'Da gehen doch nur Bekloppte hin' - Seiten 001 - 053

  • Ich muss zugeben, dass ich schon sehr oft gedacht habe eine Person soll sich endlich zusammenreissen. Nach deinem Buch würde es ihr sicher sehr gut tun eine Therapie zu machen, aber sie wird es nie machen. Lieber jammert sie, dass es ihr so schlecht geht (aber das hängt nur am Wetter), dass nie jemand sich bei ihr meldet (auch wenn man gerade am Telefon ist) und wenn wir einmal nicht zu Besuch kommen wünscht sie viel Spass und erwähnt im gleichen Atemzug, wie alleine sie doch ist.


    Was wäre denn da eine psychtherapeutisch korrekte Vorgehensweise?

  • Zitat

    Original von xania
    Ich muss zugeben, dass ich schon sehr oft gedacht habe eine Person soll sich endlich zusammenreissen. Nach deinem Buch würde es ihr sicher sehr gut tun eine Therapie zu machen, aber sie wird es nie machen. Lieber jammert sie, dass es ihr so schlecht geht (aber das hängt nur am Wetter), dass nie jemand sich bei ihr meldet (auch wenn man gerade am Telefon ist) und wenn wir einmal nicht zu Besuch kommen wünscht sie viel Spass und erwähnt im gleichen Atemzug, wie alleine sie doch ist.


    Was wäre denn da eine psychtherapeutisch korrekte Vorgehensweise?


    Ich werde öfter mal gefragt, ob mein Beruf nicht sehr belastend ist. Und ich muss immer wieder sagen, dass die Arbeit mit den Leuten, die zu mir kommen, nicht das Belastende ist. Bei denen kann ich etwas verändern. Belasten tut mich eher, wenn meine Patienten (oder auch Bekannten) mir von Leuten erzählen, denen es schlecht geht, die aber keine Therapie machen würden.
    Man muss lernen zu akzeptieren, dass es Leute gibt, die sich (und das ist jetzt völlig ernst gemeint) eher umbringen würden, als eine Therapie zu machen. Oder zumindest Leute, die dauerhaft leiden, ohne es zu tun. Und man muss lernen, das zu akzeptieren, denn, wie ich im Buch geschrieben habe, es hat keinen Sinn, jemanden in Therapie zu schieben, der nicht bereit dazu ist und auch die nötige Motivation zur Veränderung nicht mitbringt.
    Auch meine Patienten erzählen mir immer wieder von solchen Bekannten und ich kann sie dann nur ermutigen, ihren Gefühlen zu folgen, und die sind in der Regel meist, sich aus diesen Kontakten zurückzuziehen. Meine Patienten kämpfen ja selbst noch um ihre Stabilität und haben wenig abzugeben an jemanden, dem es ebenfalls schlecht geht.
    Ich würde jedenfalls vorschlagen, nicht einfach nur unter so jemandem zu leiden und sich immer wieder auf die Zunge zu beißen, sondern vielleicht auch mal zu sagen: Ich höre, dass es dir immer wieder sehr schlecht geht, aber dass du offenbar auch nichts dagegen tun willst. Da kann ich auch nicht viel für dich tun.
    Bei jeder körperlichen Erkrankung täte man das ja auch. Man würde sagen: Du hast Schmerzen, aber du willst nicht zum Arzt gehen, das ist deine Entscheidung, aber dann will ich mir ehrlich gesagt nicht jedes Mal anhören, dass du Schmerzen hast.
    Leute zu schieben bringt wie gesagt nichts. Wenn sie noch keien Veränderungsbereitschaft mitbringen, werden sie die Behandlung (mit welcher Begründung auch immer) schnell wieder abbrechen. Man muss also damit leben, dass viele Leute, denen es schlecht geht, sich gegen eine Behandlung entscheiden, die ihnen helfen könnte. Aber man muss sich auf gar keinen Fall als Aushilfstherapeut missbrauchen lassen. Bei jemandem, der über längere Zeit unklare Bauchschmerzen hat, aber nicht zum Arzt geht, würde man sich auch sehr bald weigern, ihm die Wärmflasche zu füllen.

  • Zitat

    Original von Johanna


    ...
    Meist erkläre ich den Menschen, die so etwas äußern, daß sie einem Menschen, der sich ein Bein gebrochen hat ja auch kaum sagen würden, er solle sich bitte zusammenreißen und mal eben eine Bergwanderung machen.


