Jahreswertung 2018

  • Liebe Eulen,


    die Regelungen der Jahreswertung unseres Schreibwettbewerbs entsprechen denen der Vorjahre.


    Mit einer kleinen Änderung:


    Da die Beteiligung am Schreibwettbewerb in diesem Jahr sehr gering war, werden dieses Mal nur die Sieger der einzelnen Monatsrunden für die Jahreswertung 2018 zugelassen.


    Die Abstimmung beginnt wieder bei Null. Alle Texte haben die gleiche Chance auf den Jahresgewinn. Die Wertung findet wie in den Monatsrunden verdeckt statt und läuft vom 01. – 10. Januar 2019. Hier geht es zum Punkteformular.


    Am 11. Januar werden die Wertungen veröffentlicht und der Jahressieger / die Jahressiegerin 2018 bekannt gegeben.


    Der Verfasser / die Verfasserin des Gewinnertextes erhält einen Büchergutschein im Wert von 25.- €.


    Viel Erfolg!

  • "Warte"

    Thema: Zeitlos

    Autor: breumel

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    „Sarah, komm endlich runter, du musst gleich los!“

    „Warte!“

    Müde setzte sich Sarah im Bett auf, zog eine frische Unterhose aus dem Schrank, fischte die Jeans von gestern (und Vorgestern, und Vor-Vorgestern) vom Fußboden, kramte ihren schwarzen Lieblingspulli aus dem Stapel und zog sich an. Immer diese Hektik!

    Als sie die Treppe hinunterschlurfte, war alles still. Gut so, Eltern nervten.

    In der Küche stand schon ein Teller mit geschmierten Broten. Wenn sie spät genug dran war, wurde Mama weich und machte ihr das Frühstück, auch wenn sie das mit 14 eigentlich selbst erledigen sollte. Mit dem Teller und einem Glas Wasser ging sie ins Wohnzimmer.

    „Morgen!“

    Komisch, Mama sagte gar nichts. Sie sah sie nicht mal an.

    „Mama? Alles in Ordnung?“

    Nichts.

    Sarah lief um ihre Mutter herum. Mama blickte, völlig reglos, auf die Uhr an der Wand. Sarah schwenkte ihre Hand vor ihrem Gesicht. Keine Reaktion.

    „Mama? Ich find das echt nicht witzig!“

    Immer noch nichts. Sie blinzelte nicht einmal. Irgendwie unheimlich …

    Sarah zwickte ihre Mutter in den Arm. Keine Reaktion.

    Sie brüllte ihr ins Ohr. Nicht mal ein Zucken.

    Jetzt wurde Sarah mulmig. Ihre Mutter, diese Stille – das war doch nicht normal!

    Sie lief zur Tür und sah hinaus, und eine Gänsehaut glitt über ihren Rücken: Ihr Nachbar stand völlig unbeweglich vor seinem Haus, den Autoschlüssel in der Hand und bereit, das Auto aufzuschließen. Und was sie vollends davon überzeugte, dass sich niemand einen miesen Scherz mit ihr erlaubte: Die Nachbarskatze saß in der Einfahrt und war mitten im Putzen erstarrt.

    Panik! Sarahs Herz raste jetzt. Sie lief zurück ins Wohnzimmer und begann, ihre Mutter zu schütteln.

    „Mama, aufwachen! Du musst aufwachen! Bitte, rede mit mir!“

    Ihre Mutter blieb unbeweglich und steif wie ein Brett. Sarah begannen die Tränen herunterzulaufen. Was war nur geschehen? Alle schienen wie erstarrt, nur sie nicht. Alle schienen zu – warten.

    Sarahs Blick fiel auf die Wanduhr. Es war immer noch 6:45 Uhr. Keine Minute war auf der Uhr verstrichen, seit sie aus der Küche gekommen war. Nein, eigentlich, seit ihre Mutter sie gerufen hatte. Und seit sie, wie an jedem Schul-Morgen, „Warte“ gerufen hatte. Voll Schrecken erkannte Sarah, dass die Welt auf sie gehört hatte...

