John Irving - In einer Person

  • Titel im Original: In One Person


    Kurzbeschreibung:


    Auf der Laienbühne seines Großvaters in Vermont lernt William, dass gewisse Rollen sehr gefährlich sind. Und dass Menschen, die er liebt, manchmal ganz andere Rollen spielen, als er glaubt: so wie die geheimnisvolle Bibliothekarin Miss Frost. Denn wer sich nicht in Gefahr begibt, wird niemals erfahren, wer er ist.


    Meine Meinung:


    Der Ich-Erzähler Billy erinnert sich hochbetagt an sein Leben als Bisexueller, vom Entdecken seiner sexuellen Ausrichtung in den prüden 60er Jahren über die sexuelle Freizügigkeit in den 70ern bis hin zur AIDS-Epidemie in den 80ern und den Jahren bis heute. Irving schildert die homoerotischen Erlebnisse seines Helden ausführlich, zu ausführlich für meinen Geschmack, auch wenn die Intention dahinter klar ist. Der gesamte Text ist ein einziger Aufruf zu Toleranz; dazu, homosexuelle und bisexuelle Zeitgenossen nicht als anormal oder gar als abartig zu betrachten, sondern sie so zu akzeptieren, wie sie sind.


    So löblich und sicher auch heute noch wichtig diese Botschaft auch ist, so hätte sie Irving nicht auf über 700 Seiten breittreten müssen. Zwar gibt es wieder (wie in eigentlich all seinen Romanen) einige wirklich bemerkenswerte Figuren, zwar schwingt oft Humor mit und ist der Schreibstil obligatorisch fabelhaft, doch kommt doch an einigen Stellen Ermüdung und auch fast so etwas wie Langeweile auf. Die richtig beeindruckenden und anrührenden Szenen (etwa der Besuch beim todkranken Jugendfreund Tom oder überhaupt die Verheerungen der AIDS-Epidemie) gehen etwas unter in der Masse an Text.


    Schön eingebunden sind die Shakespeare-Stücke, die zunächst vom Laientheater und in der Folge vom Schultheater aufgeführt werden. Ich bin zwar kein Shakespeare-Kenner, doch diese Passagen waren doch durchgehend interessant und stilistisch klug eingesetzt.


    Was bleibt noch zu sagen? „In einer Person“ ist kein neuer großer Wurf Irvings, es ist aber auch kein schlechter Roman – sondern ein wichtiger gerade in Anbetracht der schicksalshaften Wahl, vor der Amerika steht. Ich habe dieses Buch übrigens an einem Wochenende ausgelesen, also dürfte es doch auf eine diffuse Art fesselnd sein.


    7 Punkte von mir

  • Danke für die Rezension :wave
    Aber ich warte lieber noch eine zweite Meinung ab, ehe ich entscheide, ob ich mir das HC gönne oder lieber aufs TB warte.
    Das Schlimme an John Irving ist, dass er etliche wirklich sehr tolle Bücher geschrieben hat, und dann bleibt eine gewisse Enttäuschung nie aus, wenn es eben kein zweiter Owen Meany ist.
    Ich glaube manche Bücher von ihm, z.B. Letzte Nacht in Twisted River, wären bei mir besser weggekommen, wenn ich vorher von ihm noch nichts gekannt hätte.

  • Frettchen, es ist für mich genauso. An Owen Meany kam für mich bisher kein anderes Irving Buch ran.


    Ich hatte Anfangsschwierigkeiten und brauchte gerade für das erste Drittel ziemlich viel Zeit. Erst dann hatte ich nicht mehr das Bedürfnis, dass Buch immer Mal wieder auf Seite zu legen. Das letzte Drittel war für mich das Beste. Dieses Buch ist sehr ambitioniert, aber doch streckenweise langatmig.


    Von mir gibt es 7 Punkte!

