Dora Heldt: Drei Frauen am See. Roman, München 2018, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-26206-4, Klappenbroschur, 573 Seiten, Format: 13,1 x 4,8 x 20,8 cm, Buch: EUR 16,90 (D), EUR 17,40 (A), Kindle: EUR 14,99, auch als Hörbuch lieferbar.
„Sie holte Schwung und ließ den Stein flach über die Wasseroberfläche fliegen. Er sprang dreimal. Dreimal. Jule, Alexandra und sie. Die Übriggebliebenen. Marie hatte keine Gelegenheit mehr, ihr Leben zu verändern. Die Übriggebliebenen aber, die konnten das noch. Vielleicht wurde es langsam Zeit, die Gespenster der Vergangenheit zu verjagen.“ (Seite 233)
Verlegerin Alexandra Weise, Hotelmanagerin Friederike Brenner, Physiotherapeutin Jule Petersen und die Fotografin Marie van Barig sind erfolgreiche Frauen Mitte/Ende 50. Schon als kleine Mädchen waren sie unzertrennliche Freundinnen, die ihre Sommerferien stets in der See-Villa von Maries Eltern verbracht haben. Als Erwachsene haben sie zeitweise in WGs zusammen gewohnt und später, trotz Arbeit und Familien, jedes Pfingstwochenende gemeinsam in der Villa am See verbracht. Bis es vor zehn Jahren zum großen Krach gekommen ist und die vier danach nie wieder miteinander gesprochen haben.
Maries letzter Wunsch: eine Versöhnung
Marie, die sich stets mehr um andere als um ihr eigenes Wohlergehen kümmert, kann nichts für dieses Zerwürfnis und leidet am meisten darunter. Sie war immer der Motor der Freundinnenclique, hat alle zusammengetrommelt, zusammengehalten und die Treffen organisiert. Als sie erfährt, dass sie nicht mehr lange zu leben hat, will sie die zerstrittene Clique wieder miteinander versöhnen, doch ihr bleibt nicht mehr genügend Zeit. Also überträgt sie die Aufgabe mit minutiösen Anweisungen ihrer Lebenspartnerin, der Pianistin Hanna Hertwig. Diese stürzt sich mit Feuereifer auf das Projekt, weil es sie ein wenig von ihrer Trauer ablenkt.
Und so finden sich Alexandra, Friederike und Jule, noch ganz schockiert von der Todesnachricht, auf einmal bei einem Notartermin wieder. Gemeinsam.
Marie hat ihnen tatsächlich etwas vererbt, aber Bedingungen daran geknüpft. Zunächst sollen sie an Pfingsten gemeinsam mit Hanna das Wochenende am See verbringen. Erst lehnen alle empört ab, doch dann gehen sie in sich. Wenn sie Marie schon zu Lebzeiten ungerecht behandelt haben, können sie jetzt wenigstens ihren letzten Willen respektieren. Also spielen sie mit.
Hanna inszeniert draußen am See eine bizarre Reise in die Vergangenheit, die ihre Wirkung nicht verfehlt. Endlich kommen ein paar Tatsachen auf den Tisch, denen man sich schon vor Jahrzehnten hätte stellen sollen. Aber es war ja bequemer, schmollend den Kontakt abzubrechen und anderen die Schuld zu geben, als sich an die eigene Nase zu fassen.
Den konkreten Anlass für das jähe Ende der Freundschaft erfahren wir erst ganz zum Schluss. Durch das, was in der Schilderung der aktuellen Ereignisse und in den Rückblicken nicht ausgesprochen wird, kann man allerdings erahnen, in welche Richtung es wohl geht.
Beziehungen, Lebenslügen, Entscheidungen
Das ist keiner von Dora Heldts aktionsreichen Papa-Heinz-Krimis, auch wenn das Pfingsttreffen am See etwas Agatha-Christie-mäßiges hat. Nur ohne Mord. Es geht um Beziehungen, Lebenslügen und Entscheidungen – und um die Konsequenzen daraus.
