Anne Müller: Sommer in Super 8

  • Hinter der Fassade


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    Anfang der Siebziger ist Clara, die Ich-Erzählerin dieses - im weitesten Sinne - Familienromans noch ein junges Mädchen, Tochter einer selbstbewussten Frau, die, wie so viele damals, ihre Interessen untergeordnet hat, und eines Allgemeinmediziners, der neben der Praxis auf dem norddeutschen Land auch gleich noch ein hübsches Anwesen übernommen hat. Wie Claras Mutter ist der Vater nicht wirklich vollständig glücklich mit dem Arrangement, wäre lieber Großstädter geblieben, dazu praktizierender Womanizer und Lebemann. Beide Eltern lieben ihre insgesamt fünf Kinder zwar sehr, aber die Unzufriedenheit mit der persönlichen Entwicklung sickert beharrlich ins Bewusstsein - und verdrängt allmählich die Glücksgefühle, vor allem beim Vater, der im Alkohol einen vorläufigen Ausweg findet. Die starke, aber zurückhaltende Mutter hält die Fassade bis fast zum Schluss aufrecht und - so gut es eben geht - sauber.


    Es beginnt sehr beschaulich und bleibt das auch über eine lange Strecke. Wir erleben Claras späte Kindheit und frühe Adoleszenz, also alles zwischen der Positionsbestimmung in der Familie bis zur ersten Liebesenttäuschung. Wir lesen von gemeinsamen Urlauben, von Familienfesten, den Strandausflügen, von Begegnungen mit Jungs und von der Rivalität zwischen den Gymnasiumsschülerinnen, wie Clara eine ist, und den Mädchen, die einen Ort weiter auf die Realschule gehen und bereits etwas breitbeiniger im Leben stehen. Auf sehr liebenswürdige, wenn auch gelegentlich etwas zu plakativ-nostalgische Weise erzählt Anne Müller eine episodische Geschichte mit hohem Wiedererkennungswert für Menschen aus dieser Zeit, aber nicht nur für diese. Der Klappentext-Vergleich mit Joachim Meyerhoffs skurrilen Romanen ist zwar falsch, aber die Autorin überzeugt durchaus mit feinem Humor, wunderbaren und präzisen Formulierungen - und einer beeindruckenden Beobachtungsgabe. Sie wirbt für die Menschen, denen es hinter einer bröckelnden Fassade ja sehr viel schlimmer ergeht als jenen, die durch diese Fassade möglicherweise ein wenig getäuscht werden. Aber „Sommer in Super 8“ ist kein Drama, oder jedenfalls nicht überwiegend, und die Geschichte ist hauptsächlich von der Leichtigkeit der Jugend beseelt, von den Merkwürdigkeiten der Siebzigerjahre und jenem staunenden Entdecken, das wir alle leider viel zu früh an das Phänomen „Erwachsensein“ verlieren.


    Ein sehr schönes und überaus lesenswertes Buch, das kaum unter der Vorhersehbarkeit der Geschichte und dem Markennamen-Dropping leidet. Die Verweise auf Tritop und ähnliche Scheußlichkeiten jener Zeit hätte es allerdings überhaupt nicht nötig.


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