Jonah Martin - Die Frau aus Nazareth

  • Zitat

    Original von Lipperin
    Jetzt habe ich endlich verstanden, welche Bedenken SiCollier eigentlich bezüglich der historischen Romane vom Aufbau-Verlag hat.


    Um es mal so auszudrücken: jeder Verlag hat eine bestimmte Richtung, bestimmte Grundlinien, die sich im Programm ausdrücken. Aufbau tendiert in aller Regel in eine Richtung, die nicht die meine ist.



    Thema Kreuzigung denn doch etwas ausführlicher. Ich habe vor Jahren mal was dazu geschrieben. Im Rahmen meiner Beschäftigung mit dem Turiner Grabtuch hat es sich zwangsläufig ergeben, daß ich ziemlich genau wußte, was hinter dem Begriff „Kreuzigung“ steht. Das Bild mit dem Fußknochen von Jochanan ist mir seit langem bekannt; der Knochen ist, soweit ich weiß, der einzige physische Beweis einer vollzogenen Kreuzigung. Wenns interessiert, Kreuzigung hier in Kurzform. Allerdings spoilere ich, damit die, welche es nicht so genau wissen wollen, es nicht lesen müssen.
    (Aber Achtung: wenn man sich das richtig vergegenwärtigt, das ist hart.)


    Genagelt wurde durch die Handwurzel, denn ein Nagel durch den Handteller würde nicht lange den Zugkräften standhalten. Die Hand reißt aus, der Delinquent fällt vom Kreuz. Durch die Handwurzel jedoch hält es. Dabei wird kein Knochen verletzt, diese weichen zur Seite und schaffen Raum für den Nagel. Allerdings läuft da einer der Hauptnerven des Körpers, der sog. nervus medianus. Was die Verletzung eines solchen bedeutet, muß ich nicht groß ausführen. Durch diese Verletzung klappt der Daumen ein und wird unbeweglich. Daher sind Kreuzdarstellungen, auf denen fünf Finger zu sehen sind, falsch, solche mit nur vieren jedoch korrekt. Das weiß man, weil es Versuche dazu gab. Zum einen, wenn ich mich recht erinnere, in KZs der Nazis. Zum andern hat Dr. Barbet, seinerzeit Chefarzt eines Krankenhauses, in den 50er Jahren in Paris Versuche mit frisch amputierten Armen gemacht (woher man das mit den Daumen weiß). Auch haben Studenten Selbstversuche gemacht, woher das mit den Krämpfen und der Atemnot bekannt ist. Irgendwo habe ich ein Buch, wo Bilder davon drinnen sind.
    Von dem „Wippen“ zeugt auch das Bildnis auf dem Turiner Grabtuch: es gibt auf den Armen zwei Blutspuren, die exakt den Winkel einnehmen, den man erwartet von der aufgerichteten und der abgesackten Position.


    Durch die Lage am Kreuz beginnen am ganzen Körper Muskelkrämpfe, die schließlich auch die Atemmuskeln erreichen. Nach etwa zehn Minuten besteht bereits akute Lebensgefahr. Er kann nur noch ein- nicht mehr ausatmen. Dies kann vermieden bzw. gemildert werden, wenn sich der Delinquent auf den Fußnägeln aufrichtet und die Lungen so entlastet. Das ist natürlich schmerzhaft. Auch kann er nur Sprechen, wenn er sich in die Fußnägel stellt.


    So ergibt sich praktisch ein dauerndes „Wippen“ am Kreuz. Ein gesunder Mensch hält sowas bis zu drei Tagen durch, ehe ihn die Kraft verläßt und er schließlich erstickt, weil er sich nicht mehr aufrichten kann. Deshalb übrigens gab es an Kreuzen oft Stützen unter dem Hintern bzw. Füßen: so mußte der Delinquent länger leiden, weil er sich immer wieder aufrichtete und die Prozedur verlängerte. Durch das Brechen der Beine wird das Aufrichten unmöglich gemacht, der Tod tritt relativ schnell ein.


    Kurz gesagt: es gab so viele verschiedene Arten zu kreuzigen wie es Henker gab. Die Römer waren in der Hinsicht sehr erfinderisch. Und erfahren. Das heißt, lebend kam keiner vom Kreuz herunter.


    Wer sich das in realiter ansehen möchte, der sei auf das Turiner Grabtuch verwiesen. Der Mann, welcher dort zu sehen ist, trug eine Art Dornenkrone, wurde mit 39 Hieben von zwei verschieden großen Folterknechten ausgepeitscht, hat einen Balken getragen, ist dabei gestürzt, wurde gekreuzigt, war tot, aber nicht sehr lange, als das Bildnis wie auch immer entstand.


    Mal sehen, vielleicht suche ich mir meine alten Aufzeichnungen heraus, schreibe etwas ausführlicher und stelle das anderweitig ins Netz. Dann gebe ich hier den Link dazu an.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Danke, Lipperin, daß Du das Buch hast wandern lassen; so hatte ich Gelegenheit es zu lesen. :wave Und muß mich nun an eine Rezi wagen, obwohl ich gar nicht so richtig weiß, was ich schreiben soll.


    Ich habe im „Ich lese gerade“ - Bereich einen Ich-lese-Thread zum Buch eröffnet und dort schon einiges geschrieben (Vorsicht: Spoiler!).



