J. M. Coetzee: Die Kindheit Jesu
S. Fischer 2013. 352 Seiten
ISBN-13: 978-3100108258. 21,99€
Originaltitel: The Childhood of Jesus
Übersetzerin: Reinhild Böhnke
Verlagstext
J. M. Coetzees großer Roman ›Die Kindheit Jesu‹ ist ein Meteor voller Intensität, Überraschung und Schönheit. Emigration, Einsamkeit, das Rätsel einer Ankunft: In einem fremden Land finden sich ein Mann und ein Junge wieder, wo sie ohne Erinnerung ihr Leben neu erfinden müssen. Sie müssen nicht nur eine neue Sprache lernen, sondern auch dem Jungen eine Mutter suchen. - In einem dunklen Glas spiegelt J. M. Coetzee unsere Welt, so dass sich alles Nebensächliche unseres Umgangs verliert und die elementarsten Gesten sichtbar werden.
Der Autor
J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren ist und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für ›Leben und Zeit des Michael K.‹ und 1999 für ›Schande‹. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.
Inhalt
Als Flüchtling erreicht Simón nach einer Schiffsreise ein fiktives, spanischsprachiges Land. In seinen neuen Wohnort Novilla bringt er aus dem Flüchtlingslager den elternlosen Jungen David mit, für den er sich nun verantwortlich fühlt. David trägt Stiefel, einen Wollmantel und Wollsocken und erzeugt damit bei mir Bilder Jahrzehnte zurückliegender Menschentransporte in Europa. Die Verwaltung von Novilla ist auf die eintreffenden Flüchtlinge vorbereitet, überlässt jedoch die Neuankömmlinge auf der Suche nach Unterkunft und Nahrung weitgehend sich selbst. Die Aufnahme der neuen Bewohner wirkt wie ein Schildbürgerstreich, wenn z. B. ein Zimmer zugeteilt wird, zu dem angeblich der Schlüssel verschwunden ist. Die Bewohner von Novilla lassen die Dinge auf sich zukommen und ergreifen selbst kaum Initiative. Alle Zuwanderer leben mit einer neuen Identität und ohne Vergangenheit. Alteingesessene vermitteln sogar den Eindruck, sie hätten körperliche Empfindungen wie Hunger längst hinter sich gelassen. Für überflüssige Dinge und nutzlose Sehnsüchte werden keine Wörter gebraucht, woraus für Simón trotz seiner guten Sprachkenntnisse Verständigungsprobleme entstehen. Trotz der sinnlos-schikanösen Verwaltungsroutine findet Simón Arbeit als Schauermann im Hafen, bekommt eine Wohnung zugewiesen und beschafft für David und sich 'Brot und Wasser'. Simón verfolgt die fixe Idee, für David eine Mutter suchen zu müssen; denn jedes Kind braucht seiner Meinung nach eine Mutter. Eine alternative Betreuungsmöglichkeit für den noch nicht schulpflichtigen David kommt Simón nicht in den Sinn. Inés, eine Zufallsbegegnung, wird von Simón zu Davids Mutter erklärt; sich selbst sieht Simón erst an zweiter Stelle in Davids Leben in einer Rolle als Pate. Simón hat bisher alles aufgegeben, seine Heimat, seine Muttersprache; David loszulassen fällt ihm erheblich schwerer. In die Empfindungen eines elternlosen Fünfjährigen auf der Flucht kann Simón sich nicht versetzen und laviert die Pate-Kind-Beziehung in Richtung Scheitern. David entwickelt sich unter Inés' Einfluss anders als Simón sich das für einen Jungen vorgestellt hat. Auf Davids für sein Alter nicht ungewöhnliche üppige Phantasie und seine kindlichen Allmachtsvorstellungen reagiert Simón autoritär und unflexibel. Er will den Jungen in kürzester Zeit möglichst viel lehren, ohne Rücksicht darauf, ob David für den Wertekanon aus Erwachsenenperspektive überhaupt bereit ist. Kurz nach Davids Einschulung kommt es zu Problemen in der Schule, weil er sich nicht in die Klasse einfügen will. Davids ungewöhnliche Pflegeeltern erleben zu ihrem Erstaunen, dass der in vielen Bereichen lässig wirkende Staat eine sehr effektive Schulbürokratie unterhält.
Fazit
Anders als von Coetzee evtl. beabsichtigt habe ich das Buch nicht als religiöse Parabel gelesen, sondern als utopische Fortschreibung der aktuellen politischen Lage mit ihren Flüchtlingsströmen. J. M. Coetzee hat ein fiktives Land mit sozialistischen Ansätzen erdacht, das jedem seiner Bürger einen bescheidenen Lebensstandard gewährt und kaum Leistungsanforderungen stellt. Simón ist im Hafen offenbar der erste Arbeiter, der über Sinn und Produktivität der Abläufe nachdenkt. In Coetzees schöner neuer Einheitswelt sprechen die Figuren zwar von Emotionen, ihre Gefühle sind für mich jedoch selten nachzuempfinden. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine Figur, die ihre Vergangenheit und ihre Muttersprache zurückgelassen hat und die zentrale Beziehung zu einem Flüchtlingskind einem starren Idealbild opfert. Simóns beharrliche Suche nach einer Mutter für David wirkt allein durch behauptete - nicht durch gezeigte - Emotionen, seine Idealisierung der Mutterfigur befremdet mich. Coetzees nur knapp skizziertes Szenario muss vom Leser in dessen Phantasie erst zu einem Bild vervollständigt werden. Wer noch unvollständig wirkende "Landkarten" wie diese gern selbst weiterdenkt, findet in "Die Kindheit Jesu" ausreichend Gelegenheit dazu.
Knappe 7 von 10 Punkten