    Ein gebrochenes Bein ist eine offensichtliche Erkrankung - eine Depression eine weniger offensichtliche, die aber beide ihrer eigenen Gesundung bedürfen und beide nicht mit zusammenreißen geheilt werden können.
    ...


    Zur Erklärung muss ich erwähnen, dass ich diese Aussage niemals gegenüber einem anderen machen würde, sondern nur zu mir selber. Der Grad zwischen selbst bemitleiden und depressiver Verstimmung ist vermutlich auch nicht weit.


    Um bei dem Beispiel Beinbruch zu bleiben, würde ich jemanden, der nur alle Jubeljahre mal eine Wanderung macht und dann unangemessen lange über Muskelkater klagt schon nahelegen, doch zwischendurch mal zu trainieren.

  • Zitat

    Original von Büchersally
    Um bei dem Beispiel Beinbruch zu bleiben, würde ich jemanden, der nur alle Jubeljahre mal eine Wanderung macht und dann unangemessen lange über Muskelkater klagt schon nahelegen, doch zwischendurch mal zu trainieren.


    Ich auch. Und wenn er das öfter täte, würde ich wahrscheinlich sagen: Geb's zu, du stehst da auch drauf. :lache

  • Zitat

    Original von Büchersally


    Zur Erklärung muss ich erwähnen, dass ich diese Aussage niemals gegenüber einem anderen machen würde, sondern nur zu mir selber. Der Grad zwischen selbst bemitleiden und depressiver Verstimmung ist vermutlich auch nicht weit.



    Du hast aber auch für Dich das Recht, Dich eben mal nicht "zuammenreißen" zu müssen, sondern Dich einfach Dich selbst sein zu lassen.


    Oder Dich dann einfach zu fragen" Warum geht das und das gerade nicht? Wieso kann ich das und das in diesem Moment nicht"
    Und das Recht, Dir dann zu sagen "das ist eben gerade so, daß ich mich nicht zusammenreißen will und kann und es rauslassen möchte"
    Es hat ja einen Grund, weshalb etwas gerade so ist, wie es ist.


    Und ich höre so oft, das selbstbemitleiden etwas ganz schlimmes sei.
    Warum eigentlich?
    Ich finde, es gibt Momente, in denen man das ruhig einmal darf.
    In sich selber hineinsehen und sagen" mist, mir gehts grad wirklich bescheuert und das tut mir selber doch sehr leid."


    Dadurch kommt man ja eher in die Lage zu sehen, WIESO es gerade so ist, als wenn man sich nur "zusammenreißt" - damit alles problematische verdrängt und das Problem sich irgendwann einen anderen Weg sucht, wieder hervorzukriechen.



    Selbstmitleid ist ja kein Dauerzustand, in dem Menschen sich immer nur hinsetzen und sich selber bedauern.
    (Sollte es zumindest nicht sein)
    Sondern eher eine Art System, das einem sagt:"halt stop, mir geht grad blöd - wieso ist das denn gerade so. Was ist schief gelaufen, oder paßte mir nicht?"


    Dann besteht auch die Möglichkeit, daran etwas zu ändern.
    Beim verdrängen nicht - da ist es erst mal weg - aber eben nur erst mal.

  • Zitat

    Original von Katerina


    Ich sag in einem solchen Fall: Hallo? Wovon redest du? Die Krankheit besteht ja gerade darin, dass man sich nicht mehr (reißverschlussgleich) zusammenreißen kann. Sondern dass, um in dem Bild zu bleiben, der Reißverschluß kaputt ist.


    Eine sehr schöne Erklärung, finde ich.


    Zitat

    Original von KaterinaDass bei einem Suizid z.B. die Leute hinterher sagen: Hat der gar nicht an seine Frau gedacht? Und vor allem an die Kinder?


    Oder wie vor einigen Jahren bei einem prominenten Fall hier in Hannover: Hat er denn nicht an den Lokführer gedacht? :rolleyes
    Ja, hätte er gerne. Aber er konnte ja nicht einmal an sich selbst denken bzw. sich selbst beschützen.

  • Bisher: Kurzweiliges Lesevergnügen bei einem sehr interessanten und wichtigen und eigentlich schwierigem Thema. Neues lese ich zwar nicht so viel, da ich mich seit vielen Jahren mit diesem Thema beschäftige. Allerdings ist es sehr gut strukturiert und pointiert.

