1. Dezember 2010 von Eskalina
Weihnachtsgeschichte 2010
Es war ein langer Tag gewesen und die freute sich darauf, gleich im Wohnzimmer den Designer-Kamin anzuheizen, sich auf die Granitfliesen davor zu setzen und einfach nur in die Flammen zu sehen. Vielleicht noch Verdi als Hintergrund, nein, der wäre zu mild, zu fließend, sie brauchte etwas anderes – Andrea Chénier ja, genau, und dann den dritten Akt „La mamma morta“ und dazu ein kraftvoller und strenger 1968er Chateau Cos D'Estournel, das würde zu ihrer dramatischen Stimmung nach ihrem riesigen Erfolg heute passen.
Sie drückte die Fernbedienung für das elektrische Gitter und fuhr den Bentley langsam durch die Einfahrt. Sie fröstelte als sie ausstieg und hoffte, dass die neue Hausangestellte schon das Holz und den Anzünder bereit gelegt haben würde. Den Kamin entzünden übernahm sie lieber selbst und sie genoss die Augenblicke, in denen die Flammen auf das zerknüllte Papier trafen und sich langsam bis zu den Kienspänen durch fraßen, wie das Feuer dann plötzlich aufbrach und um sich griff, nun nicht mehr tastend und suchend, sondern unbarmherzig züngelnd und immer heißer werdend.
Sie schleuderte ihre Schuhe von sich und ging ins Wohnzimmer. Manchmal bereute sie es, dass sie damals ihrem Mann nachgegeben hatte, als er ihr seine Entwürfe für das Haus zeigte. Natürlich - als berühmter Architekt, der er war, erwartete man schon fast, dass er dieses Haus, seinem Stil getreu aus Glas und Stahlwürfeln konstruieren würde und so bot jeder einzelne Raum interessante Perspektiven und Ausblicke. Der Nachteil aber war – dass man genauso jederzeit hinein sehen konnte und es bis auf die Toilette kaum Rückzugsorte gab, an denen man sich unbeobachtet fühlen konnte. Besonders unangenehm war die Nordseite im Wohnzimmer, von der aus man direkt auf die kleine ruhige Seitenstraße blicken konnte, die am Haus vorbeiführte. Die Straße war der Grund gewesen, aus dem sie die gesamte Einrichtung des Zimmers so platziert hatte, dass sie ihr immer den Rücken zuwenden konnte. So störten sie die Blicke der wenigen Passanten nicht, die sich ab und zu in die kleine Straße verirrten und die manchmal völlig ungeniert und neugierig vor dem Edelstahlzaun stehen blieben und ins Hausinnere starrten.
Nur wenn sie den Raum betrat, musste sie sich dem ungeliebten Ausblick stellen. Einmal mehr verwünschte sich ihren Gatten, der ihr das Haus überlassen hatte und zu seiner jungen Geliebten gezogen war, der er dann umgehend ein kleines gemütliches Haus auf dem Land gebaut hatte.
Ihr Blick schweifte auf die erleuchtete Straße vor dem Haus und sie erstarrte. Da – direkt auf der anderen Straßenseite befand sich ein übergroßes Werbeplakat am dem Bauzaun, der seit einigen Wochen das letzte brach liegende Gründstück der Gegend einrahmte. Voller Abscheu trat sie näher und schüttelte erbost den Kopf. Auf dem Plakat war ein Rauschgold-Engel abgebildet und grinste sie frech an. Es schien, als blicke er ihr höhnisch in die Augen und sein breiter verzerrter Mund wirkte bei näherer Betrachtung wie eine Fratze auf sie. „Wir wissen, was du willst!“ stand dort in fetten Lettern über dem Emblem eines schwedischen Möbelhauses und sie merkte, wie sie langsam wütend wurde. Schon als Kind hatte sie eine Aversion gegen alles entwickelt, was mit Weihnachten zu tun hatte. Schuld daran war ihr Vater gewesen, der die Familie immer zu den Feiertagen tyrannisiert hatte – denn da war er endlich einmal für einige zusammenhängende Tage nicht auf Geschäftsreise. Die Mutter hatte sich dann stumm und mit einer Flasche Scotch in ihr Büro verzogen und die Kinder waren seinen Launen hilflos ausgeliefert.
Seitdem hasste sie alles, was mit dem „Fest der Liebe“ zu tun hatte und empfand dieses ganze Gerede von Frieden und Freude als Heuchelei und gesteuerte Aktion der Konzerne, um den Umsatz Jahr für Jahr in die Höhe zu treiben.
Und nun das – dieser Engel! Das ging gar nicht! Es war erst Ende November und erfahrungsgemäß würden diese Plakate bis weit in den Januar hängen bleiben.
Wütend schmiss sie Papier in den Kamin, goss den Anzünder auf das Papier und versuchte innerlich etwas ruhiger zu werden, während sie in die Flammen blickte, doch ohne Erfolg.
Sie entkorkte die Weinflasche, warf den Korkenzieher auf den Glastisch und setzte sich auf den Boden vor dem Kamin. Nach Musik war ihr nun gar nicht mehr zumute. Sie nahm einen großen Schluck Wein und überlegte, was sie tun sollte. Das Plakat ignorieren, oder ihre Sekretärin beauftragen, die Plakatfirma anzurufen, damit sie darum bat, dass dieses Wesen nicht mehr in ihr Wohnzimmer starrte? Nein, sie würde sich lächerlich machen und zum Gespräch der ganzen Stadt werden. Es musste etwas anders passieren, aber was?
