Dörthe Binkert: Vergiss kein einziges Wort. Roman, München 2018, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-28964-1, Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 667 Seiten, Format: 15,2 x 4,8 x 23,1 cm, Buch: EUR 22,00, Kindle: EUR 19,99.
„Frau Kuznik verschränkt die Arme, nickt und seufzt. (…) Die kleinen Leute sind nur die Bauern im Schachspiel der Mächtigen, und bei dem ewigen Gerangel stehen sie immer am falschen Platz. Wie sollte sie, Anna Kuznik, das nicht wissen, sie, die in ihrem bisherigen Leben schon alles erlebt hat: ein deutsches Oberschlesien, ein geteiltes Oberschlesien, ein von Nazis besetztes polnisches Oberschlesien, ein von Russen besetztes deutsches Oberschlesien. Nun ist dieses Oberschlesien eben polnisch. Aber Schlesien bleibt es trotzdem, und sie bleiben Schlesier (…), egal, wer gerade das Sagen hat.“ (Seite 432)
Die Überlegungen der Gemischtwarenhändlerin Anna Kuznik aus dem schlesischen Gleiwitz stehen für die Grundproblematik einer ganzen Region und für das Thema des Buchs. Natürlich ist eine Identität keine statische Größe. Name, Nationalität, Sprache und Religionszugehörigkeit kann man ändern, notfalls auch mehrmals. Aber es gibt Grenzen. Wenn immer und immer wieder neue Herren am Ruder sind und bedingungslose Loyalität einfordern, wenn heute genau das grundfalsch ist, was bis gestern noch das Überleben gesichert hat, dann ist der Mensch einfach überfordert. So schnell kann er sein Fähnchen einfach nicht nach dem Wind drehen.
Eine Familie als Spielball der Geschichte
Was diese wechselvolle Geschichte eines Landstrichs für einzelne Personen und komplette Familien an Problemen und Leid mit sich bringt, sehen wir an den Helden dieses Romans. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die Bewohner der Paulstraße im schlesischen Gleiwitz, vor allem die Familie des Bahnbeamten Carl Strebel, Jahrgang 1869. Mit seiner Frau Martha hat er sechs (überlebende) Kinder, deren Biographie durch die politischen Veränderungen nachhaltig durcheinandergerät. Denn natürlich kann man einer Bevölkerung über Nacht eine neue Nationalität überstülpen, aber mit Gefühlen, Meinungen, Überzeugungen und Lebenseinstellungen klappt das nicht. Und schon in den 1920er-Jahren ist abzusehen, dass es im Hause Strebel sehr gegensätzliche politische Ansichten gibt.
Mutter Martha ist vollkommen unpolitisch, Vater Carl deutsch gesinnt, der älteste Sohn Konrad ist mit einer Polin liiert, was seinen jüngeren Bruder Heinrich in Rage bringt.
Heinrich wird Karriere bei der NSDAP machen und terrorisiert schon 1921 seine Familie so lange, bis Konrad seinem Elternhaus für immer den Rücken kehrt. Seine Paulina heiratet er trotzdem.
„Die schöne Ida“, die älteste Tochter, hat mehr Interesse an Mode als an Politik, bis sie sich in jemanden verliebt, der jüdischer Herkunft ist. Davon kriegt die Familie in Gleiwitz allerdings nichts mit, weil Ida und ihre schweigsame Schwester Klara in Breslau arbeiten.
Die pragmatische Hedwig Strebel hat genug damit zu tun, als Krankenschwester in einer Klinik zu arbeiten und ihre glücklosen Männergeschichten zu verarbeiten. Über Politik macht sie sich keine tiefgreifenden Gedanken. Sie tut, was in der jeweiligen Situation getan werden muss.
Für Nesthäkchen Luise, Jahrgang 1921, sind die Eltern fast schon ein bisschen alt. Sie fühlen sich zumindest so. Mutter Martha kränkelt und Vater Karl hat sich mit seinem Nachwuchs nie viel zu tun gemacht. Ersatzmutter werden für Luise ihre Schwägerin Paulina und die Gemischtwarenhändlerin Anna Kuznik, die Mutter ihrer temperamentvollen und ziemlich gerissenen Schulfreundin Magda, einer wahren Anpassungs- und Überlebenskünstlerin.
Der Vater verstößt Luise und ihr Kind
Als Luise 17 ist, kommt sie von einem Verwandtenbesuch in Polen schwanger zurück. Den Kindsvater, eine entfernten Cousin der polnischen Schwägerin, sieht sie nicht wieder. Familie Strebel ist entsetzt. Ein uneheliches Kind, und auch noch von einem Polen!