  • Johanna
    Von immer mal wieder ein paar Runden Selbstmitleid fällt aber auch niemand in eine Depression. Wenn ich aber ständig nur daran denke, wie schlecht ich es getroffen habe, finde ich es auch nicht verwerflich, mich verstärkt einmal auf die positiven Dinge zu konzentrieren. Das zählt für mich auch nicht zur Verdrängung, obwohl sich danach vielleicht meine Stimmung gebessert hat. Diese Art von Zusammenreißen ist doch legitim.

  • Hab heute auch endlich angefangen - und bin mittlerweile sogar schon im dritten Abschnitt angekommen.


    Der Schreibstil gefällt mir sehr gut, die Seiten fliegen irgendwie nur so dahin. Das Thema interessiert mich insgesamt aber auch sehr.


    Die Sache mit den Vorurteilen kenn ich auch, obwohl ich nicht "vom Fach" bin. Aber ich hab während meiner Abizeit mal überlegt, Psychologie zu studieren - selbst die Tatsache, dass man nur überlegt, in diese Richtung zu gehen, ist für manche Leute Anlass genug, davon abzuraten (und zwar ohne, dass ein konkretes Argument dahintersteckt).


    Ich find gut, dass so viele Beispiele eingestreut werden, das lockert das Thema sehr auf. Und man bekommt einen guten Einblick in die Welt der Psychotherapie.


    Immer sind die Eltern schuld! - eine recht provokante Überschrift.
    Dass viele Wege in der Kindheit bereitet werden, in die eine wie in die andere Richtung, leuchtet ein. Insofern ist die Tatsache, dass das Elternhaus eine nicht untergeordnete Rolle im Leben eines Menschen spielt, irgendwie logisch und wird im Buch auch für Laien nachvollziehbar erklärt. Hat mir gut gefallen.

  • Hallo,


    so, jetzt bin ich auch endlich zu Lesen gekommen, bin allerdings erst so auf Seite 30. Das Buch bringt einen zum Nachdenken. Ich bin wahrscheinlich nicht allererste Zielgruppe, denn ich kenne zig Leute, die bei Therapeuten waren und auch offen darüber reden. Ich denke, es ist ein Vorzug unserer Zeit, dass wir diese Möglichkeit haben.
    Allerdings hatte ich ursprünglich auch eine sehr skeptische Haltung gegenüber Therapien. In meiner Schulklasse gab es ein Mädchen namens Claudia, das extreme Kontaktprobleme hatte. Sie war die typische, ständig gehänselte Außenseiterin - was in ihrem Fall sogar zu Depressionen und Angstzuständen führte. Eine gute Freundin von mir, die eine sehr soziale Ader hatte, wollte ihr helfen, "sich nicht von Idioten fertig machen zu lassen". Sie erreichte aber nur, dass Claudia jeden Tag heulend bei ihr anrief. Während sich bei den meisten Leuten diese Probleme ja allmählich legen, wenn die Schulzeit vorbei ist, wurde es bei Claudia noch schlimmer. Sie fing eine Ausbildung in der Bank an. Bald schon war es wieder der totale Horror für sie, da hinzugehen, angeblich waren die Kollegen "alle total fies" zu ihr. Dabei war Claudia gar kein böser oder hinterhältiger Mensch, nur extrem verschlossen, häufig mürrisch und wahrscheinlich auch oft unbeabsichtigt unhöflich, weil sie viele soziale Spielregeln nicht kannte - was gerade in einer Bank aber wirklich ein größeres Problem sein könnte. Sie rannte ständig zum Arzt, um sich krank schreiben zu lassen, und der schickte sie dann schließlich zum Psychologen (oder Therapeuten oder was auch immer), was Ende der 80-er wahrscheinlich noch eher selten gewesen sein dürfte.
    Nach einer Sitzung kam der kluge Herr zu folgendem Ergebnis: "Sie haben ein Problem mit Menschen. Dieses Problem werden Sie selbst lösen müssen." Ich war baff angesichts so viel Weisheit. Da wäre auch der Milchmann drauf gekommen. Therapien waren für mich erst einmal totaler Bullshit.
    Mit der Zeit bekam ich dann mit, dass es oft anders ist. Eine ehemalige Kollegin von mir hatte eine Schwester mit ähnlichen Kontaktproblemen. Bei der wurde ein "Asperger Syndrom" diagnostiziert und die Eltern erhielten viele Ratschläge, z.B. dass die Tochter einen Beruf bräuchte, in dem Teamwork fast oder gar nicht vonnöten ist, weil sie das einfach nicht kann.


