Der Büchereulen-Adventskalender 2018

  • Der 1. Dezember von Voltaire



    Auch für Banalitäten muss mal Zeit sein


    Vorweihnachtszeit.

    Das bedeutete für Petrus „Stress ohne Ende“. Immer neue Aufträge hatte der CHEF für ihn.

    Und nun dieser neue Auftrag auch noch.

    „Mein lieber Petrus. Du bist der richtige Mann, hier eine besinnliche Weihnachtsfeier zur organisieren. Natürlich weiß ich, dass es eine weitere zusätzliche Belastung für dich ist. Und darum habe ich entschieden, dass du dir Hilfskräfte rekrutieren kannst. Die Leute, die du als nächstes triffst, die sollen dir helfen. Diese Anweisung ist übrigens nicht verhandelbar.“


    Petrus traute dem Frieden allerdings nicht so ganz. Hatte er doch das leichte Grinsen des CHEFS nicht übersehen; und der CHEF war immer für einen Streich gut. Aber egal, Befehl ist Befehl und über Befehle wird nicht diskutiert.


    Petrus zog los.

    Und bei der ersten Person die im begegnete war im klar, warum der CHEF sich eines leichten Grinsens nicht hatte enthalten konnte.


    Kippe im linken Mundwinkel, eine halbvolle Flasche Whisky in der Hand – der Erste der ihm begegnete war niemand anders als Lemmy. Aber es half alles nichts. Petrus musste ihm den Plan erläutern.

    Und Lemmy reagierte anders als Petrus es erwartet hätte.

    „Fuck. Geil Alter. Da bin ich voll fucking dabei. Also – ich starte mit „Overkills“ - dann bretter ich weiter mit „Ace of spades“ und lande dann als besinnlichen Ausklang bei „Run run Rudolph“. Ich sage dir Alter, das wird eine unheimlich fucking geile Sache. Mach dir keine Sorgen, ich hole noch ein paar Kumpels dazu.“


    Petrus wusste nicht so recht, ob er diesen Enthusiasmus nun gut finden sollte oder nicht. Aber egal – Lemmy war eh nicht zu stoppen.

    Und ehe Petrus sich versah, kehrte Lemmy zurück, in seiner Begleitung Bon Scott.


    „Ich bin voll dabei, mit „Highway to hell“ natürlich.“


    Petrus wurde blass. Was würde der CHEF dazu sagen? Er war zwar auch CHEF des „Ganz-Unten-Stockwerks“ - aber das Ding lief beim ihm eigentlich nur am Rande mit. Außer einer Glückwunschkarte zum Geburtstag und ein paar mehr als entbehrlich gewordenen Seelen hatte er nicht viel Kontakt zu seinen Mitarbeitern in der „ganz heißen Region“.


    Aber Lemmy hatte noch mehr Leute angeschleppt.

    Rick Parfitt war dabei (ohne unser „Schnäppn-Däppn“ geht gar nichts, lachte er) Jim Morrison schaute wie immer sehr verklärt (in welche Welt mag da wohl schauen – denn er war jetzt schon der Welt aller Welten).


    Nicht zu vergessen Keith Moon (der Herr über die double-bass-drum) prügelte gnadenlos auf sein Schlagzeug ein. Er kann es halt. (Jon Hiseman und Ginger Baker haben ihn übrigens insgeheim beneidet).


    Aber es kamen noch mehr.

    Janis Joplin – (die erst nach der dritten Flasche Scotch so richtig munter wurde) intonierte „Me an Bobby McGee“ (Who the fuck is Bobby,“ fragte Lemmy – bekam aber keine Antwort).


    Die Gruppe wurde immer illustrer. Auch John Lennon und George Harrison schlenderten gemächlich den Wolkenpfad entlang, wobei George Harrison pausenlos versuchte seiner Sitar Metalklänge zu entlocken. Irgendwie schien die Sitar damit aber gar nicht einverstanden zu sein. Naja, auch eine Sitar ist ja nur ein Mensch, oder so.


    Michael Jackson kam zusammen mit Elvis Presley. Beide wollten bei diesem Himmels-Event natürlich nicht fehlen und wurden begeistert begrüßt. Joe Cocker und Shirley Bassey unterhielten sich angeregt als sie eintrafen.


    Es würde jetzt aber zu weit gehen alle hier zu nennen, die sich zu diesem besonderen Himmelsereignis einfanden. Nur so viel sei gesagt, es trafen sich hier mehrere hundert Millionen verkaufter Tonträger.


    Dann ging es los.

    Es war grandios.

    Der CHEF ging begeistert mit. Gerade auch bei „Highway to hell“ registrierten die Teilnehmer, dass das Grinsen des CHEFS immer breiter und breiter wurde.


    Und dann nach vielen, vielen Stunden eine letzte Zugabe.


    Der CHEF erhob sich und bat um Aufmerksamkeit:

    „Ich danke euch allen. Ihr habt mir eine große Freude gemacht. So ihr auch den Menschen immer wieder Freude bereitet habt. Jeder auf seine Art. Und es hat gezeigt, das es gerade die Verschiedenheiten sind, die das Leben erst zum Leben machen. Wäre schön – aber ich habe diese Illusion aufgeben müssen – das alle Verschiedenheiten auch friedlich gelebt werden können. Dem ist aber nicht so. Trotzdem geht das Bemühen natürlich weiter – denn der Plan war, das alle Menschen friedlich zusammenleben und jede und jeder toleriert wird und selbst toleriert. Ich könnte jetzt sagen „Wir schaffen das“ aber ich lasse es lieber, denn dieser Satz ist auch hier oben ein absolutes No-Go.

    Mein ganz besonderer Dank geht aber an Petrus – ohne den läuft hier oben nämlich gar nichts. (Donnernder Beifall!)

    Ach ja Petrus, du denkst daran, das bald Ostern ist und da sind deine Ideen gefragt. Also ich denke da an etwas ganz anderes wieder heute. Ich bin sicher, du wirst das schon machen, mein Alter.“


    Petrus nickte ergeben. Und überlegte, wann er denn endlich in Rente gehen durfte.


    Er setzte sich. Niemand weit und breit.

    Doch, da war noch Gunter Gabriel mit seiner Gitarre.

    „Alter du wirst auch das noch schaffen. Lass uns einfach mal gemeinsam singen, da kommen immer die besten Ideen.“


    Und Gunter Gabriel sang:

    „Hey Boss ich brauch mehr Zeit........“.


    Eine kleine nichts sagende Geschichte. Banal bis zum Abwinken. Aber vielleicht mal sich eine wenig Zeit nehmen und bei YouTube schauen, da kann man sicher alle der hier genannten Künstler antreffen. Es lohnt sich. Versprochen.

    In erster Linie ging es mir aber um die Menschen, die uns unterhalten, die uns zum Nachdenken bringen, die uns zeigen welche unglaublichen Facettenreichtum das Leben bietet – und die uns ab und mal beiseite nehmen und uns innehalten lassen. Und für alle ist gesorgt – jede und jeder kommt auf seine und ihre Kosten, sie und er muss nur wollen.


    Er nahm sein Pferd und ritt in den Sonnenuntergang......

  • Der 2. Dezember von Jeanette


    Josef, ich will in Mutterschutz!


    „Josef, du hättest die Finger von dieser Zeitmaschine lassen sollen! Jetzt laufe ich seit Tagen im Nirgendwo herum. Ich will in Mutterschutz!“

    „Maria, das Experiment ist eben schiefgelaufen. Du hättest meine Werkstatt nicht dekorieren sollen. Bestimmt sind wir deswegen in der Weihnachtsgeschichte gelandet.“

    „Mach mir keine Vorwürfe, dieser Schlamassel ist allein deine Schuld!“

    „Schrei nicht so und lauf weiter. Wir dürfen nicht auffallen, bis mir eine Möglichkeit einfällt, den Zeitsprung rückgängig zu machen.“

    „Volkszählung, pff, dieser Augustus spinnt. Ich habe Hunger und meine Füße tun weh!“

    Josef reichte seiner Frau ein Stück Brot, wobei er die Augen verdrehte, weil sie zum fünften Mal innerhalb einer Stunde nach Essen fragte. Maria betrachtete die vertrocknete Scheibe angewidert und warf sie weg.

    „Ich habe Lust auf Pommes. Mit viel Ketschup!“

    Ihre weinerliche Stimme hielt Josef davon ab, etwas zu erwidern.

    Auf dem restlichen Weg nach Bethlehem äußerte Maria elf weitere momentan unerfüllbare Wünsche, darunter vegane Schokokekse und pinkfarbene Kaschmirsocken. Hinzu kamen sieben Klagen, unter anderem über die Frechheit des Engels, der sie erst gegen ihren Willen geschwängert hatte und ihr dann den Namen des Kindes vorschreiben wollte.


    Endlich in Bethlehem angekommen, fand Maria weitere Gründe zum Jammern. Keine der Herbergen, in die Josef sie führte, gefiel ihr, denn alle erreichten nicht den Standard, den Maria aus ihren Urlauben gewohnt war. Das war allerdings nicht das Hauptproblem, denn in der ganzen Stadt war kein einziges Bett mehr frei.

    Deshalb irrten Maria und Josef über die Felder. Maria klagte über die katastrophale Organisation dieser unnötigen Volkszählung.

    „Mit Melderegister geht das viel einfacher und … oh …“

    Unter Maria sammelte sich eine Pfütze.

    „Josef, das Baby kommt! Was machen wir jetzt? Google mal!“

    „Reiß dich zusammen. Komm mit in den Stall da drüben.“


    Maria lag verschwitzt und von heftigen Schmerzen geplagt inmitten von schmutzigem Stroh.

    „Die Weihnachtsgeschichte habe ich mir romantischer vorgestellt. Halt mir bloß die Tiere vom Hals!“

    Viele Schreie und Anfeuerungsrufe später ertönte ein Weinen. Josef schob seine Hände unter das verschmierte Baby und zeigte es Maria. Über deren erschöpftes Gesicht huschte Entzücken, dann Verwunderung.

    „Josef, das ist ein Mädchen!“

    Nach eingehender Betrachtung der entsprechenden Stelle musste Josef ihr zustimmen.

    „Der Engel hat aber Gottes Sohn angekündigt, oder? Hast du ihm überhaupt richtig zugehört?“

    „Natürlich hat er das, ich bin nicht blöd! Schnell, pack das Kind in Stroh ein, bevor die Hirten kommen.“

    Kaum hatte Josef Maria das eingewickelte Mädchen überreicht, schrie sie erneut vor Schmerz auf. Ihr Mann erschrak.

    „Was ist los? Bekommst du unstillbare Blutungen?“

    „Quatsch, die Nachgeburt kommt. Das ist normal!“

    Josef sah genauer hin.

    „Die Nachgeburt ist aber ganz schön groß!“

    Augenblicke später flutschte ihm ein weiteres runzliges Baby in die Arme.

    „Maria, da ist noch eins!“

    Er hielt es ihr hin und sie war erleichtert.

    „Ein Junge, so ein Glück!“


    Stunden später, Maria und die Babys schliefen, Josef hielt pflichtbewusst Wache, klopften die erwarteten Hirten an. Sie priesen den Heiland und störten sich nicht an der Anwesenheit des Mädchens. Aber warum hörte das Klopfen nicht auf?


    Maria schlägt die Augen auf und schaut sich um. Sie liegt in ihrem Bett zu Hause. Es ist der 2. Dezember 2018. Josef schaltet den Wecker aus und beide stehen auf. Im Spiegel betrachtet Maria ihren Bauch, der sich im neunten Monat ihrer Zwillings-Schwangerschaft weit vorwölbt. Um Weihnachten herum werden die Babys auf die Welt kommen. Sie hat ihren Arzt gebeten, ihr die Geschlechter nicht zu verraten, doch heute ist sie sich sicher, dass ein Mädchen und ein Junge in ihr heranwachsen.

    Beim Frühstück erzählt Maria ihrem Mann von ihrem verrückten Traum.

    Josef lacht. „Warum soll es nicht so abgelaufen sein? Vielleicht hat die Überlieferung das Mädchen unterschlagen.“

    „Logisch: Hinter jedem starken Mann steht eine starke Frau!“



  • Der 3. Dezember von Bacat


    Die Weihnachtsüberraschung


    Agnes und Otto Schröder freuten sich nicht so recht auf Weihnachten. Ihre Kinder wohnten schon lange nicht mehr in der Stadt und kamen sie auch nur selten besuchen. Zumindest an Weihnachten kamen sie nicht, denn da wollten sie lieber nur mit ihren eigenen Familien feiern. Da war kein Platz mehr für die Eltern, die ein wenig spießig und verschroben geworden waren. Langweilig eben. So wie Eltern halt oft werden, wenn sie älter wurden. Doch Agnes und Otto beklagten sich nicht, sie waren sich selbst genug und feierten nur für sich alleine.


    Alles war wie immer: Die Rindsrouladen (traditionelles Heiligabendgericht seit 1960!) schmurgelten im Ofen vor sich hin. Der Tisch war liebevoll gedeckt, der Baum geschmückt, die Geschenke verpackt. Wie alle Jahre wieder gab es einen selbstgestrickten Pullover (Agnes für Otto) und einen robusten Schal mit passender Mütze (Otto für Agnes). Außerdem noch ein paar Kleinigkeiten wie Pralinen und ein wenig exotisches Obst - Dinge, die es aufgrund der schmalen Rente nur zu besonderen Gelegenheiten gab.