    „Ich glaub‘s ja nicht! Los jetzt, ich fahr dich zur Haltestelle!“

    Sarah schrak hoch und blickte direkt in die zornig aufgerissenen Augen ihrer Mutter. Verwirrt sah sie sich um. Sie lag auf dem Bett, zum Glück bereits angezogen, nur die Socken fehlten noch. Sie musste eingeschlafen sein. Es war alles nur ein Albtraum gewesen. Puuuh …

    „Nächstes Mal kommst du eben zu spät! Mit 14 sollte man doch wohl in der Lage sein, ohne dreimal Wecken aufzustehen!“

    „Ich beeile mich. Tut mir echt leid, Mama.“

    Im Eiltempo machte sie sich fertig. Sogar ihre Mutter staunte, wie fix das Kind plötzlich sein konnte.Noch mehr allerdings staunte Sarahs Mutter, als Sarah in den nächsten Wochen jedes Mal beim ersten Wecken aufstand. Warum? Das wusste nur der Nachtmahr, der leise vor sich hin kicherte …

  • "Der kleine Unterschied"

    Thema: Parallelwelt

    Autor: Inkslinger

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    Alles sieht aus wie immer. Die riesigen Augen, der straßenköterblonde Struwwelkopf, die Schweinsnase. Jede Sommersprosse an ihrem Platz. Der alltägliche Blick in den Spiegel.

    Trotzdem ist irgendetwas anders. Nur weiß ich nicht, was.


    Als ich frisch geputzt aus der Dusche steige, kommt Mutti reingeplatzt.

    “Mach hinne! Wenn du nicht in fünf Minuten unten bist, kriegst du zwei Wochen Internetverbot!” Mit einem Knall fällt die Tür hinter ihr zu.

    Immer diese Hektik! Und das an einem Sonntag!

    Sie hat echt Glück, dass ich Oma gerne besuche, sonst würde ich mir das nicht jede Woche antun.


    Ich rubbel mich ab, schlüpfe in meine Klamotten und gehe zum Waschbecken. Bevor ich Zähne putze, wische ich ein Guckloch in den eingedampften Spiegel. Und lasse gleich eine Botschaft für Mutti da.

    Meine Schrumpelfinger quietschen über das beschlagene Glas.

    Ina

    Mutti wird es hassen, deshalb liebe ich es. Obwohl ich mir was Originelleres als meinen Namen hätte einfallen lassen können. Aber so weiß sie wenigstens, wer sie getroffen hat.

    Gemächlich gehe ich zum Auto, wo meine Eltern schon ungeduldig auf mich warten.



    Bei Oma im Altersheim ist es wie immer unheimlich. Unheimlich laut, voll und öde. Aber ich liebe meine Oma. Deswegen erzähle ich ihr sobald meine Alten außer Hörweite sind von dem komischen Gefühl, das ich nach dem Aufstehen hatte.

    Ich komme mir dumm vor, mir wegen sowas Gedanken zu machen. Schließlich bin ich schon dreizehn und kein Windelpuper mehr. Doch Oma nickt und schaut mich ernst an.

    “Spiegel sind tückisch. Man sieht sich nie so, wie andere einen sehen.”

    “Kapier ich nicht.”

    Sie lächelt. “Wenn andere dir gegenüber stehen, sehen sie dich anders, als du dich im Spiegel siehst. Sie sehen deine rechte Seite links, du siehst deine rechte Seite rechts. Spiegelverkehrt eben. Deswegen finden auch viele, dass sie auf Fotos komisch aussehen. Sie kennen sich so nicht.”



    Zu Hause im Bad muss ich wieder an Omas Worte denken. Ich hauche den Spiegel an und mein Name taucht da auf, wo ich ihn heute Morgen hinterlassen habe.

    Doch nein, das stimmt so nicht!

    Da steht nicht mehr Ina, sondern inA.

    Was hat das zu bedeuten?


    Ich stürme in mein Zimmer und ziehe eine Box aus der Bettkastenschublade, die ich gleich auf dem Flokati auskippe. Ich wühle mich durch den Haufen. Als ich endlich fündig werde, springe ich auf und laufe zu meinem Wandspiegel. Höchstkonzentriert vergleiche ich alle sichtbaren Sommersprossen und Muttermale mit dem Foto in meiner Hand.

    Sie stimmen alle überein. Als würde ich zwei Fotos betrachten. Wie kann das sein?!


    Panisch packe ich den Schreibtischhocker und schleudere ihn in den Spiegel. Das Glas explodiert und verteilt sich im ganzen Raum. Zitternd falle ich auf die Knie. Genau vor mir liegt eine Scherbe. Sie ist durchsichtig!