    Ob in Claudias Fall die Eltern die Ursache waren, kann ich nicht sagen. Sie hatte eine ältere Schwester, die völlig "normal" war, in dem Sinne, dass sie Freunde hatte und im Job zurecht kam. Claudia schmimpfte oft auf ihren Vater, weil der auch zu den "total Fiesen" gehörte. Sie gab offen zu, ihn zu hassen. Mein Eindruck war, dass der Mann wenig Verständnis für seine Tochter hatte und es ziemlich nervig fand, dass sie so gar nicht "funktionierte". Eine Hilfe war er dadurch für sie mit Sicherheit nicht.


    Viele Grüße


    Tereza

  • Zitat

    Original von Johanna
    Und ich höre so oft, das selbstbemitleiden etwas ganz schlimmes sei.
    Warum eigentlich?
    Ich finde, es gibt Momente, in denen man das ruhig einmal darf.
    In sich selber hineinsehen und sagen" mist, mir gehts grad wirklich bescheuert und das tut mir selber doch sehr leid."


    Seh ich auch so. Dass es völlig okay ist, ab und zu mal nett zu sich selbst zu sein, auch wenn nix Schlimmes vorliegt. Würde man ja bei der besten Freundin auch tun, wenn die mal down ist, zu sagen: Komm her, Maus, setz Dich hin, du kriegst jetzt ein Getränk deiner Wahl und wahlweise mein Ohr oder eine gemeinsame Schmachtfetzen-DVD.
    Den Menschen, die dauerhaft "selbstmitleidig" sind, fehlt es oft am Glauben, wirklich was verändern zu können. Das würde sich ein Therapeut erstmal gemeinsam mit ihm angucken, woher das kommt, und wo die Zuversicht abgeblieben ist.

  • Zitat

    Original von Clare
    Ich muss mal gleich zu Anfang sagen, dass ich vom Klappentext her ein anderes Buch erwartet hatte, eher eine Beschreibung einzelner Fälle, deren Verlauf etc.


    Das habe ich auch erwartet so fällt es mir manchmal schwer am Ball äh am Buch zu bleiben, weil was ein Therapeut macht, weiß ich.


    Interressant hätte ich gefunden, wenn wir durch das Schlüsselloch schauen auch weiter geschaut hätten.


    Leider sind gerade hier die Wartezeiten so lang das man sich bis dahin umgebracht hat, wenn man Suizidal ist. Und einen guten Therapeuten zu finden ist auch verdammt schwer.

  • Zitat

    Original von xexos
    Oder wie vor einigen Jahren bei einem prominenten Fall hier in Hannover: Hat er denn nicht an den Lokführer gedacht? :rolleyes
    Ja, hätte er gerne. Aber er konnte ja nicht einmal an sich selbst denken bzw. sich selbst beschützen.


    Natürlich ist es verständlich, wenn Leute sauer werden, wenn bei einem Suizid andere zu Schaden kommen, ein Lokführer für lange Zeit oder für immer arbeitsunfähig wird, bei einem erweiterten Suizid (schrecklicher Begriff) die Kinder ebenfalls getötet werden oder jemand in den Gegenverkehr rast und wildfremde, unschuldige Menschen tötet.
    Was nichts daran ändert, dass Du trotzdem recht hast.

  • Zitat

    Original von Tereza
    Hallo,


    so, jetzt bin ich auch endlich zu Lesen gekommen, bin allerdings erst so auf Seite 30. Das Buch bringt einen zum Nachdenken. Ich bin wahrscheinlich nicht allererste Zielgruppe, denn ich kenne zig Leute, die bei Therapeuten waren und auch offen darüber reden. Ich denke, es ist ein Vorzug unserer Zeit, dass wir diese Möglichkeit haben.
    Allerdings hatte ich ursprünglich auch eine sehr skeptische Haltung gegenüber Therapien. In meiner Schulklasse gab es ein Mädchen namens Claudia, das extreme Kontaktprobleme hatte. Sie war die typische, ständig gehänselte Außenseiterin - was in ihrem Fall sogar zu Depressionen und Angstzuständen führte.


    Wäre natürlich gut gewesen, wenn damals schon was passiert wäre. Ich würde mir wünschen, dass es mehr Sozialarbeiter und Psychologen an Schulen gäbe, damit Kinder und Jugendliche mit sowas nicht allein bleiben und sich die Außenseiterrolle verfestigt.