    Doch jetzt war es erst einmal Zeit für die Christmette. Darauf freuten sich die Schröders immer ganz besonders.


    Auf dem Weg zur St.-Anna-Kirche herrschte vertrautes Schweigen. Jeder hing seinen Gedanken nach, als plötzlich ein sehr junger und sehr dünner Mann vor ihnen stand und bittend seine Hände entgegenstreckte. Abgerissen und ärmlich sah er aus. Und sehr fremdländisch. Agnes erschrak so über das plötzliche Auftauchen, daß sie Otto wortlos einfach weiterzog. Doch in der Kirche ließ sie der junge Mann nicht los. Wie dünn er gewesen war. Und wie seine Kleidung ausgesehen hatte: die dünne Jacke, die kaputten Schuhe. Agnes bekam während der Predigt des Pastors zum Thema Nächstenliebe ein immer schlechteres Gewissen. Wie konnte sie nur so unfreundlich sein. Sie war sich selbst ganz fremd und schämte sich sehr.


    Nach dem Gottesdienst drängte sie Otto zum Aufbruch ... und zu einem kleinen, nächtlichen Spaziergang. Vielleicht war der Junge ja noch irgendwo da draußen? Sie hatten Glück: ganz in der Nähe der Kirche stand der Junge in einer Hauseinfahrt und suchte dort zitternd Schutz vor der Kälte. Als er sie sah, zog er sich noch ein wenig mehr in die Dunkelheit zurück.


    Doch Agnes hatte einen Entschluß gefasst. Beherzt trat sie auf den jungen Mann zu. „Haben Sie heute schon etwas gegessen? Hunger?“ Der Junge nickte. „Hunger“ schien er verstanden zu haben. Agnes zog ihn am Ärmel zu sich. „Dann kommen sie mal mit!“


    Schweigend marschierten sie nach Hause. Agnes war noch ganz schockiert über ihre eigene Idee. Otto wußte nicht, ob der junge Mann sie überhaupt verstehen würde und der junge Mann war so erschrocken, daß er einfach nur – auf eine warme Mahlzeit hoffend – mitlief.


    Zuhause angekommen, drehte Agnes erst einmal die Heizung hoch und deckte noch einen Teller mehr auf. Vorsichtig beschnupperten sich die Schröders und ihr Gast. Wie es sich herausstellte, konnte er schon ein wenig deutsch sprechen und stellte sich als Hamid vor. Hamid war schon seit einem Jahr alleine in Deutschland und vermißte seine Eltern sehr. In seiner Unterkunft war es voll und laut, daher war er auf den Straßen unterwegs, so oft er nur konnte, um ein wenig Ruhe und Frieden zu finden.


    Beim Essen langte er zu, als hätte er schon seit Tagen nichts mehr bekommen. Agnes staunte über die Mengen, die der junge Mann verputzen konnte und freute sich darüber, daß endlich einmal wieder jemand ihre Kochkunst würdigte.


    Nach dem Essen legten sie Weihnachts- und klassische Musik auf und es entspann sich eine lebhafte Unterhaltung auf deutsch und englisch, so gut es eben ging. Mit Händen und Füßen erzählte Hamid von seiner fernen Heimat und was er alles auf dem Weg hierher erleben mußte.


    Die Schröders hingegen erzählten vom Leben hier und kramten ihre alten Familienfotoalben hervor. Hamid zog sein Handy heraus und zeigte den Schröders Fotos seiner Familie und seiner Heimat. Plötzlich schlug die nahe Kirchturmuhr zur Mitternachtsmette. Erschrocken sah sich das Paar an. Die Zeit war wie im Fluge vergangen und der Bettler vom frühen Abend hatte sich als sehr sympathischer junger Mann erwiesen.


    Inzwischen hatte es begonnen, in dicken Flocken zu schneien. Kurzentschlossen packte Agnes ihre Geschenke, und drängte Hamid, den Pullover anzuziehen und sich mit dem Schal und den Handschuhen gegen die Kälte zu wappnen. So ausstaffiert machte Hamid sich auf den Heimweg – zusammen mit einer Tupperdose voller Essensreste, den Pralinen, dem Obst und der Einladung, sich am 2. Feiertag zu einem gemeinsamen Abendessen wieder bei den Schröders einzufinden.


    Glücklich gingen die Schröders zu Bett. Seit die Kinder aus dem Familiennest ausgeflogen waren, hatten sie nicht mehr so einen wunderschönen Abend gehabt. Vielleicht ergab sich aus dieser Zufallsbegegnung ja noch mehr. Sie konnten es kaum erwarten, das herauszufinden.

  • Der 4. Dezember von Paradise Lost



    Verflixt, verkekst und Halleluja!


    Klara lehnte sich zurück und rieb sich langsam über die müden Augen. Sie besah sich das Bild, das sie anklagend anzublicken schien. Sie hatte ja wirklich vorgehabt, heute ein großes Stück weiterzukommen, aber dann... Die Arbeit hatte heute wieder länger gedauert, dann hatte sie auf dem Heimweg noch ein paar Besorgungen zu machen, außerdem für eine Freundin noch etwas vom Arzt abholen müssen, da diese selbst nicht hinkonnte. Sie hatte am Vormittag ganz fest und voller Energie geplant was sie heute Abend noch machen wollte. Ja, wenn sie mit dem Bild gut vorankommen würde, könnte sie ja auch noch ein wenig die Wohnung schmücken. Damit man auch sehen konnte, dass es langsam auf Weihnachten zuging. Und dann war sie schließlich schon wieder völlig kaputt, als sie zu Hause ankam. Sie machte sich etwas zu essen und dann saß sie auf dem Sofa und hatte das Gefühl, dass sie vor Müdigkeit kein Glied mehr rühren konnte. In letzter Zeit kam das immer öfter vor. Und dabei war jetzt doch die schönste Zeit des Jahres. Sie seufzte noch einmal tief. „Naja, vielleicht ja morgen.“, versuchte sie sich und das Bild zu vertrösten, an dem sie nun schon so lange bastelte. Damit machte sie sich bettfertig und ging schlafen.


    „Ist sie weg?“ „Ja, die Schlafzimmertür ist zu.“ Eine kleine Hand erschien am Tischrand, dann eine zweite, und schließlich ein kleiner Kopf mit verstrubbelten blonden Locken, blitzenden braunen Augen und einem breiten, freundlichen Lächeln. Dem Lächeln fehlte ein einzelner Zahn, ganz vorne, denn Kiki verlor gerade ihre Milchstraßenzähne.

    Kiki war ein kleiner Hilfsengel. Und das im wahrsten Sinn des Wortes. Sie war gerade einmal so groß wie eine Hand lang war. Neben ihr erschien eine zweite Gestalt, kleiner noch als Kiki selbst. Etwas rundlich, ein bisschen gold-bräunlich (an den Rändern dunkler als in der Mitte) und mit einem verdrießlichen Blick. „Nun komm schon Keks, bummel doch nicht so rum!“, rief Kiki ihrem Freund zu. „Jaja, nur keine Eile...“ Kiki war inzwischen vollends auf den Tisch geklettert und betrachtete mit gerunzelter Stirn das, was Klara zurückgelassen hatte. Die Szenerie zeigte, oder genauer, sollte einmal zeigen, eine Menge verschiedener Tiere, die sich in einer verschneiten Landschaft um eine Futterkrippe versammelt hatten. Die Aufgabe von Hilfsengeln war es, den Menschen ein kleines bisschen unter die Arme zu greifen und vor allem zu dieser Zeit richtige Weihnachtsstimmung zu verbreiten. Kein einfacher Job, gerade heutzutage. Kiki war ja noch ganz am Anfang ihrer Ausbildung – Besoldungsstufe Sternchen 1, Abteilung Halleluja zwo – aber sie war voller Feuereifer dabei. Nichts machte ihr mehr Freude, als zu sehen, wie die Augen der Menschen strahlten, nachdem sie ihnen (natürlich im Geheimen) geholfen hatte. Wenn diese ganz besondere Wärme die Herzen erreichte und sie endlich tief im Inneren verstanden.


    Bei einem ihrer Besuche bei den Menschen vor ein paar Jahren, hatte sie Keks kennengelernt. Er war halb hinter einem Schränkchen verborgen gelegen, hinter das er beim Einräumen der Plätzchendose gefallen war. Erst einmal hatte er viel geschimpft und gewettert und Kiki dachte, dass das aber gar kein freundlicher Zeitgenosse war. Schließlich hatte sie jedoch begriffen, dass er ja eigentlich doch einen... nun ja... weichen Keks hatte. Und das er eigentlich nur deshalb so viel schimpfte, weil man ihn beim Einlagern der Plätzchen schmählich aussortiert hatte. Keks war an den Rändern nämlich etwas verbrannt und sah daher nicht ganz so schön aus, wie die anderen, perfekt gelungenen Plätzchen. Das machte ihn ein bisschen bitter. Eigentlich hatte Keks ja auswandern wollen, hatte er Kiki erklärt, nach Amerika. Oder nach Lummerland. Oder vielleicht auf den Mond. Je nachdem, wo die nächste Bahn eben hinfuhr. Er hatte schon alles geplant. Als Kiki ihm den Gegenvorschlag gemacht hatte, sie bei ihren Aufgaben zu begleiten, hatte er ganz kurz nachgedacht um dann brummelig zuzustimmen. „Ist wohl besser, wenn jemand auf dich aufpasst, so schusslig wie du bist.“


    Seitdem hatten sie schon das eine oder andere gemeinsam erlebt, und Kiki wollte Keks nicht mehr missen. Während Kiki nun also Klaras halbfertiges Fensterbild aus Tonpapier betrachtete, warf Keks einen verächtlichen Seitenblick zum Plätzchenteller. „Uniforme Idioten...“ „Keks nun sei doch nicht so. Klara hat leider so wenig Zeit, dass sie dieses Jahr noch nicht einmal selbst Plätzchen backen konnte. Nur ein paar beim Bäcker kaufen. Und an diesem Bild...“, sie deutete darauf, „ bastelt sie nun schon das dritte Jahr und ist immer noch nicht fertig, weil sie abends immer so müde ist, die Arme. Wenn das so weitergeht, verschwindet es am Ende noch in irgendeiner Schublade wo es verstaubt oder verknickt und dann ganz vergessen wird.“ Keks kam näher an das Fensterbild heran. „Naja, ein großer Verlust für die Kunstwelt wäre es nicht.“ Kiki beschloss, den sauertöpfischen Kommentar zu überhören. „Ich weiß was wir machen! Wir machen das Bild heute Nacht für sie fertig! Wie in dem Märchen von den Heinzelmännchen!“ „Heinzel... was?“ „Na diese kleinen Helfer, oh das wird bestimmt ganz wunderbar!“ Kiki tanzte vor Vorfreude schon im Kreis. „Ich sehe es richtig vor mir, wie Klara morgen früh aufsteht, sich verwundert die Augen reibt, weil sie glaubt, sie würde noch träumen, aber NEIN dieses unwahrscheinlich wunderschönste aller Fensterbilder ist fertig und es gehört ihr!“ juchzte sie. „Vorsicht!!!“ Gerade noch konnte Keks Kiki am Flügelzipfel festhalten, bevor sie vor lauter Dreherei von der Tischkante gestürzt wäre. „Oh verflixt!“ „Pass doch auf, wenn du hier herumhopst wie eine Rogglmadam. Immer diese Ausbrüche von unangebrachter Fröhlichkeit. Und überhaupt, wie willst du das denn machen, hm? Da ist noch so viel übrig, bis wir das geschafft haben, ist die Nacht doch dreimal rum. Außerdem steht die gute Frau sehr früh auf, da bleibt ja noch weniger Nacht übrig. Du...!“ Der Rest ging in unverständlichem Gebrabbel unter, da Kiki einfach die Hand vor Keks‘ Mund gehalten hatte. „Nun sei schon still! Je länger du hier herumlamentierst, desto weniger wird die Zeit, grumpy old Keks. Also, auf auf, frisch ans Werk!“


    Mit diesen Worten krempelte Kiki ihre Ärmel hoch, griff beherzt zur Bastelschere und kommandierte Keks dazu, den Flüssigkleber zu übernehmen. Und auch wenn er es natürlich niemals zugegeben hätte, nach kurzer Zeit machte ihm das Basteln genau so viel Spaß wie Kiki. Sie waren wirklich sehr fleißig. Einige der noch fehlenden Teile hatte Klara bereits auf Tonpapier aufgezeichnet, aber andere mussten erst aufgemalt werden. Mit großer Konzentration und zwischen den Lippen hervorgepresster Zungenspitze führte Kiki den Bleistift um auch sauber zu arbeiten. Immer, wenn sie ein Teil fertig hatte, übergab sie es an Keks, der inzwischen selbst schon mit mehreren Klebefäden dekoriert war. Als Kiki schließlich fertig war, drehte sie sich zu Keks um, der eben gerade das letzte von ihr ausgeschnittene Teil festklebte. Aber da wurden Kikis Augen immer größer. „Keks! Was hast du denn da gemacht?!“


    Doch noch bevor Keks Zeit hatte zu antworten, hörten sie, wie die Schlafzimmertür geöffnet wurde und so mussten sie sich beeilen ein Versteck zu finden. Sie hatten vor lauter Freude am Basteln die Zeit völlig aus den Augen verloren. Schnell huschten sie hinter die schwere Übergardine. „Oh verflixt verflixt...“ jammerte Kiki leise vor sich hin. Besorgt betrachtete sie Klara, die verschlafen um die Ecke geschlurft kam, stutzte, und dann – wie von Kiki vorausgeahnt – erst mal ihre Augen rieb. Jetzt, jetzt würde es gleich passieren. Sie würde wütend werden. Oder vielleicht sogar sehr traurig, was sogar noch schlimmer wäre. Wieso hatte dieser Keks nur nicht... Da schrak Kiki zusammen. Klara... lachte. Sie lachte laut und herzlich, ja sie lachte so sehr, dass ihr schon die Tränen kamen und sie sich auf das Sofa fallen lassen musste. „Ein... ein Igel mit Eichhörnchenschwanz!“, kicherte sie, „eine Meise mit Eichelhäherkopf und das Reh hat Streifen.“ Sie schüttelte immer wieder lachend den Kopf. Kiki wunderte sich. War Klara denn gar nicht wütend auf sie, weil sie ihr schönes Bild durch wilde Zuordnung der fehlenden Teile kaputtgemacht hatten? Dass all die Arbeit umsonst gewesen war? Stattdessen war ein rosiger Schein auf ihren Wangen, die Augen glänzten und sie strahlte so viel Lebensfreude aus wie schon lange nicht mehr.


