Meisterwerk
Sollte ich mich irgendwann genötigt fühlen, eine Lieblingsliste mit Büchern von Michael Chabon anzulegen, in Reihenfolge der Zuneigung und Hochachtung, die ich beim Lesen der Texte empfunden habe, so wäre „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“, im Erscheinungsjahr 2000 unter anderem mit dem Pulitzer Preis und dem PEN/Faulkner Award geehrt, vermutlich an der Spitze.
Sehr vereinfacht gesagt erzählt der Roman von Josef „Joe“ Kavalier, der im Jahr 1939 von Prag nach New York flieht, um als erster der Familie der näherrückenden Judenverfolgung zu entgehen, doch mindestens den kleinen Bruder will er schnellstmöglich nachholen. Er ist zu diesem Zeitpunkt neunzehn Jahre alt, und als er ankommt, hat er bereits eine unbeschreibliche Odyssee hinter sich, denn er wurde gemeinsam mit dem Prager Golem, der mystischen Lehmfigur, in einem riesigen Sarg über Litauen außer Landes geschmuggelt. In New York wird er von der Familie Klaymann aufgenommen, deren siebzehn Jahre alter Spross Sammy nicht nur ein treuer Freund wird, sondern sich als verwandte Seele erweist. Sammy, der fantastische Geschichten nur so aus dem Ärmel schütteln kann, entdeckt die furiosen Zeichentalente seines Cousins, der außerdem in Prag bei einem Illusionisten die Zauberei gelernt hat. Sie entwickeln gemeinsam die Comicfigur „Der Eskapist“ und legen damit die Grundlage für eine unbeschreibliche Karriere im boomenden Geschäft mit den gezeichneten Superhelden. Aber wie so viele andere Künstler in diesem und in vergleichbaren Gewerben sind sie es nicht selbst, die in der Hauptsache vom eigenen Talent profitieren. Ihr Eskapist wird zwar nie ganz so erfolgreich wie Superman und Konsorten, doch der eher ernste, etwas politischere Held mit den unglaublichen Entfesselungskünsten erwirbt schnell eine solide Fangemeinde. Privat läuft es allerdings nicht ganz so gut. Als der Versuch, den kleinen Bruder nach Amerika zu holen, auf sehr tragische Weise scheitert, geht Joe Kavalier zur Armee und wird in Alaska stationiert.
Das ist nur der Anfang. „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ ist sprachlich zum Niederknien, unglaublich facetten- und detailreich, geht fürsorglich und liebevoll mit seinen Figuren um, ohne sie vor dramaturgisch nötigem Unbill zu schützen, und führt durch mehrere Jahrzehnte der Geschichte, nicht nur der amerikanischen. Der Roman rückt eine Kunstform in den Vordergrund, die jedes Recht hat, diese Position einzunehmen, und schildert die vielen überraschenden Nuancen dieser Gattung und ihrer prominenten Protagonisten, ohne Leser je damit zu langweilen - selbst jene nicht, die mit Graphic Novels, wie man sie heute nennt, nichts anfangen können. Aber es geht um viel mehr als nur das, es geht um Politik und Krieg, um Freundschaft und Liebe, um Geschäfte und Schacherei, den eigenen Platz in der Welt, und um die Welt an und für sich. Michael Chabon erzählt ja nie nur irgendeine Geschichte von irgendjemandem. Es sind sowieso nie Irgendjemande, von denen er erzählt, und es geht immer um alles. Um das Leben. Um das Eintreten für sich selbst, für andere, für die Schönheit, die uns verbinden könnte. Hach, ich gerate ins Schwärmen. Ist aber auch ein Hammerbuch.
Und ich könnte mich ärgern, dass dieser Roman so lange ganz unten in meinem Chabon-Stapel warten musste, weil ich ihn unglücklich betitelt fand, weil mich Klappentext und Ausstattung so wenig gereizt haben, weil ich den richtigen Zeitpunkt für diese mehr als 800 Seiten abpassen wollte. Dabei wäre jeder frühere Zeitpunkt genauso richtig gewesen. „Die unglaublichen Abenteuer von Kavalier & Clay“ verweist nicht nur die anderen Chabon-Romane auf die Plätze, sondern die meisten amerikanischen Erzähler, ob sie nun ebenfalls den magischen Realismus bedienen oder bedient haben - oder nicht.
Ein Meisterwerk. Jedes andere Etikett wäre zu klein.