    Zitat

    Eine gute Freundin von mir, die eine sehr soziale Ader hatte, wollte ihr helfen, "sich nicht von Idioten fertig machen zu lassen". Sie erreichte aber nur, dass Claudia jeden Tag heulend bei ihr anrief. Während sich bei den meisten Leuten diese Probleme ja allmählich legen, wenn die Schulzeit vorbei ist, wurde es bei Claudia noch schlimmer. Sie fing eine Ausbildung in der Bank an. Bald schon war es wieder der totale Horror für sie, da hinzugehen, angeblich waren die Kollegen "alle total fies" zu ihr. Dabei war Claudia gar kein böser oder hinterhältiger Mensch, nur extrem verschlossen, häufig mürrisch und wahrscheinlich auch oft unbeabsichtigt unhöflich, weil sie viele soziale Spielregeln nicht kannte - was gerade in einer Bank aber wirklich ein größeres Problem sein könnte.


    Wie gesagt. Da ist jemand über Jahre, Jahrzehnte unglücklich, und es passiert so lange nichts, bis die Geschichte chronifiziert. :-(


    Zitat

    Sie rannte ständig zum Arzt, um sich krank schreiben zu lassen, und der schickte sie dann schließlich zum Psychologen (oder Therapeuten oder was auch immer), was Ende der 80-er wahrscheinlich noch eher selten gewesen sein dürfte.
    Nach einer Sitzung kam der kluge Herr zu folgendem Ergebnis: "Sie haben ein Problem mit Menschen. Dieses Problem werden Sie selbst lösen müssen."


    Bloß - das wissen wir nicht. Vielleicht war er gar kein Therapeut, vielleicht war er ein unfähiger Blödmann, vielleicht hat auch einfach dort bei ihr sofort das "Niemand versteht mich" gegriffen, obwohl er nichts völlig Verkehrtes von sich gegeben hat, und das war nur das, was bei ihr ankam.


    Zitat

    Ob in Claudias Fall die Eltern die Ursache waren, kann ich nicht sagen. Sie hatte eine ältere Schwester, die völlig "normal" war, in dem Sinne, dass sie Freunde hatte und im Job zurecht kam. Claudia schmimpfte oft auf ihren Vater, weil der auch zu den "total Fiesen" gehörte. Sie gab offen zu, ihn zu hassen. Mein Eindruck war, dass der Mann wenig Verständnis für seine Tochter hatte und es ziemlich nervig fand, dass sie so gar nicht "funktionierte". Eine Hilfe war er dadurch für sie mit Sicherheit nicht.


    Das habe ich tatsächlich sehr oft erlebt. Für manche Kinder aus schwierigen Elternhäusern ist es die Rettung, dass sie Geschwister haben. Von Anfang an sind Menschen da, die dich vielleicht nicht beschützen können, aber die dich verstehen, und du bist nicht allein.
    Ich kenne aber auch viele Menschen, für die es eine Katastrophe war, Geschwister zu haben. Eigentlich waren sie relativ normale Kinder, nur wurden sie dauernd mit irgendeinem Erstgeborenen verglichen, der so unproblematisch gewesen war, dass es schon fast unheimlich war, und natürlich konnte man bei diesem Vergleich nur die Gesäßkarte ziehen und wurde durch die dauernde Vergleicherei zu seinen Ungunsten dann tatsächlich irgendwann verhaltensauffällig.

  • Zitat

    Original von schnatterinchen
    Leider sind gerade hier die Wartezeiten so lang das man sich bis dahin umgebracht hat, wenn man Suizidal ist.


    Für einen akut suizidalen Patienten wäre aber eine ambulante Therapie auch dann nicht das richtige, wenn er sofort einen Therapieplatz kriegen würde. Kein Therapeut nimmt einen akut suizidalen Patienten an, sondern schickt ihn erstmal in eine Psychiatrische Klinik, da er erstmal jemanden braucht, der rund um die Uhr auf ihn aufpasst. Eine Sitzung pro Woche ist dann viel zu wenig, und mehr genehmigt die Kasse nicht. Und auch ein Therapeut will sich nicht antun, nachts nicht schlafen zu können, sondern nägelkauend zu warten, ob der Patient tatsächlich zur nächsten Sitzung kommt oder ob er sich inzwischen umgebracht hat.

