Der 21. Dezember von rienchen
Das Internet ist ein großer Misthaufen, in dem man allerdings auch kleine Schätze und Perlen finden kann. *
*Joseph Weizenbaum, Informatiker
Normalerweise schreibe ich für diesen wunderbaren Kalender immer eine Geschichte über das, was mich im vergangenen Jahr besonders bewegt hat. Über kleine Alltagsbegegnungen, Freundschaften, skurrile Ereignisse. Ein paar Ideen gab es,
da war dieser harmlose, schlafende Obdachlose, der von Sicherheitsbeamten aus der vollen U- Bahn getragen wurde, weil sich eine Zugfahrerin durch seine bloße Anwesenheit gestört fühlte. Mit Hunden führte man ihn ab, als sei er ein Schwerverbrecher. Ein paar Fahrgäste protestierten schwach gegen dieses menschenunwürdige Vorgehen. Zwei Stationen weiter war alles wieder vergessen und wir konnten weiter dealenden Typen zugucken, ohne, dass jemand von der Zugsicherheit eingriff.
Da gab es einen Stromausfall bei uns vor ein paar Wochen. Ein großes Gebiet war betroffen, die gesamte Gegend war wie ausgeknipst. Restaurants, Supermärkte, Cafes – alles dunkel. In unserer Erdgeschosswohnung brannten dutzende Kerzen, und nach und nach traf die halbe Nachbarschaft ein. Eine liebe, alte Dame, die zwei Tage später in eine Seniorenresidenz umziehen wollte und mit den Nerven völlig am Ende war, weil sie in ihren Umzugskartons weder Streichhölzer, noch Kerzen, noch Taschenlampe fand und wie irre durch die dunkle Wohnung taperte, immer die Ereignisse des zweiten Weltkrieges vor Augen, den sie als Kind miterlebte. Unser Nachbar von nebenan, der sich Batterien borgen wollte, dann einfach mal fast zwei Stunden blieb, mit den Kindern Back Gammon spielte und Verschwörungstherorien verbreitete. „Die da oben wollen uns vorbereiten auf das, was da kommt.“ Wie sich nach einer Stunde herausstellte, hatte er tatsächlich einfach Angst im Dunkeln. Wir hatten Kekse und lauwarmen Tee auf einem Stövchen. Als das Licht wieder anging, verabschiedete er sich ein bisschen verschämt.
Da gab es einige schöne, zwischenmenschliche Begegnungen, die mir viel bedeutet haben. Zum Beispiel gestern Abend, da habe ich zum ersten Mal für jemanden gekocht. Und es hat ihm geschmeckt. Es hat sich wie ein Fundament angefühlt und ich weiß, dass wir das so oft wie möglich wiederholen wollen. Es gibt nichts Schöneres.
All das wäre es wert gewesen, eine Geschichte daraus zu stricken, was Dystopisches, Sarkastisches, Lustiges, Trauriges, Herzerwärmendes.
Dann aber kam Jens Büchner dazwischen. Wer? Ein Mann namens Jens Büchner, den ich nicht kenne, irgendein Prominenter, dessen Name mir nichts sagt, der unvorhergesehen gestorben ist, was viele Menschen betroffen gemacht hat. Ein Freund (ja, ein richtiger Freund, den ich seit der Grundschulzeit kenne) fragte auf seiner Facebookseite:
Wer ist eigentlich dieser Jens Büchner, um den hier alle trauern? Hat der irgendwas geleistet?
