Fiona McFarlane: Nachts, wenn der Tiger kommt

  • Fiona McFarlane: Nachts, wenn der Tiger kommt
    Deutsche Verlags-Anstalt 2014. 336 Seiten
    ISBN-13: 978-3421046079. 19,99€
    Originaltitel: The Night Guest
    Übersetzerin: Brigitte Walitzek


    Verlagstext
    Wenn verborgene Ängste Wirklichkeit werden
    Die betagte Ruth wohnt in einem entlegenen Haus am Meer. Seit dem Tod ihres Mannes ziehen ihre Tage gleichförmig dahin, allein vom Rhythmus der Wellen und dem Klang des Windes geprägt. Eines Tages steht eine vom Staat geschickte Pflegekraft vor der Tür. Die tüchtige Frida übernimmt schnell das Regime, sie kümmert sich um Geldangelegenheiten und die Medikamente, sodass die alte Dame das Haus gar nicht mehr verlassen muss. Langsam entgleitet Ruth das Gefühl für die Realität: Gegenstände verschwinden, ein leerstehendes Zimmer scheint bewohnt, nachts schleicht ein blutrünstiger Tiger durchs Haus … und ist Frida wirklich die, für die sie sich ausgibt?


    Die Autorin
    Fiona McFarlane wurde in Sydney geboren, studierte an der dortigen Universität und promovierte an der University of Cambridge. Sie hat bisher Kurzgeschichten in namhaften Zeitschriften veröffentlicht, war Stipendiatin im Fine Arts Work Center in Provincetown, Massachusetts, im St. John’s College in Cambridge, England, und ist gegenwärtig am Michener Center for Writers der University of Texas in Austin. "Nachts, wenn der Tiger kommt" ist ihr erster Roman; er erscheint in mehr als einem Dutzend Sprachen.


    Inhalt
    Ruth Field ist überzeugt davon, dass in ihrem Haus nachts ein Tiger unterwegs ist, sie kann ihn hören und riechen. Ruths kleines Strandhaus in New South Wales wirkt in letzter Zeit fremd auf seine Bewohnerin, vertraute Gegenstände scheinen in der Nacht zum Leben zu erwachen. Erst vor kurzem waren Ruth und ihr Mann aus der Stadt ans Meer gezogen, nun ist die alte Dame verwitwet, ihre Söhne leben im Ausland. Mit magischen Verknüpfungen gibt Ruth ihrem Alltag Struktur. Immer wenn drei Spaziergänger am Strand entlang wandern oder die Wellen nach einem bestimmten Muster auf den Strand treffen, muss Ruth eine bestimmte Arbeit im Haus erledigen. Ruths zunehmende Zweifel an ihrer eigenen Wahrnehmung sind ihr ihren Söhnen gegenüber peinlich. Schließlich gibt es in Australien keine frei lebenden Tiger. Das Auftauchen des Tigers in der Nacht könnte Schlimmes symbolisieren, das auf Ruth zukommt. Ruths Söhne könnten beschließen, dass ihre Mutter wegen ihrer beginnenden Altersvergesslichkeit besser nicht mehr allein leben sollte. Für eine betagte alte Dame wie Ruth, deren geistige und körperliche Kräfte allmählich schwinden, scheint Frida ein Geschenk des Himmels zu sein. Die große, einschüchternde Erscheinung steht eines Tages vor Ruths Tür, stellt sich als vom Staat geschickte Betreuerin vor und putzt und kocht fortan hingebungsvoll für Ruth. Fridas Hautton erinnert Ruth an ihre Kindheit auf den Fidschi-Inseln, wo ihre Eltern in einer Missions-Krankenstation arbeiteten. Fidschi war auch der Schauplatz von Ruths unglücklicher Teenager-Liebe zu Richard, zu dem sie nun wieder Kontakt sucht. Frida mit ihrer alle paar Tage wechselnden Haarfarbe kümmert sich derweil um alles, selbst um Paulas Bankgeschäfte. Frida reagiert jedoch verschnupft, sollte Ruth ihren Vorschlägen nicht sofort folgen wollen. Ruth Field ist sich ihrer Hilfsbedürftigkeit bewusst, aber sie möchte gern im Einklang mit ihren Mitmenschen leben und sich nicht ständig mit Frida herumstreiten müssen. Wer vergesslich ist, wird leicht manipulierbar durch andere, die demjenigen einreden wollen, ein Thema wäre längst besprochen und man hätte es wohl nur vergessen. Je mehr Aufgaben Frida übernimmt, umso stärker schwinden Ruths Kontakte außerhalb ihres Hauses und ihr Urteilsvermögen. Frida überwuchert Ruths Haushalt wie eine schnell wachsende Lianenart. In das abgelegene Strandhaus kommen selten Besucher, niemand, der sich mit gesundem Menschenverstand fragen könnte, wer in Ruths Haushalt zu sagen hat und von wem Frida wohl für ihre Tätigkeit bezahlt wird.


    Fazit
    Fiona McFarlane vermittelt vor der Kulisse bewölkter Tage am Meer mit beachtlicher Einfühlung die Einsamkeit ihrer Hauptfigur im Alter. Sie nimmt ihre Leser mit in die verschwimmenden Übergänge zwischen Illusion und Wirklichkeit und balanciert mit Frida auf der dünnen Grenze zwischen Hilfe und Manipulation. Eine feine Dosis Ironie verbirgt sich hinter einem wohlwollenden Erzählton und streut schon früh Zweifel, ob sich im Strandhaus die Dinge für Ruth noch positiv entwickeln können.


    Ein großartiger Debüt-Roman mit einer beunruhigenden Botschaft. Nachdem ich das Buch zugeschlagen habe, bin ich mir nicht mehr sicher, dass es bei uns keine frei lebenden Tiger gibt ...


    10 von 10 Punkten