  • Durchschlüpfer


    Eines kann man John Irving nun wirklich nicht vorwerfen: Diskontinuität. Auch sein dreizehnter Roman - "In einer Person", im Original "In One Person", gemeint ist also das Zahlenwort - folgt strukturell wie stilistisch Irvings eigener Tradition. Bären kommen dieses Mal zwar nur als Metapher vor (als "Bären" werden von ihnen selbst solche homosexuellen Männer bezeichnet, die Bierbäuche, dicke Bärte und starke Körperbehaarung pflegen), das Ringen hat wieder zentrale Bedeutung, und wenigstens ein kurzer Abschnitt spielt in Wien. Die Haupthandlung konzentriert sich auf Vermont, das immerhin an Massachusetts und New Hampshire grenzt (jedoch auch schon in vorigen Romanen Schauplatz war). Irving verwendet einen Ich-Erzähler, der später selbst Schriftsteller wird, spielt mit Rückblenden, stetigen Wiederholungen und seinen geliebten Kursiven, der Roman erzählt fast eine komplette Lebensgeschichte. Wie immer also, und dann doch wieder nicht.


    Hauptfigur ist Billy Dean, der später William Abbott heißt. In den Fünfzigern, zu Beginn der Romanhandlung, lebt Billy mit seiner vorübergehend alleinerziehenden Mutter und einer - wie immer bei Irving - etwas merkwürdigen, skurrilen, überwiegend liebevollen - Mehr-Generationen-Familie in der Kleinstadt First Sister. Richard Abbott tritt in das Leben von Billy und seiner Mutter, die um Billys leiblichen Vater recht heimlich tut. Der junge William verliebt sich in seinen neuen Vater, den charismatischen Mann, der u.a. die Schauspielerziehung an der örtlichen Schule übernimmt, auf die auch Billy geht. Außerdem sind da noch Kittredge, der nicht weniger charismatische, ruppige, aber gut aussehende Mitschüler, natürlich ein Ringer, und Miss Frost, die Leiterin der Stadtbibliothek. Auch in die verliebt sich Billy. Miss Frost ist schön, doch sehr kräftig gebaut und flachbrüstig. Das gilt ebenso für Billys beste und lebenslange Freundin Elaine, deren winzige BHs Billy unter dem Kopfkissen aufbewahrt.


    Miss Frost, die selbst eine sehr geheimnisvolle Vergangenheit hat, hilft dem Jungen dabei, seine sexuelle Identität zu finden - Billy ist bisexuell. Weitere Mosaiksteine auf dem Weg zu dieser Erkenntnis findet Billy vor allem über das Theaterspiel (bevorzug Ibsen und Shakespeare), bei dem die Mutter souffliert und Grandpa Harry hauptsächlich Frauenrollen spielt. Vieles im Umfeld des Jungen ist "geschlechtlich uneindeutig", was, wie er später herausfindet, auch für den eigenen Vater galt.


    In "In einer Person" geht es vor allem um Toleranz - und zeitgeschichtlich um das, was mit Schwulen, Lesben, Transsexuellen und den anderen Menschen mit "von der Norm abweichenden sexuellen Präferenzen" während der letzten fünf, sechs Jahrzehnte geschah. Eine zentrale Rolle spielt im letzten Drittel die AIDS-Epidemie, die Anfang der Achtziger einsetzte und damals (bis ins neue Jahrtausend hinein), was beinahe schon in Vergessenheit zu geraten droht, unglaublich viele Todesopfer forderte, wobei auch das enorme Leiden, das mit dem langsamen, qualvollen AIDS-Tod verbunden war, kaum noch Thema ist. Irving ruft all das in Erinnerung, ohne jedoch seine Hauptfigur je in Gefahr zu bringen.


