OT Sezon w Wenecji 2000
Übersetzt von Barbara Schaefer
An dem Wort ‚Erzählung’ muß etwas höchst Anstößiges sein, anders kann man nicht mehr erklären, daß selbst ein Verlag wie Schirmer und Graf ihn meidet und durch den Begriff ‚Roman’ ersetzt, auch wenn die vorliegenden knapp 126 Seiten, deren jeweiliger Text noch dazu um einiges unter den Maßen der Normseite liegt, ganz sicher kein Roman sind.
‚Sommer in Venedig’ ist eine Erzählung.
Marek ist noch nicht einmal zehn Jahre alt, aber die Stadt Venedig hat ihn sein Leben lang geprägt. Es ist das wichtigste Reiseziel seiner Familie schon seit der Jugend seines Großvaters. Zuhause in Polen ist Venedig in den Gesprächen ebenso gegenwärtig wie auf den Bildern in den Wänden und in den Andenken in Schränken und Vitrinen. Venedig ist für Marek wie für die gesamte Familie Wirklichkeit und Traum zugleich, erlebbar, faßbar und zugleich die Illusion von etwas Wunderbarem, das leuchtend auf dem Wasser schwebt.
Marek selbst war noch nie dort, in dem Sommer, in dem die Handlung einsetzt, aber ist es soweit. Er wird mit Mama nach Venedig fahren. Doch seine Seligkeit zerbricht, die Reise wird abgesagt. Wir befinden uns im August 1939. Mareks Vater wird einberufen, seine Mutter gehört einer patriotischen Hilfsorganisation an. Marek wird aufs Land geschickt, in die alte Villa der Familie.
Hin - und Hergerissen zwischen Schock und Neugier, zwischen Enttäuschung und Liebe zur Familie erlebt Marek den Beginn des Kriegs. Die Erwachsenen, sowohl Tante Weronika, die das Landgut bewirtschaftet, als auch die Großmutter, Mareks Lieblingstante Barbara, Dienerschaft wie Nachbarn versuchen Marek und seine Altersgenossen vor Ort vor den Ereignissen weitgehend abzuschirmen. Jung, wie er ist, ist zudem sein Verständnis von den Vorgängen sehr begrenzt. So nimmt er vor allem Gefühle wahr, Eindrücke, Atmosphärisches. Angst mischt sich dabei mit den Freuden eines glühendheißen Spätsommers, der Erntezeit und den ersten erotischen Regungen in einer Welt, die fast nur noch von Frauen bevölkert ist. Doch der Krieg läßt sich nicht verbannen, bald ist die Front da, mit Flüchtlingsströmen auf der Landstraße vor der Villa und schließlich Geschützfeuer und Bomben.
Doch auch die Erwachsenen wissen mit der Situation nicht umzugehen, auch sie versuchen die Illusion eines anderen Lebens aufrechtzuerhalten. Als im Keller der Villa ein Wasserrohr bricht und die Kellerräume langsam überflutet werden, nutzen alle die Gelegenheit, eine letzte Burg gegen den Wahnsinn draußen zu bauen. Sie spielen ‚Venedig’, lassen ihren Sehnsuchtsort Wirklichkeit werden. Auf Holzplanken und mit Hilfe alter Möbel entstehen die berühmten Plätze, die wassergefüllten Kellerräume und Gänge werden in Waschzubern, den Gondeln, durchquert. Tante Barbara spielt auf dem ‚Markusplatz’ Klavier, während durch die Kellerfenster grüngoldenes Sommerlicht hereinfällt und sich im Wasser der ‚Kanäle’ spiegelt. Die Phantasie wird zur Überlebensstrategie.
Erzählt wird in sehr präzisen Worten, aus denen zugleich phantastisch-poetische Bilder entstehen. Die Sätze sind lang, mit Einschüben und Zusätzen versehen, mit Assoziationen und Abschweifungen. Dadurch entsteht der Eindruck eines Flusses von Erinnerungen, die gleichermaßen Sprache wie Klang, Duft und Traum sind. Die Perspektive ist eine eigene Mischung aus personalem und kommentierendem Erzählen. Wer kommentiert, ist am ehesten ein erwachsener Marek, der zurückschaut.
Eine dritte Ebene baut man beim Lesen selbst. Es gibt im Text keine Informationen über den genauen Ablauf des Zeitgeschehens, der ja den Ausgangspunkt für jede Handlung der Personen des Romans bildet. Die gedrängte, dichte Schilderung vom Absagen der Reise bis die Bomben fallen und schließlich ein deutscher Offizier auftaucht, ist der wesentliche Hinweis darauf, daß sich alles innerhalb nur weniger Wochen abspielt. Für Marek dagegen dehnt sich die Zeit förmlich in der Sommerhitze.
Andere Ereignisse muß man aus seinen Beobachtungen erschließen. Keiner sagt dem Jungen, wer wann Polen überfällt, er bemerkt nur, daß die Flüchtlingsströme, die zunächst nach Osten gezogen sind, auf einmal nach Westen ziehen.
Nur einige Begriffe sowie bestimmte polnische Liedtexte werden für deutsche Leserinnen und Leser in Anmerkungen erklärt und übersetzt.
Ebenso kurz gestreift wird die Familiengeschichte. Man muß die Aussagen, die Marek macht, sammeln wie Indizien. Was zählt, ist dabei einzig das, was einem Zehnjährigen wichtig ist. Daß dabei sehr überzeugende und ganz unterschiedliche Figuren entstehen, gleich, ob es die Schwestern der Mutter, die am Ende insgesamt drei Tanten, sind, die tschechische Erzieherin von Mareks Kusine oder sein nächstälterer Bruder Wiktor, und man einen recht guten Überblick über die Familiengeschichte bekommt, ist eine besondere Kunst.
An zwei Stellen gegen Ende der Erzählung wird es allerdings eben wegen des gedrängten Stils zu pathetisch. Marek mag sich aus seinen Erlebnissen Schreckensvisionen des Kriegs zusammenreimen, die Ermordung der Juden konnte er nicht ‚ahnen’. Gleichfalls zu dick aufgetragen ist die Lobrede auf die Phantasie und Poesie gegen die Barbarei, die Tante Barbara hält. Da eben das durch den Bau Venedigs im überschwemmten Keller bereits gezeigt wurde, muß man es nicht unbedingt noch Wort für Wort erklären. Umso weniger, als die positiven Folgen dieser ‚Verrücktheit’ auch noch geschildert werden.
Insgesamt eine ungewöhnliche und ungewöhnlich schöne Erzählung, poetische Erinnerung und Reflexion, gelebtes Märchen und gelebte Realität, vom Ende einer Kindheit in Polen in den ersten Wochen des Zweiten Weltkriegs.