    Schließlich erhob Klara sich, rieb sich noch einmal die Augen – diesmal um die Lachtränen fortzuwischen - und blickte sich suchend im Raum um. Sie konnte niemanden sehen, aber sie wusste, sie fühlte ganz einfach und ganz fest, dass jemand hier gewesen war, der ihr eine Freude machen wollte. Jemand, dem es nicht egal war, wenn sie müde herumsaß und sich von der Traurigkeit davontreiben ließ. Nun, wenn es diesem jemand nicht egal war, dann sollte es ihr selbst doch auch nicht egal sein, oder? Sie beschloss, am heutigen Tag eher aus der Arbeit nach Hause zu gehen, Überstunden hatte sie mehr als genug. Dann würde sie die schöne weiße Lichterkette aus dem Keller holen und ans Fenster hängen. Dieses Licht erinnerte sie immer so sehr an ihre Kindheit und alleine von der Erinnerung wurde ihr ganz warm ums Herz. Das Fensterbild würde einen Ehrenplatz bekommen, von der Lichterkette umrahmt. Und danach, würde sie sich einen Tee machen, eine Kerze anzünden und mal wieder ein gutes Buch lesen. Wie lange hatte sie das nicht mehr gemacht? Sie lächelte voller Vorfreude, denn sie wusste, heute würde sie nichts davon abhalten. Sie verneigte sich leicht in den Raum hinein. „Vielen Dank Heinzelmännchen oder was immer ihr seid. Es ist vielleicht nicht so geworden wie auf dem Foto, aber es ist trotzdem wunderschön.“


    Als Klara ins Bad gegangen war kam Kiki, sprachlos aber glücklich, hinter der Übergardine hervor. „Verstehst du das...?“ Keks kam hinter ihr her gewatschelt. „Nein. Lass uns gehen. Menschen sind seltsam.“

    Und damit machten sie sich auf, zu ihrem nächsten Auftrag.



    - ENDE -

  • Der 5. Dezember von Marlowe



    Nikolaus und sein Versprechen


    Also meine Lieben, da bin ich nun wieder. Gott sei Dank bin ich es, denn beinahe wäre der heutige Tag nur ein schwarzer Eintrag im Kalender geworden. Aber ich bin tatsächlich nur hier, weil ich ein Versprechen abgeben musste und wie Ihr alle wisst, ein Versprechen muss man auch halten.


    Letzte Nacht war wohl die aufregendste meines bisherigen Seins, Ihr könnt morgen ja die Eule arter fragen, ob ihm etwas derartiges aus meiner Historie bekannt ist. Kurz vor Mitternacht gab ich meinen fleißigen Helfern, den Elfen, Wichteln, Kobolden und natürlich auch etlichen Engeln den wunderbaren Satz zu hören, dass das Werk endlich für dieses Jahr vollbracht sei und Schnurch, der Oberkobold, nun das Nikolausportal öffnen solle, damit wir vom Nordpol aus auf große Geschenkeverteilertour gehen konnten.


    Alle jubelten und freuten sich und Schnurch stolperte, wie jedes Jahr um vergebliche Eleganz bemüht, zum Portal. Kurz bevor er den Riegel entfernte, wurde es ganz ruhig in unserer wunderschönen Geschenkeverpackungshalle. Dies war ein heiliger Augenblick für uns alle und, ja und dann, dann war alles auf einmal ganz anders.


    Denn in diesem wundervollen Augenblick hörten wir vor dem Portal hunderte Stimmen singend, grölend, ja schreiend immer wieder das Gleiche lauthals brüllend: „Ich möchte kein Eisbär mehr sein, im warmen Polar, denn jetzt muss ich immer schreien, nichts ist mehr klar, Eisbären wollen nicht mehr weinen, Eisbären wollen nicht mehr weinen!“


    Schnurch zögerte, aber die Rentiere waren schon unruhig und zerrten und wollten hinaus und überhaupt, Zeitverzug konnten wir uns alle gar nicht leisten, also nickte ich ihm zu. Schnurch zog den Riegel aus den Halterungen und öffnete das Portal.


    Auweia, kann ich da nur sagen. DAS war ein Anblick, den ich so schnell nicht mehr vergessen werde. Maximus, der riesige Eisbärenanführer, stand hochaufgerichtet vor Schnurch und versperrte den Ausgang. Neben und hinter ihm standen dichtgedrängt hunderte Eisären und versperrten den Gang ins Freie.


    Schlagartig hatte das Gegröle aufgehört als das Portal weit offen war und Maximus schaute mich herausfordernd an. Seine Augen blitzten und sahen mich wütend an.

    „Nikolaus, Du kummst hier nicht raus“, brummte er und an diesem Brummen merkte ich, wie ernst es ihm war.


    „Maximus, mein lieber Max,“ erwiderte ich, „was ist denn los? Was soll dieser Protestauflauf und warum gerade jetzt?“ Die Rentiere scharrten mit den Hufen, sie wollten los, ich zog an den Zügeln, so fest ich nur konnte. Nicht auszudenken, was geschehen würde, wenn sie plötzlich versuchten, über die Eisbärenmeute hinweg zu stürmen.


    Maximus ließ sich auf seine Vorderpfoten fallen und nun blickte er mir direkt in die Augen. „Wir lassen weder Dich noch Deine Helfer hier raus, nie wieder, hörst Du, nie wieder. Wir leben seit sechshunderttausend Jahren hier und immer war alles schön und gut und im Einklang mit allem. Aber dann bist du plötzlich mit Deinen Helfern hierhergezogen und ihr verpackt Geschenke, die ihr aus aller Welt bekommt um sie dann wieder wegzubringen um angeblich Freude zu schenken.

    Aber seit ihr das macht, hat sich alles hier verändert, erst langsam und nun immer schneller. Das Eis schmilzt, es wird wärmer, dicke Touristen kömmen in Scharen, bestes Futter eigentlich, aber wir dürfen sie nicht fressen. Wir dachten, sie kämen als Ersatz dafür, dass wir immer weniger Robben fangen, aber nein, sie schießen auf uns. Hörst Du, sie schießen!“


    Er brüllte so laut, dass es in der Halle nur so vibrierte, die Engel schmiegten sich an die Wichtel vor Furcht und die Kobolde zogen ihre Mützen über die Gesichter, sonst frech wie Oskar, jetzt aber bibbernd vor Angst, Eisbärenfutter zu werden.


    „Aber Maxilein, das ist nun mal der Lauf der Zeit, alles verändert sich. Ich werde bald auch nicht mehr mit meinem Schlitten umherreisen, sondern mit Gleitbrettern statt Kufen fliegen. So ist das nun mal.“


    „Keine Sorge, das wird nicht passieren, Nikoläuschen, denn Du kummst hier nicht raus, Basta!“ Er zog lief die Luft ein und schimpfte weiter. „Alle wollen immer mehr Geschenke da draußen in der Welt. Alle Menschen, Kinder und Erwachsene, haben das Maß der Dinge verloren, wir hier sind die Leidtragenden. Das muss aufhören, sofort – und deshalb kummst du hier nicht raus!“


    Ein Ausweg musste her, ich bin ja bekannt für meine Schlagfertigkeit, früher mit der Rute, heute natürlich nur mit Worten und mir fiel etwas ein.


    „Pass mal auf, Maximusileinchen,“ ich zog nun alle Register meiner rhetorischen Fähigkeiten, „ich verspreche Dir, wenn du uns nun doch noch mal hinaus in die Welt zum Freude verteilen lässt, dann werden wir alle den Menschen davon erzählen und berichten und sie ermahnen, damit sie endlich wieder zur Vernunft kommen und das Ruder nochmal herumreißen. Wenn wir es ihnen sagen, dann hören sie bestimmt auf uns, wir haben schließlich noch einiges an Gewicht bei den Menschen. Und das Christkind kann in ein paar Wochen auch noch einiges bewirken, was hältst Du davon? Du bist doch ein Realist, Maxist, äh, Maximus, Du wirst sehen, dann wird es wieder besser werden.“


    Mir stand der Schweiß auf der Stirn, Maxismus dachte nach, lange, doch als es hinter ihm unruhig wurde, hatte er sich entschieden. „Also gut, Niko, zieht los und bringt Freude, aber dann bitte auch für uns. Berichte diesen Unersättlichen, was ihre Gier bewirkt und wie sehr wir alle darunter leiden. Aber wehe, es ändert sich nichts, dann werden sie uns kennenlernen. Ach ja, und Du auch!“


    Er dreht sich um und rief grollend: „Ihr habt es gehört, letzter Versuch, also bildet eine Gasse, damit sie herauskönnen!“ Die Eisbärmeute gehorchte ohne Widergrollen und wir stürmten an ihnen vorbei und hinaus ins Freie, hinauf in den wolkenlosen Himmel und nun, ja, nun bin ich hier und berichte davon, wie versprochen.


    Gut möglich allerdings, dass wir uns das letzte Mal nun gesehen haben, denn ich weiß nicht, ob mir der Große Meister eine andere Halle in Afrika oder wo auch immer zuweisen wird, ich fürchte eher nein. Also, nehmt das ernst, was ich Euch erzählt habe, für Euch, Eure Kinder, aber auch für mich und meine Helfer und natürlich, ganz besonders für die Eisbären.

  • Der 6. Dezember von arter



    Das Erscheinen des Nikolaus


    Liebe Büchereulen, vielleicht habt ihr schon auf meinen alljährlichen Gruß gewartet, den ich euch üblicherweise am Vorabend meines Namenstages überbringe. Leider war der gestrige Tag mit den Vorbereitungen der Segensspende so ausgefüllt, dass ich erst jetzt, nach vollbrachter Arbeit, dazu komme, diese liebgewordene Tradition fortzusetzen.


    Zunächst möchte ich die Gelegenheit ergreifen, all jenen unter euch zum Ehrentag zu gratulieren, die meinen Namen teilen, seiet ihr nun tatsächlich auf Nikolaus, oder Niklas, Nico oder Nick, Klaus oder Klaas oder nach einer anderen der zahlreichen Varianten meines Namens getauft worden.Vielleicht klingt es etwas selbstgefällig, doch im Grunde verdankt ihr euren Namen der Popularität der Legenden, welche sich im Verlaufe der Jahrhunderte um meine Person rankten.


    Und da sind wir auch schon beim Thema. Im vergangenen Jahr hatte ich euch berichtet, wie die Feldherren Nepotionos, Ursus und Eupelio Zeuge einiger meiner Wunder geworden waren und voller Lobhudeleien über meine Taten Myra verließen, um die gute Nachricht über die erfolgreiche Mission in Phrygien nach Byzanz zu tragen. Natürlich auch, um vom Kaiser angemessen entlohnt zu werden, und vielleicht sogar einen Triumph gewährt zu bekommen.


    Ich hätte es den dreien wirklich gegönnt, auch wenn sie wahrlich allesamt einfältige Tröpfe waren. Schließlich trugen sie die Kunde über die Wunder, die in Myra geschahen, in die benachbarte Provinzen und am Ende sogar bis in die kaiserliche Metropole. Bereits in den ersten Wochen nach ihrem Aufbruch trafen Pilger und Wallfahrer in Myra ein, die sich eine Berührung oder eine Segnung von meiner Hand erhofften, um von allem möglichen Leiden geheilt zu werden oder anderweitige Glücksegnungen zu empfangen. Leider ließ mein enger Terminplan es nicht zu, sie alle einzeln zu beglücken, aber ich entwickelte in jener Zeit eine gewisse Routine in der Disziplin der Massensegnung. Die öffentlichen Messen entwickelten sich zu wahrhaften Spektakeln, welche mit Gottes Hilfe auch das eine oder andere Wunder hervorbrachten. Auch wurden talentierte Darsteller engagiert, die mit großer Überzeugungskraft während der Segnungen das Gehen oder Sehen wiedererlernten. Die Stadt erlebte einen wahren Aufschwung, die Menschenansammlungen zogen allerlei Handel und Gewerbe an und die Truhen des Stadtkämmerers füllten sich.