  • Zitat

    Original von schnatterinchen
    Und einen guten Therapeuten zu finden ist auch verdammt schwer.


    Oder überhaupt einen. Telefonische Sprechzeiten zum Beispiel DI von 9:00 bis 9.15 Uhr und DO von 20:00 bis 20:15 Uhr. Ansonsten läuft ein Anrufbeantworter. Und wenn man dann doch mal durchgekommen ist, stimmt die fachliche Ausrichtung nicht mit dem vorliegenden Problem überein.
    Sowas hab ich halt auch schon berichtet bekommen. Also der Gang zum Therapeuten kann von mehreren Blickwinkeln leider schwierig sein.

  • Zitat

    Original von xexos


    Oder überhaupt einen. Telefonische Sprechzeiten zum Beispiel DI von 9:00 bis 9.15 Uhr und DO von 20:00 bis 20:15 Uhr. Ansonsten läuft ein Anrufbeantworter. Und wenn man dann doch mal durchgekommen ist, stimmt die fachliche Ausrichtung nicht mit dem vorliegenden Problem überein.
    Sowas hab ich halt auch schon berichtet bekommen. Also der Gang zum Therapeuten kann von mehreren Blickwinkeln leider schwierig sein.


    Klar ist das doof. Aber wenn pro Monat nur ein, höchstens zwei Therapieplätze frei werden, nutzt du deine Zeit lieber zur Arbeit mit Patienten, als mehrmals pro Woche Leuten, denen es schlecht geht, zu erklären, dass du ihnen nicht helfen kannst, weil kein Platz frei ist. Da ist sicher auch Selbstschutz dabei, weil das nicht gerade eine angenehme Angelegenheit ist. Und wenn du gar zu weichherzig bist (wie ein Kollege von mir), schaffst du es sehr oft nicht, die Leute wegzuschicken, nimmst mehr Patienten an, als gut für dich ist und hast mit 45 einen Herzinfarkt.
    Ich habe vor kurzem meine halbe Praxis an eine Kollegin abgegeben, und sie erzählt mir, dass sie pro Tag sieben Anfragen hat. Mit einem halben Sitz darf sie etwa zwanzig Patienten insgesamt annehmen. Kein Wunder, dass du dann nur ein kleines Schlupfloch offen hältst, um nicht ständig Menschen frustrieren zu müssen.

  • Wäre es da nicht besser, Therapeuten aus einer Gegend würden sich zusammen tun, mit einer einzigen Liste und einer Sekretärin, die die Patienten managed? Weil die Situation ist ja schwer für Patienten, die schon Probleme haben. und auch für Therapeuten ist es schwierig.

  • Zitat

    Original von xania
    Wäre es da nicht besser, Therapeuten aus einer Gegend würden sich zusammen tun, mit einer einzigen Liste und einer Sekretärin, die die Patienten managed? Weil die Situation ist ja schwer für Patienten, die schon Probleme haben. und auch für Therapeuten ist es schwierig.


    Es wird immer wieder versucht, Lösungen zu finden. Hier gibt es z.Zt. die Möglichkeit, sich zu verpflichten, regelmäßig Notfallsprechstunden anzubieten, damit Ratsuchende innerhalb von einer Woche einen Termin kriegen können. Dafür entfällt dann größtenteils die Gutachterpflicht bei Verlängerungen und es gibt mehr Honorar pro Stunde. Trotzdem nehmen viele Kollegen daran nicht teil, weil sie genau das Problem sehen, dass sie dann zweimal in der Woche Leute vor sich sitzen haben, die dringend einen Therapieplatz brauchen, den sie aber nicht anbieten können. Und dass sie mehr Patienten nehmen könnten, wenn sie nicht die Notfallsprechstunden ... Da beißt die Katze sich in den Schwanz.
    Das Problem liegt letztenendes darin, dass der Bedarf falsch berechnet wurde. Man ist ursprünglich davon ausgegangen, dass ein Therapeut mit einem ganzen Praxissitz bis zu vierzig Patienten in der Woche behandeln kann. Was natürlich blanker Irrsinn ist, denn ein Drittel unserer Zeit geht für andere Sachen drauf, wie Vor- und Nachbereitung, Gutachtenschreiben etc. Wenn wir also den ursprünglichen Bedarfsberechnungen entsprechen würden, müsste jeder von uns bis zu sechzig Stunden pro Woche arbeiten. :pille