    Ich hebe den Blick. Ein Mädchen steigt aus dem Spiegelrahmen und kommt langsam näher. Sie sieht aus wie ich und ihre Stimme ist kaum mehr als ein Flüstern.

    “Hallo. Ich bin Ani.”

  • "Real-Mann"

    Thema: Verloren

    Autor: Tante Li

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    „Hey, was war los? Warum hast du diese Leute nicht gerettet?“

    „Tut mir echt leid. Ich konnte nicht.“

    „Du konntest nicht! Was soll das heißen?“

    „Ich fürchte, ich habe meine Kräfte verloren.“

    „Wirklich? Etwa alle?“

    „Ja, ich konnte leider gar nichts tun. Noch nicht einmal fliegen – was bisher immer noch das einfachste war.“

    „Verdammt! Wie ist das denn passiert?“

    „Ich bin mir nicht sicher. Ich habe nachgedacht.“

    „Wie nachgedacht? Über deine Kräfte?“

    „Nein, mehr allgemein – über meine Existenz.“

    „Und davon sind deine Kräfte verschwunden?“

    „Irgendwie schon.“

    „Dann denk künftig nicht mehr darüber nach. Die Stadt verlässt sich auf deine Hilfe.“

    „So einfach ist das nicht.“

    „Wie ist es denn?“

    „Es hat etwas mit der Realität zu tun.“

    „Realität? Was soll das sein?“

    „Ich bin mir nicht sicher. Ich habe irgendwie das Gefühl, nicht wirklich zu sein.“

    „So ein Unsinn! Du bist so wirklich wie ich.“

    „Kannst du fliegen?“

    „Nein, aber ich heiße auch nicht Supermann.“

    „Ich muss mir wohl einen neuen Namen suchen – oder es wird mir ein neuer Name gegeben werden.“

    „Keiner will dir einen neuen Namen geben. Wir brauchen dich als Supermann. Das ist deine Existenz.“

    „Nicht, wenn ich darüber nachdenke.“

    „Dann denk nicht nach.“

    „Das funktioniert nicht. Irgendwer will, dass ich darüber nachdenke.“

    „Wer soll das sein?“

    „Einer aus der Realität.“

    „Wieder dieses Wort. Hör auf damit! Das klingt nicht gut. Es macht mir Angst.“

    „Ja, mir auch.“

    „Du musst dich dagegen wehren!“

    „Wie denn?“

    „Darüber solltest du nachdenken. Vergiss die Realität. Was auch immer damit gemeint sein soll. Denk daran, wie du Supermann bleiben kannst.“

    „Vielleicht ist meine Zeit einfach um.“

    „Dieser Gedanke geht in die falsche Richtung.“

    „Die Richtung ist vorbestimmt.“

    „Von wem?“

    „Kann ich nicht sagen.“

    „Was soll das Ganze dann?“

    „Es ist wichtig für den Zeitgewinn.“

    „Zeitgewinn? Wer gewinnt Zeit?“

    „Die Welt.“

    „Also rettest du doch wieder?“

    „Nur ein klein wenig noch.“

    „Wie denn?“

    „In dem ich die Leser wenigstens ein paar Minuten davon abhalte, etwas Böses, Gefährliches oder Klimaschädliches zu tun.“

    „Was!? Welche Leser?“

    „Die Leser dieser Zeilen.“

    „Zeilen? Du redest, als würde hier etwas geschrieben stehen.“

    „Richtig!“

    „Das ist Unsinn. Wir unterhalten uns doch bloß.“

    „Eben – und das ist aufgeschrieben.“

    „Glaube ich nicht.“

    „Nur, weil du dich nicht selber lesen kannst.“

    „Du doch auch nicht.“

    „Ja, aber ich weiß, dass es so ist.“

    „Woher?“

    „Von der Realität her.“

    „Ich verstehe diese Realität nicht.“

    „Das musst du auch nicht. Sie ist sowieso für jeden anders.“

    „Klingt kompliziert.“

    „So ist das Leben.“

    „Leben? Welches Leben?“

    „Das, was die echten Menschen tun.“

    „Echte Menschen? Sind die etwa anders als wir.“

    „Oh ja, sehr viel anders.“

    „Kann ich mir nicht vorstellen.“

    „Du bist eben beschränkt.“

    „Kein Grund gleich beleidigend zu werden. Was kann ich denn dafür, dass nur du das ganze Wissen abbekommen hast.“