    Es waren einige Monate ins Land gegangen, da besuchte mich mein alter Freund Alexandros, der mir wie üblich den neuesten Tratsch aus der Metropole berichtete:

    „Teurer Freund Nikolaos,“ hub er an, „Byzanthia ist ein gefährliches Pflaster geworden seit Flavius Ablabius Prätor geworden ist. Überall Verrat und Intrige. Hätte ich nicht beste Verbindungen in den Kaiserpalast, ich wäre schon längst abserviert worden.“ Nachdenklich zwirbelte er seinen Bart.


    Dann erzählte er mir von diesem durchtriebenen neuen Prätor, der sich in die Gunst des Kaisers eingeschlichen hatte. In kurzer Zeit habe dieser mit einem Heer von Spitzeln und Ganoven die Aristokratie verunsichert. Er schmeichele dem Basileius wo es nur ginge und Konstantin sähe sich schon als der Gott auserwählte größte Imperator aller Zeiten, der selbst Cäsar und Augustus in den Schatten stellte. Aus dem guten altem Byzanthia sei ein wahres Konstantinopel geworden.

    „Sagt mir, lieber Nikolaos“, fuhr er mit einem scheinbaren Themenwechsel fort, „kennt ihr einen Stratelaten namens Eupelio?“. Erstaunt bejahte ich und erinnerte mich an den wohlgenährten Befehlshaber mit dem Sprachfehler, der noch vor kurzem mit seinen Gefährten hier and denselben Tisch gesessen hatte, an dem wir jetzt in diesem Augenblick unseren Weinkrug leerten.


    Alexandros hatte einer Gerichtsverhandlung beigewohnt zu der er als Beisitzer geladen war. Dem Unglückseligen wurde wegen Hochverrats der Prozess gemacht. Dieser habe sich zu sicher gefühlt. Die Phrygien-Expedition wurde zwar zunächst bejubelt und die Heerführer mit Ehren überhäuft, aber langsam habe sich das Blatt gewendet. Eupelio habe sich der Untreue schuldig gemacht, sein Amt missbraucht, um sich zu bereichern. Aber das sei nicht das Ausschlaggebende gewesen, das mache je schließlich jeder. Doch wenn man gleichzeitig in die Missgunst des Prätors geriete wäre es fatal. Am Ende wurde das zögerliche Handeln in Phrygien als Verrat ausgelegt. Ablabius stünde hinter dieser Intrige. Dessen Interessen in Phrygien waren durch den frühzeitigen Friedensschluss zunichte gemacht worden. Eupelio sei zum Tode verurteilt worden, und das gleiche Schicksal wäre für Nepotionos und Ursus vorgesehen. Er, Alexandros, hätte in dem Prozess ebenfalls für das Todesurteil gestimmt. Man könne sich ja nicht vorschnell für eine verlorene Sache aufopfern. Aber er hätte eine Chance gewittert, dem Prätor Paroli zu bieten.


    „Ich bin also nach dem Urteil zu diesem Unglücksraben in den Kerker gegangen und habe ihn befragt“, erzählte Alexandros. „Aber zu meinem Erstaunen war der überhaupt nicht besorgt. Ihr werdet nicht glauben, mit welcher Begründung.“ Alexandros schaute mich an, als müsse ich die Antwort wissen, doch ich hatte keinen Schimmer.


    Also fuhr er fort und schilderte, was der Delinquent im gesagt hatte: „Der Bischof von Myra würde das richten. Er habe keine Angst, weil Nikolaos allen unschuldig Verurteilten zu Hilfe eilen würde. Im Traum habe dieser es ihm versichert und er selbst sei leibhaftiger Zeuge einer solchen Rettungstat geworden. Er würde guten Mutes auf das Schafott steigen, denn er wisse, dass der Myraer ihn retten würde.


    Ich weiß nicht, ob ich dabei vor Verlegenheit rot wurde. Es schmeichelte meinem Stolz, ein solches Vertrauen zu genießen, aber gleichzeitig wurde mir etwas schwummerig, denn der Arme würde seinen Kopf verlieren, ohne je zu erfahren, dass es keine Rettung aus Myra geben würde.


    „Wisst ihr Alexandros,“, sagte ich zu meinem Freund, während dieser einen tiefen Zug Wein in seine Kehle laufen ließ,„wenn man nur irgendetwas tun könnte. Ich würde Myra auf der Stelle verlassen und mich dieser Sache annehmen. Aber der Kaiser ist seit der Geschichte beim Konzil wohl immer noch nicht gut auf mich zu sprechen. Er verleugnet sogar, mich zu kennen, das habt ihr mir selbst gesagt.“


    „Ach mein Bester, ihr stellt euer Licht unter den Scheffel.“, antwortete Alexandros, „wenn einer etwas tun kann, dann Ihr“. Und dann jammerte er mir vor, dass Ablabius‘ Aufstieg seine Position als Strippenzieher der byzanthinischen Unterwelt in Gefahr brächte. „Es geht für mich ums Überleben, Nikolaos“, flehte er mich an.


    Meinen Einwand, dass meine sogenannten Wunder auf billige Tricks und die Leichtgläubigkeit der Menschen beruhten, ließ er nicht gelten. Das sei ihm bekannt, aber das sei ja kein Hindernis, im Gegenteil, das mache die Sache planbar.„Es wird Zeit für das größte deiner Wunder, Nikolaos“, er zwinkerte mir aufmunternd zu. „Und ich weiß auch schon wie“.


    Ich muss verrückt gewesen, seine Idee nicht für völlig hirnrissig gehalten zu haben. Aber seine Beschwörungen führten dazu, dass ich meine Sachen packte, und mich mit ihm unerkannt in seinem Gefolge einschiffte, um an den Bosporus zu segeln. Ich konnte es arrangieren, dass die Segnungen währende meiner Abwesenheit weitergingen, es war schon damals einfach, sich als Nikolaus auszugeben. Denn es war wichtig für das Gelingen des Planes, dass alle Welt glaubte, ich sei in Myra.


    In Alexandros Gefolge befand sich ein Priester, der als Augur an einer Orakelstätte auf Mykonos gewirkt hatte, bevor diese heidnischen Praktiken durch die Strahlkraftdes christlichen Glaubensüberflüssig geworden waren. Ich muss gestehen, dass dieser Priester ein guter Lehrmeister in okkulten Angelegenheiten war. Nicht, dass ich seinen heidnischen Geisterglauben teilte, aber er vermittelte mir den Glauben an die suggestive Kraft von Substanzen und Kräutern, die sich in seinem Besitz befanden und lehrte mich, wie man diese bei der Verrichtung von Wundertätigkeiten einsetzen konnte.


    Der Basileus war ein Freund des Schauspiels. Wann immer ein fahrender Trupp in Byzanthia weilte, ließ er es sich nicht entgehen, sich eine private Vorstellung geben zu lassen. Diese Leidenschaft des Kaisers war das wichtigste Momentum in Alexandros Plan. Mein Freund hatte alles so eingefädelt, dass eine Vorstellung im kaiserlichen Palast stattfinden würde und nur der Herrscher selbst und einige verlesene Gäste, darunter der ParätorAblabius, anwesend sein würden. Alexandros Einfluss im kaiserlichen Umfeld war trotz der wachsenden Macht seines Gegenspielers immer noch recht groß und so konnte er es einrichten, dass die kaiserliche Garde an jenem Abend durch den Genuss berauschender Getränke in ihrer Aufmerksamkeit stark beeinträchtigt war.


    Die Schauspieler selbst hatte er auf seiner Reise zusammengestellt und mir war in den letzten Tagen klar geworden, dass ich der Hauptdarsteller des Spektakels sein sollte. Die Vorstellung begann recht harmlos mit harmonischem Gesang und Tanz. Thematisch war das Stück in der alten Welt der römischen Götter angesiedelt. Der Augur hatte auf der Bühne einen Altar aufgebaut. Auf diesem befand sich ein kleiner tönerner Ofen in welchem ein Feuer entfacht wurde. Bald verbreitete sich wegen der schwelenden Substanzen, die in ihm erhitzt wurden, ein aromatischer Geruch exotischer Essenzen im Saal. Was das Publikum nicht wusste, die Dämpfe vernebelten die Sinne und erzeugten Halluzinationen, wenn man sie ungeschützt einatmete. Deshalb waren wir angehalten, einen Mundschutz zu tragen, der uns vor den Einwirkungen schützte.


    Währenddessen hatte sich das Schauspiel in eine Horrorphantasie verwandelt.Tänzer, gekleidet in furchteinflößenden Vogelkostümen, stellten eine Apokalypse dar, begleitet von zermürbenden Sirenengesängen und einem schrecklich höhnischen Gelächter. Wir beobachteten, wie der Kaiser und sein Gefolge das Geschehen mit angsterfüllten glasigen Blicken verfolgten.


    Nun war es Zeit für meinen Auftritt. In den Augen des Publikums schwebte ich auf einer erleuchteten Wolke über der Kulisse. Währende der Gesang sich in einen Engelschor wandelte, verkündete ich die Botschaft Gottes, die mir, dem Bischof von Myra aufgetragen war, zu verkünden. Wenn die Sünden des Hochmuts und der Raffsucht in der Stadt so weitergingen, wenn es an weiter an Demut und Gottesfürchtigkeit mangeln würde, dann käme ein Strafgericht über das ganze Land. Das Schicksal von Sodom und Gomorrha würde dagegen verblassen, wenn Schwärme von Totenvögeln den Himmel verdunkeln und jegliches Leben vernichten würden, so dass nichts zurückbliebe als eine Wüste übersät mit verwesenden Kadavern.


    Plötzlich wurde der Saal verdunkelt und die Kulisse wurde davongetragen. Ich schlich mich zum Platz des Kaisers, der ganz allein dasaß, und konsterniert vor sich hinstarrte. „Konstantin“, flüsterte ich ihm mit beschwörender Stimme ins Ohr. „Noch ist es nicht zu spät. Gott erwartet ein Zeichen von Euch. Hört auf, verräterischen Ratgebern zu vertrauen und entsendet zum Zeichen eurer Demut die unrechtmäßig eingekerkerten Stratelaten nach Myra. Und vergesst nicht, ihnen Gaben mitzugeben, welche Ihn milde stimmen.“


    Ich hoffte, nicht zu dick aufgetragen zu haben und hatte irgendwie ein ungutes Gefühl, was die Wirksamkeit unserer Schreckensvision anbetraf. Als Bestätigung meiner Zweifel spürte ich plötzlich einen eisernen Griff um mein Handgelenk. „Nikolaos, nennt mir einen Grund, warum ich diesen Mummenschanz nicht auflösen und Euch in den tiefsten Kerker werfen sollte“, zischte mich Konstantin an. Er erschien hellwach und bei vollem Bewusstsein. Der Schreck fuhr mir in die Glieder,aber ich riss all meinen Mumm zusammen:


    „Ihr wisst es selbst am besten Konstantin. Lasst das Volk an die Wunder Gottes glauben, dann wird es auch an Euch glauben.“ Wir blickten uns eine Weile an, wie zwei Ringkämpfer vor dem entscheidenden Wurf. „Macht, dass ihr fortkommt“, zischte Konstantin und sackte in sich zusammen. Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Wir begaben uns mit dem Tross in halsbrecherischer Flucht zum Hafen und stachen in See. Bevor es Beweise für den Aufenthalt des Nikolaos in Byzanthia geben konnte, wollte ich wieder in Myra sein.


    Wider alle Befürchtungen und Ängste, wurde das Wunder, das wir gesät hatten zwei Monate später zur Gewissheit. Nepotionos, Ursus und Eupelio erschienen mit Gold und Geschenken beladen und einer Heerschar Bettler und Pilger im Gefolge in Myra. Sie verkündeten im ganzen Land das, was später als das „Stratelatenwunder“ erzählt werden würde. Zu Gottes ehren stifteten sie im Auftrag Konstantins eine Kirche, die des Kaisers gottergebene Demut für alle Zeiten unter Beweis stellen sollte.


    In diesem Sinne, liebe Freunde: Wunder geschehen nur dann, wenn man an sie glaubt. Eine gesegnete Weihnachtszeit.


    Euer Nikolaus.

  • Der 7. Dezember von Lady Perry



    Für Eilige:
    Die Weihnachtsgeschichte kurz + knapp



    Maria. Josef. Noch daheim.

    Stellen sich auf Nachwuchs ein.


    Augustus. Römer. Zahlenfreak.

    Will wissen, wie viel Leut' es gibt.


    Maria. Josef. Bethlehem.

    Die Reise ziemlich unbequem.


    Herberge eins, zwei und drei.

    Nirgends ist ein Zimmer frei.


    Herberge vier, fünf, sechs und sieben.

    Noch immer kein Bett aufgetrieben.


    Herbergsvater Nummer acht.

    Hat im Stall sie untergebracht.


    Maria. Josef. Mit dem Kind.

    Jetzt ein nettes Trio sind.


    Schafe. Esel. Schweine. Rind.

    Singen im Chor, dazu pfeift der Wind.


    Engel. Himmelsbewohner mit lockigem Haar.

    Verbreiten die Botschaft: Das Baby ist da!


    Hirten. Vernehmen frohe Kunde.

    Kommen herbei und jubeln im Bunde.


    Komet. Strahlt hell am dunklen Himmel.

    Zeigt Morgenländern Weg durchs Getümmel.


    Caspar. Melchior. Balthasar.