Im Sommer dieses Jahres saß ich auf einem Elternabend, den ich nie vergessen werde. In der Mitte des Raumes brannte eine Kerze, weil die Mutter einer Mitschülerin plötzlich verstorben war. Bis auf die üblichen Small Talk – Konversationen hatten ich - und kaum ein anderes Elternteil - Kontakt mit ihr gehabt, aber wir hatten uns immer freundlich und nett gegrüßt. An diesem Abend saßen Menschen dort, die sonst ziemlich anstrengend sein können und jede Diskussion bis zum bitteren Ende führen, und heulten Rotz und Wasser. Ein Vater, mit dem mich nichts verbindet, hielt und drückte meine Hand und ich war dankbar dafür, weil kein Kind der Welt es verdient hat, dass seine Mutter so jung stirbt. Das ist verdammt nochmal ungerecht. Für einen Moment war einfach mal Stille, jeder von uns hielt inne und nahm sich selbst nicht zu wichtig. Und natürlich ging es dann am nächsten Elternabend wieder weiter mit blöden, unwichtigen Streitereien und Diskussionen, aber plötzlich sehe ich zum Beispiel diesen einen Vater mit ganz anderen Augen. Etwas hat sich in der Klassenelterngemeinschaft verändert.
Ich habe also keine Ahnung, wer dieser Jens Büchner war, aber ich musste an zwei Mitglieder dieses Forums denken, die in diesem Jahr verstorben sind. Ich kannte sie nicht, nur durch Beiträge im Forum und ein paar persönliche Nachrichten. Mit einem verband mich ein langer E - Mail Kontakt und eines der schönsten Geschenke, die ich besitze, ist eine PDF - Datei mit einer persönlichen Widmung von ihm. Ein paar ausgedruckte DIN A4-Seiten in meinem Bücherregal von einem Menschen, den ich nie persönlich getroffen habe und den ich trotzdem sehr mochte. Gesagt habe ich ihm das nie, vielleicht war das aber auch nicht nötig. Trotzdem – warum habe ich das nie einfach getan?
Die andere machte auf mich einen offenen, herzlichen, fröhlichen Eindruck, so dass ich sagen kann: ja, es hat mich sehr betroffen und traurig gemacht, auch wenn das nun mal so ist im Leben und es jeden Tag passiert, dass Menschen sterben. Und ich habe mir vorgestellt, mein Facebook-Freund hätte mich wegen meiner offen ausgedrückten Anteilnahme angegriffen.
Wenn Menschen um einen unbekannten Jens Büchner trauern, wenn sie Empathie mit seiner Familie und seinen Freunden empfinden, ist das nicht auch eine „Leistung“, die diese Person erbracht hat?
Ja, an dieser Stelle gibt es sonst immer eine Geschichte, und ich hoffe, Ihr nehmt es mir nicht übel, dass es diesmal nicht so ist. Und leider ist auch die Geschichte des letzten Jahres auch noch sehr aktuell.
Es sollte nicht rührselig werden, ist es jetzt aber doch. Wir denken immer, wir haben genug Zeit, um Dinge zu sagen, die wir schon immer mal sagen wollten, und dann haben wir sie vielleicht doch nicht mehr. Wer weiß das schon. Für alle, die sich angesprochen fühlen möchten:
Es ist schön, dass es Euch gibt - mit Euren offenen Ohren. Dass es hier in meinem Regal Bücher mit und ohne persönliche Widmungen gibt, die ich wie Schätze hüte. Dass ich mit einigen von Euch schon mal einen gehoben habe und einem von Euch Geld für eine Taxifahrt durchs nächtliche Berlin schulde. Ich meine, es waren acht Euro fünfzig. Vielleicht kann ich mich mal revanchieren. Ich möchte mich für viele Dinge aus den vergangenen Jahren bedanken - für Weihnachtskarten, Teepakete und liebe Worte zum Geburtstag. Wie schön, dass hier in meinem Garten seit einigen Jahren ein Pflaumenbäumchen aus Leipzig wächst, von einer Eule, die ich nie gesehen habe und die trotzdem da ist. In diesem Jahr war trotz der Rekordhitze die erste Pflaume dran. Vielleicht lernen wir uns irgendwann kennen.
Ich mag das alles sehr.
Danke.
Frohe Weihnachten, liebe Büchereulen.