    „Stimmt. Aber tröste dich, du bist trotzdem wichtig.“

    „Wofür bin ich denn wichtig?“

    „Für den Dialog.“

  • "Teufel an der Wand"

    Thema: Kinderträume

    Autor: Bücherdrache

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    Still und mit gesenktem Kopf sitzt das Mädchen am Küchentisch, das Gesicht hinter einem dunklen Haarschleier verborgen. Die Malstifte in ihrer Hand fahren eifrig über das Papier und begrünen die leere weiße Fläche mit einer fröhlichen Wiese, zeichnen Sonne und Wolken und kunterbunte Schmetterlinge.


    Wenn sie malt, versinkt die Welt um sie herum. All das Laute, das Beängstigende, all die Dinge, die ihre kleine Kinderseele noch nicht versteht und die sie ängstigen, verflüchtigen sich dann für eine Weile, und sie fühlt ein leises Glücksgefühl in sich. Auch wenn sie es nicht in Worte fassen kann, spürt sie, dass sie mit ihren Stiften ein Stückchen Welt gestalten kann, das heil und ganz ist und ihr allein gehört, auch wenn es nur die Größe eines Briefbogens hat.


    "Das wird wirklich sehr schön, Finchen", lobt die Oma und zieht den Stöpsel aus dem Spülbecken. "Aber jetzt komm her und hilf mir abtrocknen, Kind."


    Das Mädchen freut sich hinter seinem Haarvorhang, stolz darauf, dass ihrer Großmutter das Bild gefällt. Doch dann spannen sich ihre Schultern und die Buntstifthand erstarrt in der Bewegung, als sie die Haustür aufgestoßen wird und im Flur streitende Stimmen laut werden. Ihre Eltern kommen nach Hause. Schrill und giftversprühend der eine Teil, dunkel grollend der andere. Worte explodieren in den Nachmittagsfrieden wie Donnerschläge, böse, gemeine Worte, Stimmen, die anklagen und verletzen, drohen, schreien, schluchzen - Welle für Welle.


    Finchen schrumpft in sich zusammen, während draußen vor der Küchentür ein erbarmungsloser Krieg tobt. Seit Monaten geht das schon so, und es wird jedes mal lauter und schlimmer. Und sie hört alles mit. Das Mädchen sieht furchtsam zu ihrer Oma auf. "Werden sie sich jetzt scheiden lassen?"


    Die Hand ihrer Großmutter legt sich warm und fest auf ihre Schulter, ein Anker in der Not.

    "Nein, bestimmt nicht", beruhigt sie, doch auch in ihren Augen steht ein Funken Angst. "Aber wir wollen den Teufel lieber nicht an die Wand malen."


    "An die Wand malen?" Das Mädchen versteht die Redewendung nicht. "Was meinst du?"


    "Das sagt man nur so … man soll Dinge nicht herbeireden, nicht an die Wand malen, weil sie sonst vielleicht wahr werden."


    Finchens Augen werden groß. "Sie werden wahr? Alle Dinge?"

    Die Oma nickt.


    Später, als sie vom Einkaufen zurückkommt, ist es ruhig und friedlich im Haus. Die Eltern sind fort, aus der Küche dudelt leise das Radio. Die Großmutter schält sich aus ihrem Mantel.


    "Finchen?"


    Sie bekommt keine Antwort. Doch als sie die Küchentür aufstößt, die schweren Einkaufstaschen in der Hand, steht da ein Mädchen und malt. Papierbögen sind auf den Boden gesegelt, Stifte liegen wild im Raum verstreut, und dazwischen steht Finchen mit glühenden Wangen und bedeckt jedes freie Fleckchen Küchenwand mit bunten Bildern: Blumen, blühende Bäume, Häuser und Hunde und Katzen und eine große Sonne, und mittendrin ein kleines Mädchen zwischen ihren Eltern. Alle lachen und umarmen sich und obendrüber schweben ungelenke rote Herzchen.


    Finchen fährt herum und sieht die Oma entgeistert den Kopf schütteln.

    Sie strahlt. "Es wird alles wahr! Das hast du gesagt!"