Takis Würger - Stella

  • Meine Meinung zum Buch:



    Titel: Wie weit darf man gehen?



    Ehrlich gesagt ist mir der Aufruhr rund um das Buch etwas entgangen. Meine Neugier war aufgrund des sehr hübschen Covers und des recht knappen Klappentextes geweckt. Mich fesseln Geschichten aus dem zweiten Weltkrieg und so begann ich gespannt mit der Lektüre und wurde regelrecht überrollt.



    In der Geschichte geht es um den Schweizer Friedrich, der den Gerüchten, die er aus Deutschland hört, einfach nicht glauben kann. Er macht sich auf dem Weg nach Berlin, um die Wahrheit herauszufinden. Doch was er dort findet ist nicht nur die Liebe, sondern auch die Grausamkeit. Wie wird er damit bloß weiterleben können?



    Mich hat beim Roman vor allem die doch recht nüchterne Schreibweise und die klare Struktur angesprochen. In jedem Kapitel erfahren wir zunächst etwas über die damalige Zeit und was im jeweiligen Monat und Jahr geschah. Wer wurde geboren, welche technischen Entwicklungen gab es, welche Gesetze wurden erlassen und ähnliches. So spürt man als Leser deutlich wie sich die Lage im damaligen Deutschland immer mehr zuspitzt. Gerade die Rationierung von Lebensmitteln und Gegenständen des alltäglichen Bedarfs ist für mich heute nur schwer vorstellbar, wo es alles im Überfluss gibt.



    Dann berichtet uns Friedrich als Ich- Erzähler was er in Berlin alles erlebt und zu guter Letzt liest man immer mal wieder Auszüge aus Gerichtsprotokollen, bei denen man am Anfang nur erahnen kann, was sie zu bedeuten haben.



    Der nüchterne, teils gefühllose Schreibstil Würgers sorgte bei mir gerade erst deswegen für jede Menge Emotionen. Man wird berührt auf eine ganz besondere Art, die ich nur schwer beschreiben kann. Anders als bei schlimmen Nachrichten, die man im TV sieht oder in der Zeitung liest und dann schnell wieder vergisst, bleibt das Schicksal Friedrichs und seiner Liebe im Herzen des Lesers erhalten.



    Anfangs störten mich die Auszüge aus den Gerichtsakten ein wenig, da sie mich im Lesefluss störten, aber man sollte sie zum Innehalten und Nachdenken nutzen.



    Die zarte Liebesbeziehung, die sich da zwischen Friedrich und seiner Angebeteten anbahnt, zeigt sehr deutlich über was man alles hinwegsehen kann, wenn man die rosarote Brille auf hat.



    Die im Buch vorkommenden Charaktere sind alle sehr speziell und sorgten bei mir teils für Wut, teils für Zuneigung und positive Emotionen. Gerade Friedrichs Vater hatte es mir angetan, dass er trotz der Haltung seiner Frau und ihres Alkoholkonsums, sie immer noch liebt, gerade weil sie so viele Fehler hat.



    Friedrich selbst habe ich als sehr angenehme Figur erlebt. In ihm habe ich mich am meisten wiedergefunden, da auch ich stark dazu neige die Fehler meiner Liebsten zu ignorieren und alles für sie zu tun, damit sie es gut haben und dabei manchmal mich selbst ein wenig vergesse. Etwas schade fand ich, dass seine Farbenblindheit im späteren Verlauf der Geschichte keinerlei Bedeutung mehr hat.



    Stella als Figur kommt in meinen Augen alles andere als schlecht weg. Sicherlich ist erschreckend, was sie getan hat, aber trotzdem hat man irgendwie Verständnis für sie. Interessant fand ich ihr reges Konsumverhalten, was mich stark an unsere heutige Gesellschaft denken ließ.



    Ich hatte bis dato noch nie etwas von Stella Goldschlag gehört und mir war auch nicht bewusst, dass es solche Denunzianten gegeben hat.



    Mich hat das Buch sehr nachdenklich gestimmt, da man sich selbst fragt was man für seine Liebsten tun würde, um diese zu retten. Und was moralisch noch erlaubt wäre oder eben nicht? Der Roman wird mich wohl noch eine ganze Weile verfolgen.



    Fazit: Ein Roman, der mitten ins Herz trifft. Ich kann nur eine Leseempfehlung aussprechen. Bildet euch bitte eine eigene Meinung. Gute Unterhaltung!



    Bewertung: 8/ 10 Eulenpunkten

  • Jenseits aller Leichtfertigkeit


    Immer noch wird sie heftig geführt, die Debatte um "Stella", den zweiten Roman des jungen Takis Würger (Jg. 85). Zum Erscheinungsdatum am 11. Januar ging ein vielstimmiger Aufschrei durch den Blätterwald des Feuilletons. Hier ein paar Beispiele: "Ein Ärgernis, eine Beleidigung oder ein richtiges Vergehen?" (SZ), "ein Roman voller erzählerischer Klischees" (Zeit). "Leise, glaubwürdig und ja, auch schonungslos" nannte hingegen ausgerechnet die Jüdische Allgemeine das Buch, und für den Bonner General-Anzeiger ist es sogar „ein herausragender Roman“. Und während die Kulturredaktionen des NDR "Stella" zum "NDR-Buch des Monats" gewählt haben, war es für den Deutschlandfunk "eine kitschige Nazi-Schnurre mit Fertigfiguren". Kontrovers also, die Reaktionen der Kritiker, und darüber hinaus oft erstaunlich vehement. Schließlich sei noch erwähnt, dass es auch Rechtsstreitigkeiten zwischen den (mutmaßlichen) Inhabern der postmortalen Verwertungsrechte der Protagonistin und dem Hanser-Verlag gibt.


