"Direkte Demokratie in Sachfragen", das klingt großartig. Obwohl das kleine Land mitten in Europa hier und da als etwas rückständig gilt - so gibt es dort das Wahlrecht für Frauen flächendeckend erst seit Ende der Achtziger -, nimmt es eine "Führungsposition" ein, wenn es um direkte Demokratie geht. Volksabstimmungen und Volksentscheide gibt es in der Schweiz sehr viel häufiger als in sämtlichen anderen europäischen Ländern; das Plebiszit ist elementarer Bestandteil des politischen Systems. Diese Form der Volksgewalt ist aber nicht unumstritten; nicht grundlos haben die Gesetzgeber in anderen Ländern hohe Hürden vor solche direkten Sachentscheidungen durch das Volk gebaut. Da der "Volkswille" starken Schwankungen unterliegt und in Einzelfragen sehr viel leichter zu beeinflussen ist als in grundsätzlichen (etwa Tendenz-)Entscheidungen, befürchtet man hier Populismus und, vor allem, Einzelentscheidungen, die sich mit einer generellen politischen Linie nicht vereinbaren lassen. Wenn man im Nachgang dramatischer Situationen, etwa eines opferreichen Verkehrsunfalls oder eines Atomkraftwerk-Störfalles, entsprechende Volksentscheide fällen lassen würde, würden sie zu ganz anderen Ergebnissen kommen als zu jedem anderen Zeitpunkt. Deshalb ist in es in Demokratien, die auf dieses Mittel weitgehend verzichten oder seine Nutzung erschweren, Aufgabe der Politiker, das gesamte Bild und die aktuelle Entscheidungssituation im Blick zu haben. Dem "Volk" gelingt das nämlich oft nicht. Gut, auch die nicht-plebiszitären Demokratien haben sich während der letzten Jahre gewandelt. Ein Blick auf den sogenannten "Kampf gegen den Terror" genügt, um zu erkennen, dass sich Einzelfall und Gesamtsystem auch in Deutschland längst nicht mehr in einem gesunden Verhältnis befinden.
Nun haben die Schweizer im Rahmen eines Volksentscheids, der weltweite Beachtung findet, mit großer Mehrheit gegen den Neubau von Minaretten gestimmt. Minarette, das sind die Türme an Moscheen, von denen aus die Muezzine fünfmal am Tag zum Gebet rufen. Wohlgemerkt, es ist nicht gegen den Neubau von Moscheen gestimmt worden, sondern gegen diese Türme. Sie sind - wie Kirchtürme - die Symbole, die solche Sakralbauten kenntlichmachen. Auch in Deutschland und in vielen islamischen Ländern hat allerdings nicht jede Moschee ein Minarett.
Mit der Begründung, man hätte Angst um die "kulturelle Identität", versuchen viele Menschen, diese Entscheidung schönzureden. Andere gehen einen Schritt weiter und sprechen vom "Nazi im Kopf", den ja doch jeder mit sich herumtragen würde. Aber alle sind überrascht vom klaren Votum der Schweizer (57 Prozent), das auf Antrag einer rechtspopulistischen Partei mit insgesamt wenigen Anhängern zustande kam.
Von den knapp acht Millionen Einwohnern der Schweiz sind etwa 400.000 Muslime. Nur etwas mehr als zehn Prozent der Schweizer sind religionslos, das ist ein sehr viel geringerer Anteil als etwa in Deutschland. Die Mehrheit der Nicht-Muslime verweigert nun dieser Minderheit (etwa 5 Prozent der Einwohner - wohlgemerkt nicht der Mitbürger!) ein wesentliches Symbol ihres Glaubens. Sie tut das, weil sie kann: Eine solche Entscheidung zu einem solchen Thema wäre in Deutschland so gut wie undenkbar. Technisch gesehen. Ich halte es aber für möglich, dass sie zu einem ähnlichen Ergebnis käme, wäre sie möglich.
Der CDU-Spaßvogel Wolfgang Bosbach, der, wir erinnern uns, das Verbot von "Paintball" für geeignet hielt, einen "Zugewinn an Sicherheit für die Bevölkerung" zu erreichen (Kontext war der Amoklauf von Winnenden), bezeichnet die Entscheidung als einen Ausdruck der "Angst vor der Islamisierung". "Islamisierung" bezeichnet den Übertritt nennenswert großer Bevölkerungsanteile zum Islam, gegebenenfalls auch durch Gewalt. Verleitet ein Minarett tatsächlich dazu, die Religion zu wechseln? Oder hatte Bosbach einfach kein Fremdwörterbuch parat?
Ich verstehe zwei Dinge. Erstens ist das Plebiszit offenbar nicht die Krone der Demokratie, sondern bestenfalls ihre Krücke. Und zweitens sollte man sich mit der Schweiz nicht nur dann befassen, wenn man Geld vor dem Fiskus zu verstecken hat. Immerhin handelt es sich um ein Nachbarland.