Sie schenkte das Glas wieder voll. Langsam wurde es warm im Wohnzimmer – zu warm fast und sie zog den Rock aus. Von der Straße konnte man ja nicht alles sehen und es würde niemandem auffallen, dass sie jetzt im seidenen Unterrock hier vor dem Feuer saß. Und nun zur Musik, sie würde sich nicht den Abend verderben lassen, ganz gewiss nicht von einem schwedischen Möbelhaus!
Trotzdem spürte sie den Blick dieser Gestalt im Rücken. „Wir wissen, was du willst!“ Als wenn das stimmte – und wieder fiel ihr der Vater ein „Du willst es doch auch…“ und sie nahm einen großen Schluck und legte eine CD von Savatage ein. Ihre Stimmung hatte sich zu „Sarajevo“ gewandelt und sie drehte die Musik auf. Es wurde immer wärmer im Raum und sie zog hastig an ihrer Haarklemme, löste ihre Hochsteckfrisur, riss sich den cremefarbenen Kaschmir-Pullover über den Kopf und schmiss das Teil auf den Boden. Ein Tröpfchen Rotwein rann das Glas hinunter, als sie den nächsten Schluck nahm und tropfte auf den Stoff. Es sah aus wie Blut. Erneut schenkte sie sich nach. Die Flasche war schon fast leer und von Entspannung keine Spur. Der Blick in ihrem Nacken wurde immer brennender und sie drehte sich wütend um. Das Grinsen hatte sich verändert, es wirkte bösartiger und die Augen des Engels waren stärker zusammen gekniffen als vorher. Leicht schwankend stand sie auf und ging zu dem Glastisch mit den Getränken. Sie goss sich langsam zwei Finger breit Whisky in ein Glas und drehte sich zu dem Engel. Jetzt hatte er den Kopf schief gelegt und schaute sie höhnisch abwartend an. Trotzig erhob sie das Glas und prostete ihm zu. „Du nicht, nein von dir nicht…“ murmelte sie und trank erneut. Heiß rann der Whisky durch ihre Kehle und sie spürte, wie er ihr gut tat und wie er ihr die Angst vor dem bösen Geschöpf nahm, dass sie so dreist in ihrer Privatsphäre störte. Sie kehrte zum Kamin zurück und stieß versehentlich das Rotweinglas auf ihren am Boden liegenden Pullover. Nun war die Flasche leer, dann musste eben eine neue Flasche her – sie öffnete sie langsam und fühlte es förmlich, wie sie aufmerksam beobachtet wurde. Sie kippte den Whisky herunter und griff nach der Weinflasche und nahm einen großen Schluck. Sie würde sich das nicht gefallen lassen, nein, sie nicht!
Ein wenig schwindelig war ihr, als sie sich erhob und den Unterrock ansah, dessen glänzende Seide nun durch unappetitliche Rotweinflecken entstellt war. Sie zog den fleckigen Pullover wieder über den Kopf. „Passendes Ensemble“ fiel ihr ein und sie lachte laut, als sie barfuß die Treppe hinunter in den Keller wankte.
Mit Leiter und roter Farbe bewaffnet näherte sie sich nun dem Engel, der sie ansah und – da war sie ganz sicher – tadelnd, aber verunsichert den Kopf schüttelte. Endlich schien er Angst vor ihr bekommen zu haben! Mühsam kletterte sie die Leiter hinauf, tauchte den Pinsel in die rote Farbe und zog einen dicken roten Strich quer über das feiste Gesicht und noch einen und noch einen. Jeder Pinselstrick befreite sie ein Stück mehr und sie musste über das entstellte Engelsgesicht lachen. Als sie die Leiter herab kletterte, fühlte sie sich schon viel besser. Sie musste sich ausruhen - nur einen Moment - und sie setzte sich mitten ins Licht des Autos der Polizeistreife, die ihre Aktion schon einige Zeit beobachtet hatte.
Bevor die beiden Polizisten aus ihrem Auto stiegen, gab einer der beiden die Meldung zur Leitstelle durch. Ihr glaub es nicht, wer hier völlig betrunken, im Unterrock vor uns auf dem Gehweg sitzt…“
In der Tages-Zeitung las man am nächsten Tag: „Politikerin will ein Zeichen gegen den Kommerz setzen und schreitet tatkräftig ein.“ Tamara W. will unsere Stadt verschönern und ist am gestrigen Abend persönlich in Aktion getreten. Die Politikerin hat beherzt ein Werbeplakat der Firma…übermalt, um darauf hinzuweisen, dass wir uns auf die wirklichen Werte des Weihnachtsfestes auf Frieden und Freude und den wahren Anlass dieses wunderbaren Familienfestes zurück besinnen sollen, sagte ihr Sprecher, Rechtsanwalt Tilo B. der neuen allgemeinen Zeitung. Tamara W. befindet sich auf einer Dienstreise und war leider nicht zu sprechen, um uns mehr zu ihrer, wie wir finden, so mutigen Aktion zu verraten.“