    Von weit her gekommen. Nun endlich da.


    Weihrauch. Myrrhe. Allerlei Kram.

    Schleppen die weisen Herren mit an.


    Das Kind in der Krippe. O wie lacht.

    Hat sich direkt in die Windel gemacht.


    Besuch. Verzieht sich daraufhin.

    Mit Pampers & Co. nicht viel im Sinn.


    Die ganze Familie. Wieder zu Haus.

    Darum ist die Geschichte nun aus.

  • Der 8. Dezember von Suzann



    Monzi unter'm Bett!


    Jonah liegt unter seiner warmen Bettdecke und horcht auf jedes Geräusch in seinem Zimmer. Hinter den Rollläden liegt die verschneite Landschaft glitzernd unter dem Vollmond. In Jonahs Zimmer ist es stockdunkel und er kommt sich wie der einsamste Junge der ganzen Welt vor. Wenn er Mama nicht bei sich haben kann, dann will er wenigstens sein Nachtlicht, aber Paps meint, er wäre jetzt ein Schulkind und Nachtlichter wären nur etwas für Kindergartenkinder. Als er es nicht mehr aushält, springt er aus dem Bett, rast so schnell er kann aus dem Raum, durch den Flur ins Schlafzimmer seiner Eltern und hüpft in das große Bett. Natürlich hat Paps ihn trotz des laufenden Fernsehers gehört. Mit strenger Miene kommt er ins Zimmer, nimmt Jonah sanft aber bestimmt auf die Arme und trägt ihn zurück in sein Bett. „Warum ist Mama nicht da?“, stellt er seinem Vater wohl zum hundertsten Mal die gleiche Frage. „Mama arbeitet jetzt in München. Das ist ganz weit weg, Jonah. Da kann sie nicht jeden Tag nach Hause fahren. Übermorgen kommt sie wieder heim“, erklärt Paps geduldig. Dann schließt er mit den Worten - „Jetzt schlaf endlich“ - die Türe hinter sich.


    Am nächsten Tag sitzt Jonah müde im Klassenzimmer und versucht Frau Zimmermann zuzuhören, die gerade einen neuen Buchstaben mit ihnen übt. Seine Gedanken schweifen zu seinem Freund aus dem Kindergarten. Was Benno wohl gerade macht? Bastelt er Weihnachtssterne oder spielt er Parkgarage? Bestimmt hat er den schwarzen „Lambodschini“ genommen, obwohl er genau weiß, dass das Jonahs Lieblingsauto ist. Wieso Benno noch in den Kindergarten gehen darf, während er schon in die Schule muss, versteht Jonah nicht. Nachdem Paps ihn an diesem Tag zu Bett gebracht hat, wälzt er sich unruhig hin und her. Er kann einfach nicht einschlafen, obwohl ihm beim Sandmännchen-Schauen die Augen zugefallen sind. Dieses Mal schreit er, als Paps ihn wieder in sein Bett zurückbringt: „Ich will mein Licht, ich will mein Licht, ich will Mama, Mamaaaaa!“ Sein Körper wird von Schluchzern geschüttelt, als Paps ihn zudeckt, ihm einen Kuss auf die Stirn gibt und meint: „Du bist jetzt ein großer Junge, da braucht man kein Schlaflicht mehr.“ Als sich sein Atem endlich beruhigt, tönt Paps‘ laute Stimme durch die Türe: „Schuld … verzärtelt ... Scherereien“. Und dann hört er es! Ein leises Grunzen. In seinem Zimmer ist jemand! Und es ist nicht Paps, der telefoniert gerade nebenan. Schnell zieht Jonah sich die Decke über den Kopf und bleibt mucksmäuschenstill liegen. Wenn er sich nicht rührt, dann findet ihn das Monster bestimmt nicht.


    Tags darauf geht er mit Paps nach der Schule in eine Kletterhalle. Er soll jetzt regelmäßig dort an den Kletterwänden üben, meint Paps. Es sind noch andere Kinder da, auch Paula, die in der Klasse vor ihm sitzt. Obwohl er sie ganz nett findet, hat er noch nie mit ihr geredet. Sie übt mit ihm an einer Wand, wo die Griffe nah genug zusammenliegen, dass sie sie mit ihren kurzen Armen erreichen können. Mit Helm und Klettergurt sehen sie ziemlich witzig aus, findet Jonah. An seinem Gurt ist ein Seil befestigt, das Paps in der Hand hält. Einmal rutscht Jonah ab und baumelt an dem Seil von der Decke. Es ist schon dunkel, als sie sich auf den Heimweg machen. Er muss an das Monster denken, das in seinem Zimmer auf ihn wartet. „Darf ich heute ausnahmsweise bei dir schlafen, weil ich so toll geklettert bin, Paps?“ Sein Vater seufzt genervt. „Nein, Jonah, du schläfst in deinem eigenen Bett.“ Diese Nacht hört Jonah ganz deutlich leises Schnarchen unter ihm. Nachdem er zum dritten Mal ins Wohnzimmer gelaufen ist, verspricht Paps, dass das Christkind ihm eine Legoburg bringen wird, wenn er endlich liegen bleibt.


    Am folgenden Abend kommt Mama nach Hause und er darf bei ihr schlafen. Sie kaufen einen Tannenbaum und stellen ihn auf den Balkon, dann dekorieren sie die Wohnung mit Lichtern und festlichen Girlanden. Gemeinsam mit Oma backen sie Plätzchen und er darf Benno besuchen. Das Wochenende geht viel zu schnell vorbei und dann muss Mama wieder fahren. Jede Menge Tränen kullern beim Abschied über Jonahs Wangen. Später liegt er in seinem Zimmer und lauscht in die Dunkelheit. Er hat heimlich Paps‘ Taschenlampe mitgenommen. Alles ist still. Vorsichtig schiebt Jonah seinen Kopf über die Bettkante, rutscht weiter nach vorne, bis sein Kopf über den Boden baumelt, und leuchtet unter das Bett. Das Licht der Taschenlampe fängt sich in einem schwarzen Augenpaar. Erschrocken quiekt Jonah auf, lässt die Lampe fallen und krabbelt schnell unter sein Bettzeug. Irgendwann beruhigt sich sein Herz und er schläft ein.


    Tagsüber ist Jonah blass und in sich gekehrt. Paps denkt, er brütet eine Erkältung aus. In der nächsten Nacht wehrt er sich mit Händen und Füßen, aber es hilft nix. Er muss in sein Bett, ohne Licht. Er kann nicht einschlafen. Wenn das Monster nun unter seinem Bett hervorkriecht? Ihn packt? Ob Paps schnell genug da ist, wenn er schreit, bevor ihn das Monster fressen kann? Jede Nacht schnarcht das Monster und Jonah liegt schwitzend unter seiner Zudecke, ohne sich zu rühren, bis er irgendwann einschläft. Eines Abends bleibt es ruhig und Jonah traut sich mit seiner Bettdecke ins Bad zu schleichen. Er legt sich in die Badewanne, aber Paps findet ihn beim Zähneputzen und trägt ihn zurück.


    Noch fünfmal schlafen und dann ist Weihnachten. Mama wird die ganzen Ferien über zu Hause sein. Darauf freut er sich. Wieder liegt er da und umklammert fest die Taschenlampe. Leises Rasseln ertönt unter seinem Bett, dann ein Pups. Ein Pups? Monster pupsen?! Jonah kann nichts dagegen machen, er muss lachen. Da spürt er, wie sein Bett sachte ruckelt. Als er über den Bettrand nach unten späht, schaut ihn das Monster erwartungsvoll an. Ein zotteliger Kopf lugt unter dem Bett hervor, mit runden Ohren und einer rosa Knollennase. Vorsichtig streckt Jonah seine zitternde Hand aus, um das blaue Fell vorsichtig zu berühren. Eine lange Zunge schnellt aus dem Mund und schleckt ihm über die Hand. „Frisst dudu mich jetzt?“, stottert Jonah. Das Monster kichert nur. Und so kommt es, dass Jonah und das Monster fast jede Nacht miteinander spielen. Jonah nennt es Monzi. Manchmal lässt er Monzi auf seinen Schultern reiten. Einmal hätte Paps sie beinahe erwischt, weil sie zu laut waren. Monzi konnte gerade noch unter dem Bett verschwinden.


    In der Schule wird Jonah von Frau Zimmermann getadelt, dass er beim Schreiben nicht herumklecksen soll. Versonnen betrachtet Jonah die blauen Pfotenabdrücke auf seinen Händen und gähnt. Die kurzen Nächte machen Jonah müde. Paps wird in die Schule bestellt, weil Jonah im Unterricht immer wieder einschläft. Frau Zimmermann erkundigt sich nach Jonahs Schlafgewohnheiten und erteilt gut gemeinte Ratschläge. Paps ist am Ende mit seinem Latein. So schwierig hatte er sich das nicht vorgestellt, unter der Woche alleine für Jonah zu sorgen. Schließlich ruft er bei Oma an und fragt um Rat.


    Endlich ist Weihnachten da. Mama ist schon seit ein paar Tagen zu Hause. Sie hat Urlaub. Oma ist auch da. Jonah fühlt sich geborgen. Abends gibt es sein Lieblingsessen, Würstchen im Schlafrock. Das Christkind bringt ihm wirklich eine Legoburg. Seit er Monzi kennt, hat Jonah keine Angst mehr im Dunklen und bleibt brav in seinem Zimmer. An diesem Abend darf Jonah aber lange aufbleiben. Irgendwann bringt ihn Oma dann doch ins Bett und da kommt Paps noch einmal ins Zimmer. Er reicht ihm ein weiteres Päckchen vom Christkind. Erstaunt macht Jonah es auf und findet eine dunkle Kugel mit Kabel darin. Oma löscht das Deckenlicht und Paps steckt das Kabel in die Steckdose neben Jonahs Nachttischchen. Im Zimmer leuchtet ein Sternenmeer auf. „Die darfst du jede Nacht anmachen, Jonah“, verspricht Paps und zwinkert Oma zu.


    Solange Mama Urlaub hat, macht sie jeden Abend den Sternenhimmel an und beim Betrachten schläft Jonah friedlich ein. An Monzi denkt er nur selten und der lässt sich auch nicht blicken. Dann sind die Ferien vorbei und Mama ist wieder weg. Heute macht ihm Paps die Sterne an, aber er kann trotzdem nicht einschlafen. Mama fehlt ihm. Monzi fehlt ihm. Er leuchtet unter das Bett - keiner da. Als Paps ins Zimmer schaut und ihn wach vorfindet, holt er das Buch, das das Christkind Jonah gebracht hat. Sie kuscheln und Paps liest ihm die Geschichte von einem rostigen Ritter vor. Noch vor dem Ende fallen Jonah die Augenlider zu.


    Am Mittwoch sprechen sie in der Schule über Gefühle und Frau Zimmermann fragt die Kinder nach einem Erlebnis, das sie sehr traurig oder sehr froh gemacht hat. Jonah muss dabei an Monzi denken. Wo sein blauer Freund wohl steckt? In der Bank vor ihm streckt Paula den Arm noch oben und meldet sich. Jonah entdeckt Flecken auf ihrem Handrücken, die aussehen wie kleine Pfoten. Also da treibt sich Monzi herum! Paula erzählt, dass ihr Opa in den Ferien gestorben ist und dass sie das sehr traurig macht. In der Pause sieht Frau Zimmermann Paula und Jonah zusammen reden und spielen. Sie freut sich, dass nun auch die beiden ruhigsten Kinder in der Klasse endlich Anschluss gefunden haben.

  • Der 9. Dezember von breumel



    Rache ist Ketchup


    Letzter Samstag im November


    Es ist ein kühler, aber sonniger Tag. Ich entschließe mich, das trockene Wetter zu nutzen und die Weihnachtsbeleuchtung anzubringen. Muss ja nicht sein, dass ich mir bei Nieselregen und Kälte am ersten Dezember die Finger abfriere. Was hängt, das hängt.

    „Herr Nachbar? Sie wissen schon, dass morgen Totensonntag ist, und dass das ein stiller Feiertag ist? Aber sie wollen die Lichterketten ja noch nicht einschalten, nehme ich an.“

    Frau Eberle, meine Nachbarin. Alles im Blick, alle im Griff. Ihrem scharfen Blockwart-Blick entgeht nichts, und ihrem noch schärferen Mundwerk keiner.

    „Nein, Frau Eberle.“ Du hast Recht und ich meine Ruhe …


    Erstes Adventswochenende


    Der ganze Tag war schon eiskalt. Aber es kommt noch schlimmer: Es fängt an zu nieseln. Ich will nur kurz den Müll raus tragen, da setze ich mich unfreiwillig auf den Hintern. Auf dem gefrorenen Boden hat sich teilweise eine dünne Eisschicht gebildet. In der Garage ist Sand, den ich großzügig verteile. Jetzt ist der Gehweg wieder sicher, nur eine Stelle, an der schon vorher eine Pfütze war, bleibt rutschig. Auf der glatten Eisfläche hält nicht, kein Sand, kein Split. Seufzend greife ich zum Streusalz, damit sich niemand das Bein bricht.

    „Herr Nachbar? Das ist doch nicht etwas Streusalz? Ist das denn nicht verboten? Und die armen Hunde verätzen sich doch die Pfoten!“

    Frau Eberle steht hinter mir, ihren Hund vom Typ Taschenratte auf dem Arm. Wie diese Person es immer wieder schafft, sich so unbemerkt anzuschleichen, werde ich nie begreifen.