    Leider ist diese Hauptfigur die größte Schwäche in diesem ambitionierten Roman, der so vieles gleichzeitig sein will und nur wenig davon tatsächlich ist. William Abbott ist selbst kein Ringer, erlernt aber einen wesentlichen Ringergriff, den so genannten "Durchschlüpfer", eine Verteidigungstechnik, bei der man den Gegner möglichst nahe an sich herankommen muss, um ihn, seine Körperkraft gegen sich wendend, zu Fall zu bringen. Der Begriff steht als Metapher für den Romanhelden: William Abbott schlüpft durch die Jahrzehnte, bleibt, obwohl in homosexueller Terminologie ein "Aktiver", vorwiegend passiv und etwas konturlos, was auch für jene Momente gilt, in denen er handelt. Deshalb langweilt er leider manchmal, was auch die irvingtypischen Dreingaben kaum kaschieren. Ein anderes Problem dieses Buches besteht im oft kaum nachvollziehbaren Wechsel zu drastischen Formulierungen, wenn es um Sex und die "Szene" geht. Das liest sich hin und wieder, als hätte Irving solche Abschnitte von einem anderen schreiben lassen.


    "In einer Person" ist also wieder eine Familiensaga, eine Lebensgeschichte, und ein ziemlich politischer Roman, der eindringlich dafür wirbt, sich vom Schubladendenken abzuwenden und Menschen nicht auf wenige Eigenschaften zu reduzieren, aber das gelingt selbst dem Autor nicht ganz, der verblüffend oft und in recht ungewohnter Weise in den Vordergrund tritt, wenn er sich etwa - durchaus nachvollziehbar - gegen den Versuch echauffiert, ausgerechnet Schriftstellern vorzuschreiben, welcher Wortwahl sie sich bitteschön bedienen sollten. Überhaupt sind die Abschnitte, die sich mit der so genannten "political correctness" befassen, für Irving-Verhältnisse überraschend aggressiv, was tatsächlich, um nicht falsch verstanden zu werden, etwas Wohltuendes hat.


    Das Buch hat, wie auch im Klappentext erwähnt wird, viele Helden - und dann doch wieder keinen. Seine liebevolle, selbstreferentielle Traditionspflege und das sorgfältig umgesetzte Thema retten es, auch über die nicht wenigen Durststrecken hinweg.

  • Titel: In einer Person
    OT: In One Person
    Autor: John Irving
    Übersetzt aus dem Amerikanischen von: Hans M. Herzog und Astrid Arz
    Verlag: Diogenes
    Erschienen: 2012
    Seitenzahl: 725
    ISBN-10: 3257242700
    ISBN-13: 978-3257242706
    Preis broschiert: 15.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    Auf der Laienbühne seines Großvaters in Vermont lernt William, dass gewisse Rollen sehr gefährlich sind. Und dass Menschen, die er liebt, manchmal ganz andere Rollen spielen, als er glaubt: so wie die geheimnisvolle Bibliothekarin Miss Frost. Denn wer sich nicht in Gefahr begibt, wird niemals erfahren, wer er ist.


    Der Autor:
    John Irving wurde 1942 in Exeter in New Hampshire geboren. Als Berufsziele gab er schon sehr früh an: Ringen und Romane schreiben. Irving lebt und schreibt heute abwechselnd in New England und Kanada.


    Meine Meinung:
    John Irving kann es einfach. Wieder ein wunderbarer Roman dieses großen amerikanischen Erzählers. Ein Roman der seine Leser fesselt und bei der Stange hält. Ein Roman aber auch gegen die Intoleranz gegenüber Menschen, die vermeintlich anders sind. Meisterhaft lässt der Autor seine handelnden Personen agieren. Und auch in diesem Roman wird wieder die Skurrilität zur Normalität, soweit hier eben von Skurrilität gesprochen werden kann.
    John Irving wirbt um Toleranz für Menschen, deren sexuelle Orientierung gerade auch in früheren Jahren anders war – als es der damaligen verlogenen Norm entsprach.
    Schwulsein war bis in die Siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts in sehr vielen Ländern noch eine Straftat bzw. das Ausleben des Schwulseins.
    Die handelnden Personen wirken unglaublich authentisch und real.
    Wie arm wäre doch die literarische Welt ohne diesen genialen John Irving. Sie wäre wohl fast mausetot.
    Ein großartiger Roman, ein Roman der im Gedächtnis bleibt – aber auch ein Roman der die unglaubliche Vielfalt von John Irving zeigt.
    10 Eulenpunkte sind nicht zu viel – eher wohl zu wenig.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.