Anna Paulsen: Wirf dein Herz voraus und spring hinterher. Roman, München 2018, Penguin-Verlag, ISBN 978-3-328-10315-8, Softcover, 367 Seiten, Format: 11,8 x 3,5 x 18,8 cm , Buch: EUR 10,00 (D), EUR 10,30 (A), Kindle: EUR 7,99.
In jungen Jahren war Liane Klein wie die meisten anderen Kids auch: lebensfroh, optimistisch, mutig und voller Träume. Doch als sie 17 ist, zieht ihr eine Familienkrise den Boden unter den Füßen weg. Sie bricht den Kontakt zu ihrer Mutter ab und hat seitdem einen Knacks weg. Sie wird ängstlich, hypochondrisch, übermäßig diszipliniert, ja geradezu zwanghaft. Ihr Leben ist seitdem von der Vorstellung beherrscht, dass ihr (wieder) etwas ganz Schreckliches passieren könnte. Halt findet sie in ihren Ritualen. Dass sich ihre Persönlichkeit inzwischen bis zur Unkenntlichkeit verändert hat, merkt aber keiner, weil sie mit niemandem mehr Umgang hat, der sie in ihrer Jugend kannte.
Lianes Spitzname: „Frl. Rottenmeier“
Jetzt ist Liane 37, Single und arbeitet als Chefsekretärin in einer Eventagentur. In das betont jugendlich-flippige Umfeld passt sie hinein wie eine Brieftaube in einen Papageienkäfig. Die Kreativen schätzen zwar ihre gewissenhafte Arbeit, nicht aber ihre penible Art und ihr strenges Business-Outfit. „Fräulein Rottenmeier“ nennen sie sie hinter ihrem Rücken und machen sich lustig über sie. Liane ahnt das wohl, aber es ist ihr egal. Was ihre Mitmenschen denken oder tun, interessiert sie nicht. Sie lebt in ihrer eigenen Welt.
Es wäre hilfreich gewesen, wenn Liane irgendwann eine Psychotherapie gemacht hätte. Hat sie aber nicht, und so braucht es ein weiteres dramatisches Ereignis, um sie aus ihrer Erstarrung zu lösen. Wie viele andere Internet-Hypochonder hat sie plötzlich Grund zu der Annahme, unheilbar krank zu sein und bald sterben zu müssen. Die Untersuchungen laufen noch, aber die korrekte Liane nimmt schon mal ihren kompletten Resturlaub und regelt ihre Angelegenheiten.
Jetzt, wo das Schlimmste ohnehin bald eintreffen wird, ist manches, was sie früher in Panik verfallen ließ, auf einmal gar kein Thema mehr. Selbst, wenn sie bei einem Vorhaben tödlich verunglücken würde, hätte das sein Gutes, denn es würde ihr Siechtum und langes Leiden ersparen. Nun geht sie das Leben viel gelassener an.
„Bucket List“ und neue Freunde
Durch ihre Nachbarinnen – die junge Altenpflegerin Nora Feldmann und die unkonventionelle Rentnerin Erna Ritter – lernt Liane das Konzept der „Bucket-List“, auch „Löffelliste“ genannt, kennen. Erst skeptisch und dann mit wachsender Begeisterung macht sie sich daran, ihre ganz persönliche Liste der Dinge abzuarbeiten, die sie unbedingt erlebt haben will, ehe sie „den Löffel abgibt“.
Karaoke singen, zum Friseur gehen oder sich mit Jeans und T-shirts neu einzukleiden ist jetzt nicht sonderlich gefährlich, hebt aber die Stimmung ungemein. Eine Fernreise zu machen, obwohl sie unter Flugangst leidet, einen Tandemsprung mit dem Fallschirm zu riskieren oder ganz allein auf eine Wanderung zu gehen, das sind schon andere Hausnummern. Und einen Anhalter mitzunehmen, der angeblich eine Autopanne hatte, das hätte ganz schön ins Auge gehen können! Doch zum Glück ist der Künstler Greg(or) Hill nur ein bisschen strubbelig, unkompliziert und spontan, aber ungefährlich und durchaus sympathisch. Sehr sogar.