    „Frau Eberle, sie können sich ja Schlittschuhe anziehen, aber ich möchte nur ungern noch einmal stürzen. Und ihren Hund tragen sie doch sowieso durch die Gegend. Schönen Abend noch!“

    Entrüstet sieht sie mich an, aber hält Gott sei Dank den Mund. Ich habe nachgesehen: Bei Eisregen darf ich ausnahmsweise Salz einsetzen. Nur für den Fall, dass sie wiederkommt.


    Zweites Adventswochenende


    Samstagmorgen, 7:30 Uhr. Gestern auf dem Weihnachtsmarkt war es spät geworden und ich genieße das Ausschlafen. Das heißt, ich würde es genießen, wenn nicht seltsame Kratzgeräusche in meinen Traum gedrungen wären. In banger Vorahnung steige ich aus dem Bett und ziehe den Rollladen hoch: Es hat geschneit. Draußen ist Herr Häberle dabei, unter den strengen Blicken seiner Frau den Gehweg freizuräumen.

    Ich ziehe mir etwas über, mache mir eine schnelle Tasse Kaffee und gehe hinaus. Mit der Schneeschaufel in der Hand fange ich an, ebenfalls einen Streifen für die Fußgänger freizulegen. Als ich denke, dass ich fertig bin, räuspert sich jemand hinter mir.

    „Herr Nachbar? Da müssen sie sich aber beeilen, bis 8 Uhr muss der Gehweg freigeschaufelt sein. Und sie haben ja erst die Hälfte. Mindestens 1,50m muss geräumt werden!“

    Wie die Herrin, so’s Kehrgeschirr …

    „Ja, Herr Eberle. Dann wäre es wohl am besten, wenn sie mich nicht aufhalten.“

    Er scheint sich nicht ganz sicher zu sein, ob ich das ironisch gemeint habe, aber Herr Eberle zieht von dannen. Und ich fange an, den ganzen Gehweg erneut abzulaufen und auch den Rest des Bürgersteigs freizuschaufeln …


    Drittes Adventswochenende


    Die Straßen sind tief verschneit. Nur der Bürgersteig in unserer Straße ist brav 1,50m breit geräumt. Leider hat es ab und an etwas getaut, so dass sich auf der Fahrbahn breite eisige Rinnen gebildet haben. Jedes Auto, welches zu schnell hindurch fahren will, wird von ihnen unbarmherzig wieder zurück in die eisigen Spuren gezogen. Dort, wo die Autos um ein Hindernis fahren mussten, schaukeln die Autos in wilden Kurven und kommen den Fußgängern gefährlich nahe.

    Ich ziehe den Schlitten mit meinen Kindern heimwärts. Auf der Fahrbahn, schließlich ist der Bürgersteig geräumt. Müde und durchgefroren, aber glücklich freuen wir uns auf heißen Kakao/Glühwein und „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“ im TV. Ich höre, wie ein Auto von hinten kommt, aber es ist helllichter Tag und in den Nebenstraßen kann man derzeit nur langsam fahren. Denke ich. Der Fahrer sieht das anders. Als der Wagen auf unsere Höhe kommt, gerät er in die Spurrillen auf der Fahrbahn und rutscht mit Tempo auf uns zu. Mit einem Sprung auf den Bürgersteig und einem hässlichen Knirschen der Kufen auf Beton bringe ich die Kinder und mich in Sicherheit.

    Dann sehe ich, wie das Auto in die Einfahrt uns gegenüber fährt. Familie Eberle ist nach Hause gekommen.

    „Herr Nachbar? Sie sollten aber wirklich nicht mit dem Schlitten auf der Straße fahren, das ist gefährlich!“

    Für einen Moment hält mich nur der Gedanke an meine Familie, die nicht ohne Vater aufwachsen soll, davon ab, Herrn Eberle zu erwürgen. Aber damit wird er nicht durchkommen. Nicht mit mir!


    Viertes Adventswochenende


    Die ganze Woche habe ich darüber nachgedacht, wie ich mich bei den Eberles revanchieren könnte. Dann fiel mir ein Calvin & Hobbes Comic ein, und voller Vorfreude machte ich mich ans Werk. Möhren, kleine dunkle Steinchen, Äste, die an Arme erinnerten, und eine Flasche Ketchup fanden den Weg in die Garage. Ich begann, im Garten, wo es von der Straße aus nicht zu sehen war, Schneemannkugeln zu rollen und hinter der Garagenwand zu stapeln.

    Sonntagmorgen um 5 Uhr war es dann soweit: Ich schlich leise aus dem Haus und achtete darauf, nur auf den geräumten Streifen oder gefrorenem Schnee zu laufen, um keine Spuren zu hinterlassen. Der Weg von der Gartentür zur Straße war auch geräumt. Dort entlang trug ich jetzt die Schneemannkugeln und drapierte sie in der Eberle’schen Auffahrt. Eine „Oberkörperkugel“ hatte ich in der Mitte geteilt. Die Hälften stellte ich jetzt rechts und links einer Reifenspur auf, so dass es so aussah, als wäre das Auto mitten hindurchgefahren. Auf eine Seite kam ein Kopf, auf die andere eine Bauchkugel. Das Gesicht modellierte ich zu einem lautlosen Schrei, der Munch gefallen hätte. Mit Zweigen bastelte ich weit ausgebreitete Arme an den überfahrenen Schneemann.

    Um das „Verkehrsopfer“ stellte ich weitere Schneemänner. Einige starrten entsetzt auf ihren gefallenen Kameraden, während zwei mit ihren Zweigfingern anklagend zum Haus der Eberles wiesen.

    Dann kam die Krönung: Sorgfältig spritze ich Ketchup auf die Schnittflächen der geteilten Kugel, ebenso wie auf die Reifenspur bis hin zum Garagentor.

    Mit Genugtuung betrachtete ich mein Werk. Das Schneemann-Gemetzel war fertig. Ich konnte es kaum erwarten, hinter dem Vorhang versteckt zuzusehen, wie Herr und Frau Eberle das Haus verließen, um zur Sonntagsmesse zu fahren. Rache ist süß Ketchup!

  • Der 10. Dezember von belladonna



    Der Weihnachtsgast


    „… und schöne Feiertage!“ Mit einem leisen Plopp schließt sich die Tür des kleinen Cafés hinter den letzten Gästen. Es ist Heilig Abend kurz vor sechs, und jetzt ist der Moment gekommen, vor dem sie sich am meisten gefürchtet hat in den letzten Wochen: Sie ist allein. Ihre Chefin und die Kollegin sind längst nach Hause zu ihren Familien gegangen, nur Sarah hat darauf bestanden, das Café auch am 24. Dezember bis 18:00 Uhr geöffnet zu lassen und wider Erwarten war es gut besucht. Doch jetzt ist auch der letzte Gast gegangen und es gibt keinen Grund, den Feierabend noch länger hinauszuzögern. Die Aussicht, allein in ihrer leeren dunklen Wohnung zu sitzen, macht ihr Angst, und so räumt sie hier noch auf, kramt dort etwas, packt schließlich ein paar übrig gebliebene Sandwiches und Kuchenstücke für zu Hause ein. Als sie sich endlich auf den Weg macht, sind ihre Schritte schwer, genauso schwer wie ihr Herz in diesen Tagen voll düsterer Erinnerungen.


    Länger als nötig läuft sie durch die Stadt und erreicht doch viel zu schnell das große Mietshaus, in dem sie seit ein paar Monaten wohnt. Sie steigt die Treppen hinauf bis in den dritten Stock und bleibt überrascht stehen. Vor ihrer Wohnungstür steht ein junger Mann mit einem großen Rucksack, der ratlos abwechselnd auf ihr Klingelschild und einen Zettel in seiner Hand blickt. „Äh, hallo?“, fragt sie. „Wollen Sie zu mir?“ „Hm, ich weiß nicht… Sind Sie Frau Maier?“ „Nein, ich heiße Drechsler, Sarah Drechsler.“ Sie deutet auf ihr Klingelschild. „Komisch…“ Der junge Mann kratzt sich am Hinterkopf und schaut wieder auf seinen Zettel. „Laut meinen Informationen sollte hier eine Frau Maier wohnen! Kennen Sie sie zufällig? Wohnt sie vielleicht in einer anderen Wohnung?“ „Keine Ahnung“, muss Sarah zugeben. Sie ist nicht zuletzt deswegen in dieses Haus gezogen, weil hier alles so anonym ist und kaum einer sich für seine Nachbarn interessiert. Aber weil ihr der junge Mann leidtut, schlägt sie ihm vor, gemeinsam unten am Eingang auf den Klingelschildern nachzusehen. Sie studieren alle 32 Klingelschilder, auf manchen stehen sogar mehrere Namen, aber kein Maier. Der junge Mann wirkt inzwischen leicht verzweifelt: „Was mache ich denn jetzt? Wissen Sie, ich bin auf der Durchreise, muss morgen ganz früh zum Flughafen, und da hatte ich mir über Rent-a-bed eine Übernachtungsmöglichkeit gebucht, und zwar unter dieser Adresse, 3. Stock bei einer Frau Maier. Irgendwas muss da komplett schiefgelaufen sein…“ Er sieht Sarah ratlos an. „Wo soll ich denn jetzt hin? Ein Hotel kann ich mir nicht leisten.“ Sarah weicht seinem Blick aus, starrt wieder auf die Klingelschilder, als ob sie nur eins davon lange genug fixieren müsste, um ein Alamovic oder Moubassi in ein simples Maier zu verwandeln. In ihr toben die Gefühle, am liebsten würde sie mit einem „Tut mir Leid für Sie, viel Glück noch!“ ins Haus verschwinden, aber dann hört sie sich sagen: „Ein Bett kann ich Ihnen nicht anbieten, aber wenn es eine Couch auch tut?“ Der junge Mann blickt freudig überrascht auf: „Echt, das würden Sie machen? Und ich störe auch ganz bestimmt nicht? Immerhin ist heute Heilig Abend!“ „Nein, Sie stören nicht, ich lebe allein. Und Weihnachten feiere ich auch nicht.“ Sie gehen ins Haus zurück. Auf dem Weg nach oben meint der junge Mann: „Ich heiße übrigens Gabor, Gabor Malach.“ „Sarah Drechsler“ Sie überlegt kurz, ihm die Hand zu geben, lässt es dann aber doch, weil es ihr zu förmlich erscheint.


    In der Wohnung angekommen überlegt Sarah kurz, wie trostlos ihr Zuhause auf ihren Gast wirken muss. Spartanisch eingerichtet, keine Bilder an den Wänden, schon gar keine Weihnachtsdekoration. Nicht einmal einen Fernseher besitzt sie, nur eine Stereoanlage. „Viel kann ich Ihnen nicht anbieten“, meint sie etwas verlegen. „Ich war nicht auf Gäste eingerichtet. Und viel zu essen gibt es auch nicht wirklich…“ Sie deutet auf das Päckchen mit den mitgebrachten Sandwiches. „Ach, das macht nichts!“, antwortet Gabor leichthin. „Ich brauche nicht viel!“ Er überlegt kurz. „Aber wenn ich vielleicht Ihr Bad benutzen dürfte?“ Während Gabor im Bad ist, richtet Sarah in ihrer winzigen Küche ein Tablett mit Sandwiches und Kuchen und trägt es ins Wohnzimmer zu dem kleinen Tisch vor der Couch, denn einen Esstisch besitzt sie nicht. Dazu stellt sie eine Flasche Wasser und zwei Gläser, mehr hat sie nicht anzubieten. Gabor kommt herein und fängt an, in seinem Rucksack zu kramen. Er fördert eine Kerze und eine CD zutage und sieht Sarah fragend an: „Wollen wir es uns nicht ein bisschen gemütlicher machen?“ Sie zuckt mit den Schultern: „Meinetwegen.“ Während Gabor die CD einlegt, such Sarah einen Kerzenständer und zündet die Kerze an. Leise Jazzmusik erklingt und der sanfte Kerzenschein lässt den Raum tatsächlich gleich etwas freundlicher wirken. Sie setzen sich zum Essen und Gabor erhebt sein Wasserglas: „Auf unsere WG für eine Nacht – vielen Dank, dass ich bleiben darf!“ Sarah lächelt verlegen und als Gabor gleich darauf noch fragt, ob sie sich nicht duzen wollen, immerhin seien sie doch ungefähr im gleichen Alter, sagt sie nicht nein, obwohl sie sich ein wenig überrumpelt fühlt – irgendetwas passiert hier mit ihr, gegen das sie sich nicht wehren kann und das sich doch eigenartig gut anfühlt.


    Nach dem Essen kramt Gabor wieder in seinem Rucksack und zieht eine abgegriffene Schachtel heraus. Es ist ein „Scrabble“-Spiel, früher einmal Sarahs Lieblingsspiel, aber jetzt kommt es ihr vor, als sei das alles in einem anderen Leben gewesen. Doch weil ihr nichts Besseres einfällt, lässt sie sich auf eine Partie ein. Gabor erweist sich als ebenbürtiger Gegner und so feilschen sie erbittert um die Punkte und die Zeit vergeht wie im Flug. Nach mehreren Runden ohne klaren Sieger sind sie beide müde, aber doch noch zu wach, um schlafen zu gehen. Also geht Sarah noch einmal in die Küche und kocht eine Kanne Tee. Dazu gibt es als Betthupferl Vanillekipferl aus einer Keksdose, die Gabor ebenfalls aus den unendlichen Tiefen seines Rucksacks hervorgezaubert hat, der Sarah immer mehr an die magische Handtasche von Hermine aus den Harry Potter-Büchern erinnert.


