenn alles das, woran man glaubte, nicht mehr vorhanden ist. Wenn man selbst nicht mehr der ist, für den man sich hielt.


    „Aber in Wahrheit pflügt das Schiff durch die Zeit, der Bug ist schon Zukunft, das Heck längst Vergangenheit. Es gibt nur eine Richtung und kein Zurück. Voraus ist immer noch Hoffnung. Achtern nie. Wer sich umdreht, erstarrt zur Salzsäule. Vor Schreck. Vor Schmerz. Das war schon zu Lots Zeiten so. Warum sollte man also zurückschauen?“ (Seite 19)


    Es geht um die Verantwortung sich selbst und den anderen gegenüber, um das, was wir anderen zumuten, um uns selbst zu retten. Wir sehen Menschen, die sich aufrichtig lieben – und genau diese Liebe, die als die größte Kraft empfunden wird, noch nicht reicht, um einen eingeschlagenen Weg zusammen weiter gehen zu können. Wir erkennen, dass wir unter bestimmten Voraussetzungen bereit sind, die Fehler unserer Eltern zu wiederholen, obwohl sie uns tiefe Wunden zugefügt haben – und wir es eigentlich besser wissen müssten.


    All das verknüpft Anne von Canal in ihrem Debüt sehr gelungen miteinander; in verschiedenen Zeiten, auf verschiedenen Ebenen und in einer wunderbar klaren Sprache, die durch ihren Verzicht auf allzu ausführliche Beschreibungen die durchgängige Melancholie, Traurigkeit und Tragik umso deutlicher hervortreten lässt – ohne dabei melodramatisch zu werden.


    Aus diesen Gründen hat mich das literarische Debüt Anne von Canals in mehr als einer Hinsicht sehr beeindruckt.

    :lesend Die Sonnenposition - Marion Poschmann


    "Unsere Wünsche sind Vorgefühle der Fähigkeiten, die in uns liegen; Vorboten dessen, was wir zu leisten imstande sein werden." (Goethe)

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  • Laurits Simonsen arbeitet als Pianist auf einem Kreuzfahrtschiff. Rosa, die Frau die ihn liebt und mit der Laurits kein Kind haben möchte, bemerkt, er hätte die ganze Welt bereist, aber nichts von ihr gesehen. Simon hält sich zwar zwischen seinen Engagements bei Rosa in Venedig auf, am liebsten scheint er sich jedoch in seine Personalkabine auf dem Schiff zurückzuziehen. Ozeanpianist war vermutlich nicht Laurits großer Lebenstraum – und so lässt der Beginn der Geschichte ahnen, dass ihr Hauptthema das Scheitern sein wird.


    Zwischen Laurits Tagebuchaufzeichnungen eingeschoben, vervollständigt ein neutraler Erzähler das Bild des Pianisten. Laurits wuchs als Sohn eines dominierenden Vaters und einer meist gehorsam schweigenden Mutter auf. Der alte Simonsen, Professor für Augenheilkunde, will seinen Sohn in erster Linie zu einem Mann und zu einem Mediziner der alten Schule erziehen, der einmal in die Fußstapfen des Vaters treten wird. Klavierspielen, Laurits einzige und große Begabung, hält der Vater für brotlose Kunst. Laurits wird stets mit eisiger Ablehnung behandelt, wenn er sich den Plänen des Vaters nicht fügt. Obwohl sein Sandkastenfreund Pelle ihm schon sehr frühzeitig beweist, dass Vater Simonsen nicht zu trauen ist, wagt Laurits keinen eigenen Standpunkt zu vertreten. Sein Leben besteht aus Schweigen und Verdrängen, auch noch als er Silja kennenlernt und gemeinsam mit ihr Schweden verlässt. Siljas Eltern waren aus Estland nach Schweden geflüchtet und erfüllen sich nun ihren Traum von der Rückkehr nach Tallinn. Laurits ist inzwischen selbst Vater einer Tochter. Der nie bearbeitete Konflikt mit seinem Vater verhindert Laurits Erwachsenwerden und das Annehmen seiner eigenen Vaterrolle.


    In Anne von Canals Debutroman geht es u. a. um das Scheitern und Verdrängen in zwei aufeinander folgenden Generationen. Mit scharfem Blick für die Gefühle ihrer Figuren lässt die Autorin aus verschiedenen Perspektiven erst allmählich ein Gesamtbild der Ereignisse entstehen. Vorgänge, von denen Laurits lange nichts weiß oder nichts wissen will, verknüpft sie Schritt für Schritt mit der Gegenwart. Auch wenn die Ebenen des Scheiterns in Laurits Leben schonungslos seziert werden, hatte ich nie den Eindruck, dass Anne von Canal ihre Hauptfigur bloßstellt.


    10 von 10 Punkten