Carl wirft seine Tochter aus dem Haus. Auf Hedwigs Vermittlung kommt sie mit ihrer Tochter Traudel bei der Säuglingsschwester Maria Fabisch unter. Deren Mann ist im Krieg und sie ist allein mit drei kleinen Kindern. Also bilden die zwei allein erziehenden Mütter und ihre Kinder eine Wohngemeinschaft. Gemeinsam durchleiden sie den Krieg, bei dem Familienmitglieder auf verschiedenen Seiten stehen. Cousin könnte auf Cousin schießen müssen, der Neffe auf den Onkel.
Grausamkeiten werden hier nicht in epischer Breite beschrieben sondern meist nur angedeutet. Die Angst, das Grauen und die Hoffnungslosigkeit der Menschen wird trotzdem spürbar.
Wer oben war, ist jetzt unten
„Genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich“, sagt eine der Nachbarinnen. Und so kommt’s auch. Hat man vorher die Polen bis aufs Blut schikaniert, sind jetzt die dran, die sich zu Deutschland bekannt haben. Wer vorher oben war, ist jetzt ganz unten. Ein Teil der Strebels setzt sich bei der ersten sich bietenden Gelegenheit in den Westen ab. Und dreimal dürft ihr raten, wer als erster weg ist …! Klara bleibt in Gleiwitz. Sie will in der alten Wohnung warten, bis die Lage sich wieder beruhigt hat und ihre Angehörigen zurückkehren können. Was, wie wir wissen, nie passieren wird. Auch Klara muss das irgendwann einsehen.
Die anpassungsfähigen Kuzniks bleiben und betreiben weiterhin ihren Laden. Dann sind sie jetzt eben Polen. 1946 findet die wählerische Magda Kuznik, Luises Schulfreundin, endlich den richtigen Partner:
den polnisch-jüdischen Architekten und Ingenieur Aron Sperber. Er ist 15 Jahre älter als sie, geschieden, und lebt mit ein paar Verwandten zusammen in einem Haus. Das wird auch nach der Heirat mit Magda so bleiben. Leicht ist das nicht, aber sie nimmt es hin. Aron ist intelligent, kultiviert und elegant. Der Rest ist ihr egal.
Die Gräuel, die er erlebt hat, schildert Dörthe Binkert ausnahmsweise genau, und man wundert sich, dass dieser arme Kerl nicht noch gestörter ist als ohnehin schon. Doch Magda arrangiert sich mit allem. Erst in den 1960er-Jahren, als der Antisemitismus, der ja nicht mit den Nazis verschwunden ist, eine Bedrohung für ihre Tochter darstellt, ist Schluss mit lustig. Magda Sperber weiß, dass sie jetzt handeln muss …
Es ist unmöglich, all die verflochtenen Handlungsstränge hier angemessen zu beschreiben. Nicht umsonst braucht’s für die Schilderung der komplexen Ereignisse 635 Seiten, die man mit Spannung und Anteilnahme liest.
Komplexe Handlung, viele Hauptfiguren
Leider kann man nicht die Schicksale aller Romanfiguren, die einem mit der Zeit ans Herz gewachsen sind, so genau verfolgen, wie man es gerne tun würde. Dann wär’s eine ganze Buchreihe geworden. Dörthe Binkert konzentriert sich auf die Ereignisse in Gleiwitz. Sobald jemand Schlesien verlässt, erfährt man allenfalls noch durch Briefe von seinem weiteren Lebensweg. Es gibt ja auch nicht den einen Helden oder die eine Heldin. Wer vor Ort ist, über den wird berichtet. Im Grunde ist das Städtchen Gleiwitz die „Hauptperson“, um die sich alles dreht.
Wenn Geschichte mehr ist als Zahlen und Fakten und die Namen und Gesichter „ganz normaler“ Menschen bekommt, mit denen man mitfiebert, mitlacht und mitleidet, wird sie auf einmal lebendig. Der Kommentar im Klappentext bringt es auf den Punkt: „Aus den miteinander verwobenen Lebensgeschichten von Menschen, die lieben, Familien gründen, einander verlassen, vertrieben werden und sich wiederbegegnen, entsteht das große Panorama einer Region und einer Zeit, in der Glück, Verlust und Katastrophen nahe beieinander lagen.“
Zwei Landkarten, eine ausführliche Zeittafel und ein übersichtliches Personenverzeichnis helfen uns Leser*innen, den Überblick über die Fülle der Personen und Ereignisse zu behalten.
Die Autorin
Dörthe Binkert, geboren in Hagen/Westfalen, wuchs in Frankfurt am Main auf und studierte dort Germanistik, Kunstgeschichte und Politik. Nach ihrer Promotion hat sie viele Jahre für große deutsche Publikumsverlage gearbeitet. Seit 2007 ist sie freie Autorin und lebt in Zürich.