    So sitzen sie einvernehmlich auf der Couch, hören Musik und blicken in die Flamme der Kerze, die langsam herunterbrennt. Sie reden über dies und das, bis Gabor Sarah schließlich fragt, warum sie denn eine solche Traurigkeit mit sich herumtrage, dass es fast greifbar sei. Sarah will ausweichen, doch dann bricht ihr ganzer Kummer aus ihr heraus: dass es Heilig Abend vor genau einem Jahr war, als ihr Mann die beiden Kinder nachmittags ins Auto lud, um Oma und Opa abzuholen – auf ihren Wunsch hin, weil sie ein paar Stunden Ruhe haben wollte, um das Essen und die Bescherung vorzubereiten. Auf der Rückfahrt war ein Sattelschlepper auf der vereisten Bundesstraße mit viel zu hoher Geschwindigkeit auf die Gegenfahrbahn geraten und hatte das Auto ihres Mannes mitsamt allen Insassen einfach plattgemacht. Seitdem ist nichts mehr wie vorher, es fühlt sich an, als sei nicht nur das Leben ihrer Liebsten, sondern auch ihr eigenes vorbei. Sie ist nur noch eine funktionierende Hülle, ein Roboter. Das kleine Reihenhaus ihrer Familie hat sie verkauft, weil sie es darin nicht mehr ausgehalten hat, und ist in dieses anonyme Mietshaus gezogen, möglichst weit weg von ihrer früheren Umgebung. Den Job in dem kleinen Café hat sie auch nur deswegen angenommen, weil ihre Therapeutin ihr zugeredet hat, dass sie wieder unter Leute muss. Geholfen hat es nichts, oft schon hat sie überlegt, ihrem Leben ein Ende zu setzen, wenn der Kummer und die Schuldgefühle sie zu ersticken drohten, doch sie weiß nicht wie und überhaupt fehlt ihr auch dafür die Kraft. Schon seit Wochen graut ihr vor Weihnachten, dem Jahrestag des Unglücks, dem Alleinsein mit all den Schuldgefühlen und Erinnerungen. Sie weint nicht, hat keine Tränen mehr, nur ihre Stimme wird leiser und leiser und irgendwann verstummt sie ganz. Da rutscht Gabor zu ihr hinüber und nimmt sie in den Arm. Er sagt nichts, hält sie einfach nur fest, und sie spürt, wie ihr langsam leichter ums Herz wird, so als würde eine große Last von ihr genommen.


    Als sie am nächsten Morgen aufwacht, ist es draußen schon hell und Gabor ist fort. Die warme Decke, die sie ihm am Abend noch gegeben hatte, liegt ordentlich gefaltet auf der Couch. Darauf ein Brief und ein kleiner grüner Stein, der sich bei näherem Hinsehen als Kettenanhänger in Form eines kleinen Flügels entpuppt. Sarah nimmt den Brief und liest:


    „Liebe Sarah,
    vielen Dank, dass du mir letzte Nacht eine Herberge gegeben hast! Als kleines Dankeschön schenke ich dir diesen Anhänger aus Malachit – trag ihn und er wird dir Kraft spenden! Alles Gute für die Zukunft wünscht dir
    Dein Gabor“


    Sowas! Gerührt und ein wenig amüsiert über Gabors altmodische Ausdrucksweise betrachtet Sarah den kleinen Flügel. Eigentlich glaubt sie ja nicht an solchen Hokuspokus, aber irgendetwas bringt sie dazu, den kleinen Anhänger auf die Kette zu fädeln, die sie immer um den Hals trägt. Er fühlt sich gut an auf ihrer Haut, so als wäre er schon immer dagewesen. Beim Frühstück fährt Sarah ihren Laptop hoch und googelt nach Malachit. Zu ihrem Erstaunen liest sie, dass dieser Stein tatsächlich für mehr Lebensfreude steht. Und noch etwas fällt ihr auf, als sie durch die Ergebnisse der Suchmaschine scrollt: Zwischen all den Stein-Seiten taucht plötzlich der Begriff „Malach“ und der Link zu einem Hebräisch-Lexikon auf. Neugierig klickt Sarah darauf und liest staunend: „Malach: verbreiteter Nachname in Israel, der Bedeutung nach „Engel“…“ Nachdenklich schaut Sarah aus dem Fenster. Gabor Malach… Gabor…Gabriel…Malach…Engel…Gabriel Engel…Engel Gabriel…


    Noch während sie grübelt, klingelt das Telefon. Erschrocken fährt Sarah zusammen, sieht die Nummer ihrer Freundin im Display und hebt ab. Sofort sprudelt ihre Freundin los, erzählt eine wirre Geschichte von einem Mutanten-Vogel, der in der Tiefkühltruhe gewachsen sei, nie im Leben hätte sie vor vier Wochen eine derart große Gans gekauft, die kaum in den Bräter passe, und auch das Blaukraut werde im Topf immer mehr und dann hätten jetzt auch noch die Schwiegereltern abgesagt, akuter Magen-Darm-Virus, und ja, sie wisse, dass Sarah eigentlich nicht Weihnachten feiern wolle, aber könnte sie nicht, bittebitte, es sich doch nochmal überlegen und vorbeikommen und ihnen beim Essen des Weihnachtsbratens helfen? Sie müsse ja auch nicht lang bleiben und bloß nichts mitbringen, aber es wäre so viel Essen da und Sarah habe ja bestimmt nichts daheim. Als die Freundin dann doch mal Luft holen muss, ertappt Sarah sich dabei, wie sie „Ja, ist ja schon gut, ich komme!“ antwortet. Daraufhin hört sie nur noch „Oh super, dann bis um eins“ und schon ist das Gespräch beendet. Verwirrt betrachtet Sarah das Telefon, tastet nach dem kleinen Flügel an ihrer Halskette, schaut wieder aus dem Fenster und merkt, wie sie langsam beginnt, sich auf den Nachmittag zu freuen.

  • Der 11. Dezember von Tante Li



    Holunderpunsch


    Silbrig flirrt die Luft von winzigen Eisnadeln vor tief blauem Himmel. Die nächste Wolke ist weit weg und auch nicht schwer genug, um größere Flocken zu produzieren. Des Sommers extreme Trockenheit zieht sich bis in die Minusgrade im Dezember. Ostwind. Von Sibirien sind eher Stürme als Feuchtigkeit zu erwarten. Das wird den Bäumen nicht nur im Wald schwer zu schaffen machen.


    Wir sind auf einem Forstweg unterwegs in Richtung Stadt. Dort wollen wir den Weihnachtsmarkt besuchen. Ich laufe mit meinen beiden Kleinen. Mein Junge ist schon in der dritten Klasse, meine Süße wurde dieses Jahr eingeschult.


    Jochen lässt jede noch so kleine überfrorene Fläche unter seinen festen Wanderschuhen zerplatzen. Mia macht das natürlich mit Begeisterung nach. Ich bin froh, dass die Pfützen nicht tiefer sind, die beiden Spaß an dem Weg haben und nicht jetzt schon mit Beschwerden nerven.


    Plötzlich klingelt es in der Nähe. Ich schaue mich nach hinten um, weil ich einen Radfahrer vermute, der an uns vorbei will. Aber da ist niemand. Das Klingeln kommt auch eher aus Richtung Wald. Die Kinder haben es jetzt ebenfalls bemerkt und schauen sich suchend um.


    Da führt ein kleiner Pfad zwischen die Bäume, der mir bislang noch nie aufgefallen ist, obwohl ich diesen Waldweg regelmäßig benutze, um in die Stadt zu gelangen. Das Klingelgeräusch scheint von dort drinnen zu kommen. Jochen ist schon zum Sprung über den seichten Entwässerungsgraben bereit, der am Forstweg entlang führt. „Warte!“, rufe ich und er stockt tatsächlich und sieht mich unsicher an. Mia fragt: „Was bimmelt denn da?“


    Ich überlege, was es sein könnte. Das Bimmeln klingt zu leise für eine große Glocke. Vielleicht hat sich hier eine Katze im Gestrüpp verfangen, die ein Vogelschutzglöckchen um den Hals trägt. Möglicherweise braucht sie unsere Hilfe. Oder jemand hat eine illegale Falle aufgestellt und ein Wildtier kämpft darin um sein Leben.


    Ich nehme die Kinder an die Hände und sage: „Lasst uns vorsichtig nachsehen. Vielleicht ist es eine Katze, die sich verfangen hat.“ Wir überqueren gemeinsam den Graben und folgen dem Geräusch durch das Saumgebüsch. Die Sicht nimmt rasch ab und wir müssen uns auf den Weg konzentrieren, um nicht über Flachwurzeln zu stolpern. Das Bimmeln lockt uns weiter. Nach einer Weile wundere ich mich, dass es nicht lauter oder deutlicher wird. Es bleibt gleichtönig hell aber aus eindeutiger Richtung.


    Langsam wird mir ungemütlich. So weit sollten wir uns vielleicht besser nicht vom Waldrand entfernen. Ich nehme mir vor, sofort den Rückzug anzutreten, wenn eines der Kinder den Wunsch dazu äußert. Aber beide sind selber von der Suche fasziniert.


    Dann dringt ein feiner Lichtstrahl durch das Unterholz. Sind wir schon so weit, dass das Licht der Straßenlaterne von der nächsten Bundesstraße bis hier her dringt? Mein Orientierungssinn spricht eher dagegen. Jochen hat es jetzt auch gesehen. Mit „Da!“ deutet er den Pfad entlang und zieht mich an der Hand weiter.


    Noch ein etwas dichteres Gebüsch durchqueren wir mit leichteren Schwierigkeiten, dann stehen wir auf einer kleinen Lichtung – etwa so groß wie ein Handballfeld. Eine Hütte, nicht größer als unser Gartenhaus, in dem wir Fahrräder, Gartengeräte und Gartenmöbel aufbewahren, steht darin. Wenn es jetzt auch noch mit Lebkuchen bedeckt wäre, würde ich mich noch mehr im falschen Film fühlen. Aber so sieht es eher wie ein Wetterunterstand aus, den ein Förster hier errichtet hat.


    Licht dringt aus dem einzigen Fenster neben der Tür. Vom First hängt ein Windspiel aus Silberblech, von dem das stetige Bimmeln kommt. Ich bin erleichtert, dass sich das Rätsel so harmlos aufgelöst hat und will mit meinen Kindern den Rückzug antreten. Offensichtlich ist jemand in dieser Hütte. Uns geht das nichts weiter an.


    Plötzlich ertönt hinter uns: „Willkommen! Nur keine Scheu, geht nur weiter!“ Wir fahren zusammen und drehen uns dem Pfad zu, auf dem wir gekommen waren. Da steht ein großer Mensch in einem langen, haarigen Mantel. Das mächtige Gesicht ist fast ganz von schwarz-grauem Bart bedeckt. Wir weichen zur Seite auf die Lichtung aus, um dem Mann seinen Weg zu seiner Hütte frei zu geben, aber er blockiert weiter unseren Rückweg und deutet auf die Hütte: „Ich habe gerade frischen Holunderpunsch gemacht. Seid meine Gäste. Plätzchen und Stollen sind auch genug da.“


    Ich schaue meine Kinder an und diese schauen mich an. Wir schwanken zwischen Furcht und Neugierde. Aber der Hüne lässt uns keine Zeit für Bedenken. Er gibt den Weg zum Pfad frei und geht rückwärts auf seine Hütte zu, so dass er uns ständig im Blick behält. „Bitte macht mir die Freude eurer Gesellschaft für eine kleine Viertelstunde.“


    Wir können kaum anders als ihm in seine Behausung zu folgen, wenn wir nicht grob unhöflich sein wollen. Drinnen ist es richtig gemütlich: Im offenen Kamin brennt ein starkes Feuer, die Holzwände sind mit frischen Tannenzweigen und roten Vogelbeeren verziert. Auf dem Tisch am Fenster steht fein gemustertes Porzellan bereit für eine Teegesellschaft.


    Wir werden auf die Eckbank um den Tisch platziert und bekommen den versprochenen Punsch eingeschenkt. „Da ist doch kein Alkohol drin?“ frage ich dann doch. „Aber nein!“ ruft der Mann lachend und häuft uns Plätzchen und Stollen auf die Teller. „Darf ich Sie nach Ihrem Namen fragen?“ „I‘ bin da Gerch!“ poltert er gutmütig. Ich stelle mich selber und meine Kinder vor. „Wir waren auf dem Weg zum Weihnachtsmarkt“, erzähle ich und probiere den Stollen. Besser würde ich ihn selber auch nicht hinbekommen.


    „Weihnachtsmarkt ist noch lang“, sagt Gerch und zündet die Kerzen auf seinem Adventskranz an. Die Augen meiner Kinder leuchten. Sie schauen abwechselnd in den Kamin und in die Kerzenflammen. Die Plätzchen scheinen ihnen auch gut zu schmecken. Ich frage nach den Rezepten und wir unterhalten uns über Weihnachtsbäckerei. Jochen und Mia erzählen ganz unbefangen von ihrer Mithilfe dabei.