Es ist ohnehin eine spannende Erfahrung: Je mehr Liane wieder zu ihrem früheren, lockeren Selbst wird, desto mehr interessante Männer tauchen in ihrem Umfeld auf. Okay, der gepiercte und flächendeckend tätowierte Comiczeichner Julian Wagner ist vielleicht ein bisschen zu wild für sie. Aber ihr Tanzkurspartner Lorenz Wedding, der hat doch was! Schade eigentlich, dass sie jetzt erst in Lianes Leben auftauchen, wo’s schon fast zu spät ist. Aber die ängstliche, spießige Liane hätten sie erst gar nicht wahrgenommen.
Die größte Mutprobe: Mutters Brief
Doch was sind alle persönlichkeits- und lebensverändernden Mutproben gegen die eine, der sich Liane einfach nicht stellen mag, und von der auch keiner ihrer neuen Freunde etwas weiß? Seit 20 Jahren bewahrt sie einen ungeöffneten Brief ihrer Mutter auf und traut sich nicht, ihn zu lesen. Weinerliche Rechtfertigungen würden nur ihre alte Wut wieder hochlodern lassen. Das wäre schlimm genug. Aber was, wenn der Brief eine triftige Erklärung für alles enthielte und herauskäme, dass sie, Liane, die ganze Zeit im Unrecht war? Dann hätte sie den Kontakt zu ihrer Familie längst wieder aufnehmen können, ja: müssen. Die Vorstellung, vielleicht aus Sturheit 20 unwiederbringliche Jahre verschenkt zu haben, lähmt Liane.
Wird sie es trotzdem schaffen, endlich Ruths Brief zu lesen? Wird einer der attraktiven Herren, denen sie jüngst begegnet ist, ihr Herz gewinnen? Und was ist eigentlich bei ihren umfangreichen medizinischen Untersuchungen herausgekommen?
Wie wird Lianes Leben nun weitergehen? Egal, wie viel Zeit ihr noch bleibt: Die hasenfüßige Spießerin in den Fräulein-Rottenmeier-Klamotten gibt es nicht mehr. Weitermachen wie vor ihrer Auszeit kann sie im Grunde nicht.
Lianes familiäre Situation ist sehr berührend. Man kann verstehen, dass sie das komplett aus der Bahn geworfen hat. Die Szenen in der Agentur dagegen sind der Brüller, vor allem, wenn der berufsjugendliche Chef die Szene betritt. Da hat doch jeder Medienmensch sofort kichernd einen vor Augen, den er aus seinem eigenen Berufsleben kennt!
Rückverwandlung zum früheren Selbst
Die allmähliche Rückverwandlung der Heldin zu dem neugierigen, lebensbejahenden Menschen, der sie vor ihrer Krise war, verfolgt man mit Vergnügen. Man gönnt ihr, dass sie den einengenden Spießerpanzer wieder ablegen kann. Natürlich geschieht das hier im Zeitraffer. 20 Jahre lang eingeübte und bewährte Verhaltensweisen lassen sich im realen Leben nicht innerhalb eines Urlaubs nachhaltig verändern. Aber in einem Unterhaltungsroman, denke ich, ist eine solche Verkürzung okay. Das Prinzip stimmt ja: Wenn man sich dauernd von der Vorstellung abschrecken lässt, was alles Schlimmes passieren kann, verpasst man den ganzen Spaß. Mutig ohne leichtsinnig zu sein, diese Balance gilt es zu finden, und Liane ist da auf einem guten Weg.
Wie sehr sich die Protagonistin inzwischen verändert hat, wird uns bewusst, als sie nach längerer Zeit ihren Kollegen beim „Team Building Event“ wiederbegegnet, das ihr zu Beginn der Geschichte so viel Unbehagen bereitet hat. Jetzt zeigt sich, was die Damen und Herren aus der Agentur wirklich auf der Pfanne haben … oder auch nicht.
Dieses „Event“ ist so herrlich komisch beschrieben, dass ich beim Lesen laut und dreckig gelacht habe – stellvertretend für Liane, die für so eine hämische Reaktion zu viel Charakter hat.
Wir sollten vielleicht alle öfter mal unsere Komfortzonen verlassen, das Leben spüren und den arroganten „Scheinriesen“ in unserem Umfeld eine lange Nase drehen.
Die Autorin
Anna Paulsen liebt lange Strandspaziergänge, kurze Nächte und alte Häuser. Bücher gehören zu ihrem Leben wie die Luft zum Atmen, und mit ihren Geschichten will sie vor allem eines: ihre Leser berühren. Jemanden zum Lächeln oder zum Träumen gebracht zu haben, ist für sie das schönste Kompliment. Anna Paulsen lebt mit ihrer Familie in Südwestdeutschland und Nordholland.