    Zitat

    Original von Lipperin
    Ich bin ein wenig zwiegespalten, wenn ich sagen soll, ob und wie mir dieser Roman gefallen hat.


    Genau so ergeht es mir auch. Ich weiß es schlicht und einfach nicht. Einerseits fällt so eine Geschichte prinzipiell genau in mein „Beuteschema“, andererseits war das Buch so „unrund“, streckenweise fast schon unglaubwürdig und fehlerhaft, daß es eben nur diese Art von Geschichte war, die mich vom Abbrechen abgehalten und mich das Buch, wenngleich die letzten Seiten auch teilweise im Schnelldurchgang, hat auslesen lassen.


    Stichwort Fehler: auf Seite 64f wird eine Steinigung beschrieben. Die fand vermutlich genauso wenig so statt, wie die im Film „Das Ende der Götter“, der etwa zur gleichen Zeit in und um Jerusalem spielt.


    Oder Kapitel 8, die Kreuzigung Jesu. Nach allen mit bekannten Texten und Überlieferungen war die vor dem Passah-Fest. Jesus wurde vom Kreuz genommen, eben weil er nicht übe die Festtage dort hängen sollte. Hier im Buch findet die Kreuzigung nach Passah statt. Oder Seite 465 (gehört noch zur Kreuzigung, kurz nach Eintritt des Todes): Shosanna war einen letzten Blick auf die Gestalt Jeshuas. Schon eilten Soldaten herbei, um den Leichnam von Kreuz zu nehmen. Hä? Wie war das noch mit Joseph von Arimathäa, der erst zu Pilatus ging, welcher wiederum erst mal prüfen lieg, ob Jesus wirklich tot war? Und selbst wenn das nicht der Fall gewesen sein sollte, sind die römischen Soldaten mit Sicherheit nicht "herbeigeeilt". Es konnte ihnen ja niemand meher davonlaufen.


    Am meisten hat mich, glaube ich, jedoch die Sprache, die so gar nicht die meine ist, gestört. Kurze, teilweise auf mich abgehackt wirkende Sätze, fast wie in einem Schulaufsatz. Ein Beispiel von Seite 414: Nach einem langen Arbeitstag lag Shoshanna mit geschlossenen Augen in der Hängematte und dachte nach. Trotz der widrigen Umstände fühlte sie sich glücklich. Sie hatte endlich Joel wiedergefunden. Er war gesund und kräftig. Auch wenn sie sich nur kurz und heimlich sehen konnten, wusste sie ihn doch in ihrer Nähe.


    Shoshanna und Joel müssen viel Schlimmes ertragen. Doch nie hat es mich wirklich berührt. Immer war ich unbeteiligter Dritter, den das alles nichts angeht. Das Buch (bzw. der Text) hat es nicht vermocht, mich soweit hineinzuziehen, daß ich mit den Figuren mitgelitten hätte.


    Dann Shoshanna selbst. Die Figur war für mich unglaubwürdig. Weder ihren Glauben noch ihren Unglauben habe ich ihr wirklich abgenommen; ich konnte beides schlicht und einfach nicht nachvollziehen. Auf mich wirkte es wie hohle Phrasen, leere Hülsen. Sie wird versklavt; aber nirgendwo ist von größerem Widerstand die Rede. Keine inneren Kämpfe, kaum ein Aufbegehren - (fast) nichts.


    Damit komme ich zum Hauptproblem des Buches. Es (bzw. der Text natürlich) weiß nicht so recht, was es eigentlich sein will. Reine Unterhaltung? Dafür ist die Thematik teilweise zu ernst. Historischer Roman? Dafür ist zu wenig Zeitkolorit und zu viele Fehler enthalten. Christlicher Roman? Will er vielleicht sein, ist er aber durchaus nicht. So „kämpfen“ denn drei Genres darum, den Roman als einen der ihren bezeichnen zu können - und doch kann es keines der drei. Von allem ein bißchen, von nichts richtig. Wenn man es allen (Zielgruppen) recht machen will, wird man am Ende keine richtig erreichen. Zumindest mich hat man nicht erreicht, und ich zähle mich - je nach Leselust - bisweilen zu allen drei der genannten Zielgruppen.


    Daß man zumindest die Genres „christlicher Roman“ und „historischer Roman“ durchaus gelungen verbinden kann, haben Davis T. Bunn und Janette Oke mit ihrem Buch „The Centurion’s Wife“ überzeugend bewiesen (deutsche Ausgabe vermutlich Herbst 2010, siehe Rezithread). Wenn dort die Protagonisten von ihrem Glauben sprechen, wenn sie beten, nehme ich ihnen das ab. Hier habe ich große Probleme damit.


    Brauche ich eigentlich noch erwähnen, daß das Buch weder eine Landkarte aufweist, noch ein Glossar? Und schon gar kein erklärendes Nachwort? Das sagt schon eine Menge aus.


    Es bleibt für mich eine interessante Geschichte, die für mich jedoch unzureichend dargeboten wurde. In einem christlichen Verlag in kräftig lektorierter Form erschienen, hätte der Plot das Zeug zu einem wirklich guten Buch. So reicht es für 5 Punkte plus einen Bonuspunkt für die Geschichte.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")