Grünschnabel ist die Geschichte einer Adoption und eines Adoptionskinds, ein Mädchen, sechs, sieben Jahre alt. Sie ist die Ich-Erzählerin, sie bleibt namenlos, außer als ‚Grünschnabel’, wie der neue Großvater sie nennt. Aber er, Tat Jon, kommt erst später dazu. Zuerst treffen wir ein kleines Mädchen aus dem Waisenhaus, so unsicher, daß es kaum sprechen kann, kaum Wörter kennt. Ihr neuer Vater schreibt sie ihr auf kleine Zettel und schenkt ihr Schachteln und Schächtelchen dafür, damit sie sie aufbewahren kann. Die Schachteln heißen ‚Jetzt’ und ‚Später’, sie heißen ‚Blumen’ und ‚Holz’ oder ‚Unwahrscheinlichkeit/Hoffnung’. Das Wort ‚Glück’ z.B. gehört in diese Schachtel. Dann gibt es noch die Dosen, draußen auf der Fensterbank, mit den winterharten Wörtern.
Grünschnabel versucht die Welt mit Wörtern zu beschreiben und damit zu erfassen. Die Wörter sind Schutz, eine Möglichkeit, auf Distanz zu bleiben. Zu unsicher ist das neue Leben.
Einerseits ist die Frage der Adoption noch nicht entschieden, Grünschnabel und ihre neue Eltern leben auf Bewährung, unter Dauerkontrolle des Pflegschaftsamts. Andererseits ist die neue Welt sehr verwirrend. Grünschnabels Eltern sind zwar Schweizer, aber um sie herum leben Einwanderer, aus Jugoslawien, Italien, Spanien. Mutters Schwester stammt wie Mutter aus Frankreich. Ihre Wörter sind wieder anders. Und Tat Jon stammt aus Graubünden, er flucht am liebsten surselvisch. Lumapmenta! Miarda de giat!
Die Wörter wirbeln, hin und wieder fliegen die Zettel wild im Zimmer, zuweilen auch Teller oder Fäuste. Es gibt viel Temperament in diesem Roman.
Die Geschichte spielt in den frühen 1970er Jahren in der Schweiz, eine Zeit, in der Einwanderung, Überfremdung, Schwarzarbeiter, Kontingent und Volksabstimmung die Wörter waren, die das Klima bestimmten. Wir sehen die Geschehnisse aus Grünschnabels Augen, hören mit ihren Ohren, sie sieht, nimmt auf, berichtet, versteht aber nicht immer. Sie sagt auch nicht alles. Verstehen wird die Leserin. Wie sich Fremdheit anfühlt, fühlt sie unvermittelt mit der kindlichen Hauptfigur, dem Adoptivkind.
Aus Grünschnabels Wörtersammlung entspinnen sich Geschichten, tragisch-komisch meist. Die ihrer Eltern, der Nachbarin, der Freunde, Tonis aus Italien, der in der Schweiz arbeiten darf, Elis aus Spanien, der infolge der neuen politischen Ausrichtung plötzlich ein Illegaler ist. Die Handlung wird von den Wörtern zuerst noch verschleiert, weil Grünschnabel nur die Wörter aufnimmt, ihren Inhalt aber erst langsam versteht. Man erkennt nur Bruchstücke, kann vermuten ahnt. Allmählich kommen Wörter und Inhalt dichter zusammen und damit tritt auch der Gang der Handlung klarer hervor. Die Probleme der einzelnen Figuren, Eheprobleme, Flüchtlingsprobleme, Familienprobleme, die Schwierigkeiten eines Waisenkinds, verweben sich zu einer einzigen großen Geschichte über das ‚Wir’ und ‚die Anderen’, über Fremdheit, Ausgrenzung, Menschlichkeit und Menschenrechte. Cantieni holt weit aus, bis in Tats Vergangenheit als Zollbeamter am Rhein in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Der Roman beginnt und endet mit dem Tod. Der Tod ist wichtig, Grünschnabels Mutter malt sich leidenschaftlich gern Beerdigungen aus, großartige für Leute, die sie mag, graue, trostlose, nasse, bei denen alles vom Regen weggeschwemmt wird, selbst die Grabkreuze, für Leute, die sie nicht mag. Der Lauf der politischen Ereignisse hat jedem der Flüchtlinge Tote im engsten familienkreis beschert. Der Tod droht denen, die nicht einwandern dürfen, aber auch denen, die im Land illegal arbeiten, weil das ohne Arbeitsschutz geschieht. Oder denen, die sich verstecken müssen. Es gibt Naturkatastrophen, eine davon in menschlicher Gestalt. Jede und jeder hat Geheimnisse in diesem Buch, eines davon hat Anklänge an die Geschichte von Anne Frank. Daß es Cantieni gelingt, dieses Motiv in ihre Geschichte einzufügen, ohne den handelsüblichen Kitsch zu reproduzieren, ist ein besonderes Verdienst. Da der Tod untrennbar mit dem Leben zusammenhängt, beginnt und endet der Roman auch mit neuem Leben, Grünschnabels an erster Stelle.
Ein ganz besonderes Buch.