Wir begleiten die vier Frauen über Jahrzehnte hinweg durch ihr Leben und sehen, wie die unterschiedlichen Persönlichkeiten voneinander profitieren und sich gegenseitig beeinflussen. Sie wären nicht so weit gekommen, wenn sie einander nicht gehabt hätten. Die kränkliche Marie wird von den Freundinnen unterstützt und mitgezogen. Dafür ist sie immer für die anderen da, wenn sie Probleme haben, und davon gibt’s reichlich: Die blitzgescheite, scharfzüngige und stets kontrollierte Friederike hat eine furchtbare, ewig unzufriedene Mutter, die glaubt, dass das Leben und die Mitmenschen ihr etwas schulden. Im Elternhaus der ehrgeizigen und attraktiven Alexandra dreht sich alles um die lebensuntüchtige ältere Schwester und die Eltern der naiv-romantischen Sportskanone Jule machen sich gegenseitig das Leben zur Hölle.
Weil die drei Freundinnen mit ihren eigenen Sorgen beschäftigt sind, entgeht ihnen, dass auch Marie Gesprächsbedarf hat. Die steckt zurück und wartet auf einen günstigen Moment, der niemals kommt. Die Dramen der anderen sind irgendwie immer größer und wichtiger.
Mit der Liebe kommen die Geheimnisse
Als Kinder und Teenager mögen sie einander noch alles erzählt haben, doch als sich ihre Lebenswege trennen und sie Beziehungen außerhalb der Clique eingehen, beginnen die Geheimnisse – was ja auch in Ordnung ist. Doch den Schritt von der symbiotischen Kinderfreundschaft hin zur Beziehung zwischen erwachsenen Frauen haben vier nicht sauber hingekriegt. Bei der Bewältigung von „Erwachsenenproblemen“ bringt es nichts, wenn man sich aufführt, als sei man noch zwölf. Das müsste man vor allem Jule mal klarmachen. Dieses zickige Weib hätte ich schütteln können, genau wie Friederikes ständig beleidigte Mutter! Doch auf Dora Heldts Figuren ist Verlass. Irgendwann spricht immer eine genau das aus, was man diesen Leuten gerne mal mitten ins Gesicht sagen würde. Ob es hilft?
Ich habe den Band in zwei Tagen ausgelesen, weil ich unbedingt wissen wollte, was denn nur so schlimm war, dass diese jahrzehntelange enge Freundschaft auf einmal zerbrochen ist – und ob die drei inzwischen erwachsen genug geworden sind, um endlich Klartext reden und ein paar überfällige Veränderungen anpacken zu können. Dass das Leben nicht aus lauter Gänseblümchensommern besteht, dürften sie ja inzwischen kapiert haben.
Berührende und komische Szenen
Auch wenn es hier um tragische und dramatische Ereignisse geht und es todtraurige Szenen gibt wie Friederikes Friedhofsbesuch: Gelegenheiten zum Schmunzeln gibt’s genügend, vor allem, wenn man im Alter der Heldinnen ist und sich in ihren Jugenderinnerungen samt Modesünden wiederfindet. Zum Kichern ist die überkandidelte Hochzeit von Jules Nichte. Vor allem die Kommentare des Großvaters sind köstlich! Und die Begegnung zwischen einer dummdreisten Schriftstellerin und einem abgehalfterten TV-Sternchen ist der Brüller. Besser hätte Papa Heinz das auch nicht hingekriegt!
Die Autorin
Die gelernte Buchhändlerin Dora Heldt wurde 1961 auf Sylt geboren, wohnt inzwischen in Hamburg und bezeichnet sich selbst als großen Inselfan und Familienmenschen. So kommen ihre Geschichten nicht von ungefähr: Die Nordsee-Eilande Sylt und Norderney etwa spielen in ihren Romanen "Tante Inge haut ab" und "Urlaub mit Papa" - beides Vater-Tochter-Geschichten - zentrale Rollen. Im Zentrum der Plots stehen dabei oft Frauen in den besten Jahren, mit all ihren Träumen und Sehnsüchten. Seit 1992 arbeitet Dora Heldt, wenn sie nicht gerade an ihren eigenen Geschichten schreibt, als Verlagsvertreterin.