    „Stella“ ist ein Roman (wohlgemerkt, denn da beginnen schon die Verwirrungen mancher Kritiker: ein Roman!) mit der historischen Figur der Stella Goldschlag. Die ist 1942, im Jahr der Haupthandlung des Buches, gerade mal zwanzig Jahre alt, schön und lebenslustig, vor allem aber eine Jüdin, die Juden an die Nazis verrät – und zwar viele. Schwer gezeichnet, kann sie dem Folterkeller der Gestapo nur durch die Zusage entkommen, Juden, die sich verstecken, zu verraten. Zunächst tut sie dies, um ihre Eltern vor der Deportation zu bewahren, doch natürlich hält sich die Gestapo nicht an diese Zusage. Nach dem Tod ihrer Eltern jedoch macht sie weiter, ist bald als Greiferin unter allen Juden gefürchtet, die in Berlin im Untergrund leben. Nach dem Krieg – und das ist nicht mehr Gegenstand des Romans – verurteilt sie ein sowjetisches Militärtribunal zu zehn Jahren Haft. Nach ihrer Entlassung wird sie dann von einem deutschen Gericht nochmals zu zehn Jahren Haft verurteilt, die aber als bereits verbüßt gelten. Sie heiratet fünfmal - alle Ehen scheitern – und begeht 1994 Selbstmord.


    Takis Würger, Journalist und Redakteur beim Spiegel, hat also einen Roman um eine historische Persönlichkeit herum geschrieben. Das ist schon tausendmal geschehen und nichts Besonderes in der Belletristik. Warum also die Aufregung um dieses Buch? Nun, es geht, wie Birgit Walter in der Berliner Zeitung (16.1.2019) schreibt, um „die Klarstellung, wem die Deutungshoheit der Geschichte gebührt.“ Und die kommt offenbar aus Sicht mancher Kritiker diesem viel zu jungen Mann nicht zu. Birgit Walter sagt dazu: „Dieser Lebenslauf (der von Stella Goldschlag, Anm. d. V.) wie ein Paukenschlag wirft schon beim ersten Zuhören mehr Fragen auf, als je jemand beantworten könnte. Takis Würger kann es auch nicht, er versucht es nicht einmal. Er nähert sich von quasi neutraler Seite und nur für eine Momentaufnahme. Seine Hauptfigur, der Ich-Erzähler Friedrich, ist ein treuherzig-naiver Zwanzigjähriger, Sohn einer Deutschen und eines Schweizer Tuchhändlers. Vermögend, ziellos, neugierig auf die verruchte Nazi-Hauptstadt steigt er, Anfang Januar 1942 vom Genfer See anreisend, im Grand Hotel am Brandenburger Tor ab und bleibt ein Jahr. Will herausfinden, ob das Gerücht stimmt, dass Juden in Berlin nachts in Möbelwagen abgeholt werden. Er nimmt Zeichenunterricht, begegnet Stella als Akt-Modell, als Bar-Sängerin, auf Partys, in der Wohnung des SS-Mannes Tristan von Appen bei amerikanischem Jazz und französischem Roquefort, in seiner Hotel-Badewanne. Er verliebt sich. Ist in der Stadt, als Stella in Gestapo-Fänge gerät, ihre Identität preisgibt und ihre Greifer-Tätigkeit beginnt. Er denkt: „Ich weiß nicht, ob es richtig ist, einen Menschen zu verraten, um einen anderen zu retten.“


    Eine geradezu wahnwitzige Liebesgeschichte in Nazideutschland also, ein Projekt, an dem viele gescheitert wären. Takis Würger nicht. In makellosem Duktus und einer atemberaubend knappen, geradezu lapidaren Sprache, die gerade angesichts des immer wieder aufscheinenden Grauens überaus angemessen und im wahren Wortsinn eindringlich ist, hat er mit „Stella“ einen besonderen Roman geschrieben. Einen, der gleichermaßen mutig wie anspruchsvoll in die dunkle Welt des Jahres 1942 in Berlin eintaucht, der menschliche Zerrissenheit und Leidenschaft ebenso atmet wie die niemals zu fassenden historischen Wahrheiten jener Zeit. Ohne Pathos, ohne erhobenen Zeigefinger und jenseits aller Leichtfertigkeit - auch ein von der Kritik geäußerter Vorwurf übrigens. Dieser Roman maßt sich eben gerade keine Deutungshoheit an, in keiner Zeile. Und vielleicht ist es genau das, was manche Kritiker dermaßen auf die Palme bringt.


    Ein Leseereignis. Ein Buch, das ich dringend empfehle.

  • Dieter, es gibt schon unter "Zeitgenössisches" einen sehr interessanten Rezi-Strang (klick). Ich habe deshalb, deinen Leseindruck gemeldet, damit sie zusammengelegt werden. Also nicht wundern, wenn er später verschoben wird. :wave

    Ich bin immer noch beeindruckt von dem Buch und habe am Wochenende im Hennies an einigen interessanten Gesprächen dazu teilnehmen und lauschen dürfen.