    Eine halbe Stunde vergeht wie im Flug. Besorgt schaue ich auf die Uhr und erkläre: „Wir wollen nicht bei Finsternis durch den Wald laufen.“ Gerch hat dafür Verständnis und gibt jedem von uns zum Abschied ein kleines Päckchen in die Hand. Wir bedanken uns und machen uns zum Aufbruch bereit. Gerch hält uns die Tür auf und mit einem letzten Bimmeln schließt sie sich hinter uns. Wir stehen im Freien und schauen in dichtes Schneegestöber. Was für ein Wetterumschwung!


    Wir machen drei Schritte von der Hütte weg. Der Schnee hört abrupt auf. Erstaunt schaue ich in den Himmel. Jochen ruft: „Aber wir sind ja zuhause!“ Schnell blicke ich umher. Tatsächlich! Wir stehen in unserem Garten nahe unserem Gartenhäuschen – als wären wir gerade da heraus gekommen. Rasch mache ich die paar Schritte zurück und reiße die Tür auf. Aber da stehen nur unsere Fahrräder und Gartengeräte drinnen, wie sonst auch.

    „Das glaube ich jetzt nicht!“ sage ich verwirrt – obwohl ich den Geschmack von Punsch und Plätzchen noch auf der Zunge, die Kaminhitze auf der Haut und den Kerzenduft in der Nase habe.


    Mia fängt an zu weinen. Ich nehme sie hoch und sage: „Lasst uns schnell ins Haus gehen.“ Jochen läuft zur Haustür und klingelt ungeduldig bis ich auch da bin und den Haustürschlüssel ins Schloss gebracht habe. Drinnen machen wir viel Licht an, setzen uns erschöpft auf das Sofa im Wohnzimmer und kuscheln uns aneinander.


    Mia zieht ihr Päckchen hervor. „Darf ich das aufmachen?“ „Warte!“ sage ich. „Ich mach lieber erst einmal meines auf.“ Ich ziehe die rote Schleife auf und öffne das Geschenkpapier vorsichtig. In Watte gepackt liegt da ein fein geschnitztes Schutzengelchen. Wunderschön! Jetzt dürfen die beiden Kleinen auch ihre Geschenke aufmachen.


    - - -


    Eine schöne Adventszeit und frohe Weihnachten wünsche ich Euch allen!

    Liebe Grüße

    Li


  • Der 12. Dezember von Sandrah



    Keine Geschichte mit Happyend, aber (Weihnachts-)Engel gibt es noch


    Bereits bei ihrem Umzug in's Pflegeheim im Frühling wusste die alte Dame, dass sie unheilbar krank war. Der Krebs war zurückgekommen. Metastasen. In mehreren Organen. Wenige Tage nachdem sie sich von ihrer geliebten Wohnung verabschiedet hatte, feierte sie im Kreise ihrer Familie ihren 82. Geburtstag. Sie war nicht glücklich mit ihrem Umzug, die Umstände ließen aber keine andere Möglichkeit zu, wie sich herausstellen sollte, war es sogar allerhöchste Zeit.


    Wider Erwarten lebte die alte Dame sich doch erstaunlich gut ein, in ihrer neuen Umgebung. Das Einzelzimmer mit den eigenen Möbeln wurde ihr Heimat, die Pflegerinnen und Pfleger hatten immer ein offenes Ohr und kümmerten sich hervorragend. Auch der herrliche Garten der Einrichtung und die dortigen, täglichen Rundgänge trugen viel dazu bei, dass die Dame nochmals neuen Mut fasste und sich auf Anraten des behandelnden Arztes zu einer Chemotherapie entschied um sich noch ein bisschen mehr Zeit zu verschaffen. Alle Pflegerinnen und Pfleger unterstützen sie wo sie konnten, sprachen Mut zu, wischten Erbrochenes weg, waren einfach da, wenn es die Familie nicht konnte. Über 30 pflegebedürftige Menschen leben im Wohnbereich der alten Dame. Eine Schicht besteht aus zwei Pflegekräften, einer Hilfe und einer Alltagsbegleitung. Nachts die Hälfte. Nicht viel, wenn man bedenkt was diese Menschen leisten.


    Im Frühsommer, als die Nebenwirkungen der Behandlung zu groß wurden, beendete die Dame diese auf eigenen Wunsch. Eine mutige Entscheidung, denn sie wusste genau, was darauf folgen würde. Auch hier hatte sie die volle Unterstützung ihrer Familie und aller Pflegekräfte. Leicht war das nicht, weder für sie selbst, noch für alle Menschen im Umfeld. Das tägliche Leben begann, unüberwindbare Hürden zu stellen: essen, ankleiden, waschen, aufstehen … nichts war mehr ohne Hilfe möglich. Irgendwann konnte sie das Bett gar nicht mehr verlassen. Die Familie musste trotz allem ihren täglichen Verpflichtungen nachkommen und konnte nicht immer da sein, dennoch war die alte Dame jederzeit bestens versorgt. Es ist kein einziges Mal vorgekommen, dass sie nicht wie aus dem Ei gepellt anzutreffen war. In ihrer spärlich bemessenen Zeit machten die Pflegekräfte es ganz oft möglich, Gesellschaft zu leisten, ein Ohr für die Sorgen zu haben, zu trösten, einfach nur da zu sein. Sogar eine ehrenamtliche Hospizhelferin hatten sie organisiert, welche die alte Dame und ihre Familie zusätzlich unterstützte, ebenfalls viele Stunden bei ihr verbrachte.


    Mit dem Beginn des Herbstes schwanden die Kräfte immer mehr, das Lebensende kündigte sich merklich an. Nach einem neuerlichen Krankenhausbesuch entließ man die Dame zum Sterben nach Hause. Medikamente und künstliche Ernährung wurden auf eigenen Wunsch abgesetzt, sie hat nur noch wenige Tage sagten die Ärzte. Das stimmte allerdings nicht. Es dauerte noch mehrere Wochen bis die alte Dame erlöst wurde und gehen durfte. Sieben genauer gesagt. In diesen sieben Wochen passierten Dinge, die man nicht glauben könnte, wenn man es erzählt bekäme. Halluzinationen, Alpträume, Todesangst, furchtbare Nächte …. Auch hier verging kein Tag an dem nicht die gesamte Belegschaft für sie dagewesen wäre und alles in der Macht stehende tat, um ihr ein würdiges Gehen zu ermöglichen. Auch für die Angehörigen waren diese Menschen Seelsorger, Psychologen, helfende Hand und so vieles mehr das man mit Worten gar nicht ausdrücken kann.


    An einem sonnigen Freitagmittag im November ist die Zeit dann gekommen und die alte Dame durfte ganz friedlich einschlafen.


    Seitdem vermisse ich sie jeden einzelnen Tag aber ich kann guten Gewissens sagen: es gibt sie tatsächlich, die (Weihnachts-)Engel unter den Menschen. Ich habe einige von ihnen kennenlernen dürfen. Dafür werde ich immer dankbar sein.

  • Der 13. Dezember von Rumpelstilzchen



    Himmlische Botschaft


    Nachdem der Engel Aloisius seit mehr als hundert Jahren im Hofbräuhaus sitzt und die himmlische Botschaft längst vergessen hat, macht sich Gott der Herr immer größere Sorgen um den Zustand der Erde. Offenbar kommt die doch nicht ganz ohne göttlichen Beistand aus und so beschließt er, einen weiteren Boten zu den irdischen Regierungen zu schicken.


    Diesmal sucht er einen äußerst zuverlässigen, nüchternen Engel aus, der früher Laufbursche in der preußischen Regierung gewesen ist. Fridericus ist sein Name und der macht sich schleunigst auf den Weg.


    Zuerst landet er in Berlin an der Pförtnerloge des Bundeskanzleramts. Dort wird er zwar sehr höflich empfangen, aber die Bundeskanzlerin, nein, die könne er nicht besuchen. Sie weile noch in Buenos Aires, die Regierungsmaschine sei leider noch immer defekt und die Kanzlerin müsse auf einen Platz in der Linienmaschine warten. Sehr bedauerlich, ja. Eventuell in ein paar Tagen. Aber bitte, melden Sie sich vorher an.


    Fridericus, dem schon klar gewesen war, dass seine Aufgabe keine leichte sein würde, beschließt, sich auf den Weg ins nahe Paris zu machen. Der dortige Präsident soll großen Plänen besonders aufgeschlossen gegenüberstehen und ist sicherlich auch für göttliche Botschaften empfänglich.


    Ziemlich beeindruckt steht Fridericus vor dem prächtigen Portal des Elysée Palastes. Auch hier wird er sehr freundlich vom diensthabenden Wachsoldaten angehört. Dieser bittet ihn, einen Augenblick zu warten, er müsse telefonieren. Tatsächlich spricht der Mann offenbar mit dem Präsidenten. „Ja, Monsieur le Président. Ein göttlicher Botschafter. Mit einer Nachricht zum Weltfrieden. Wie? Gut, Monsieur le Président. Ich gebe das weiter.


    „Désolé Monsieur, der Präsident kann Sie leider nicht empfangen. Er ist Präsident einer laizistischen Republik und diese muss sich von Kirche und Religion strikt getrennt halten. Ich soll Sie seines Bedauerns versichern.“


    Verblüfft tritt Fridericus wieder zum Tor hinaus. So richtig hat er das nicht verstanden, aber es war offensichtlich ein Rauswurf. Wohin jetzt? Irgendjemand muss ihn doch anhören.


    London, die Hauptstadt des früheren Empire kommt ihm in den Sinn und so befindet er sich in Windeseile vor der Tür von 10, Downing Street und dort, er kann sein Glück kaum fassen, wird er von Ms May persönlich empfangen. Sogar eine heiße Tasse Tee wird ihm serviert. Doch nein, mit dem Weltfrieden kann sie sich derzeit leider nicht beschäftigen. Wenn er einen Ratschlag hätte, wie eine Mehrheit der Abgeordneten im House of Commons für den Brexit-Vertrag zu erlangen sei, den wolle sie unbedingt hören. Und sich danach auch gerne für den Weltfrieden engagieren.


    Niedergeschlagen findet sich Engel Fridericus vor der Türe wieder. Ein wenig erschöpft und mutlos ist er inzwischen und fragt sich, ob er sich nicht besser zu den wirklich wichtigen Regierungschefs begeben sollte. Kaum hat er das gedacht, ist er auch schon vor dem Weißen Haus in Washington. Vor einer Art Bankschalter, umgeben von schwerbewaffneten Sicherheitsleuten bringt er sein Anliegen vor und hört gleich mit, wie der Empfangschef mit dem Präsidenten spricht. Und er spricht mit dem Präsidenten, da gibt es keinen Zweifel. Selbst drei Meter vom Telefon entfernt kann Fridericus das laute Schreien hören: „Himmlischer Bote? Weltfriede? Und wer, meint er, soll unsere Waffen kaufen und unsere Jobs sichern? Er soll sich zum Teufel scheren mit seinem Weltfrieden.“


    Traurig schleicht unser Engel davon. Wohin soll er sich noch wenden? Niemand scheint Interesse an seiner Botschaft zu haben. Aber einen Versuch wird er noch machen. Bei einem Regierungschef, der mehr auf Gott hört, wie immer er ihn auch bezeichnen mag.


    Und so findet sich Fridericus vor dem Weißen Palast in Ankara wieder. Auch das ein prächtiger Regierungssitz und wieder wird er von einem Pförtner in Empfang genommen. Auch der telefoniert. „Ja, ein himmlischer Bote will er sein. Nein, besondere Kennzeichen hat er keine, eher unscheinbar sieht er aus. Nein, seine Botschaft muss er persönlich überreichen. Ein Spion? Der Gülen Bewegung? Moment, er wird sofort von Wachsoldaten verhaftet.“


    Fridericus hat genug gehört. Nur weg hier. Weit kommt er nicht. Völlig erschöpft ist er und landet wenig später mitten in der Wüste in einer Zeltstadt. UNHCR steht auf den Planen.


    Entkräftet lässt er sich gegen die Wand einer Baracke sinken. Eine Horde Kinder umringt ihn, eines reicht ihm einen Becher Wasser, ein anderes holt Hilfe. Ein Vertreter der Lagerleitung bittet ihn in sein etwas heruntergekommenes Büro. Eine himmlische Botschaft? Gerne will er sie anhören und auch an alle Bewohner weiterleiten. Nur leider, sei dies ein Flüchtlingslager. Kein Mensch hier habe Macht oder Einfluss. Aber Frieden – den wünschen sich hier alle.


    Und so bleibt wohl auch 2019 Frieden auf Erden ein frommer Wunsch.

  • Der 14. Dezember von imandra777



    Weihnachts - Zeit


    Mehl, Salz, (Vanille-)Zucker, Schokolade,

    Ingwer, Zitronat, Marzipan und Kirschwasser,

    Butter, Eier, Kardamon und Nüsse –

    kraftvoll geknetet, heiß aus dem Ofen:

    süßer mannighafter Keksgeruch in der Luft.


    Strohkranz, Tannenzweige, Buchsbaumgewächs,

    Bindedraht, Blumenschere, vier Kerzen, rote Äpfel,

    Tannenzapfen, Sterne, Orangen- und Apfelscheiben,

    geschickte Hände, Blick fürs Detail: die Dochte im Wachs

    sehnen ihre Erleuchtung herbei.


    Oben spitz, Kegelform, gleichmäßiger Wuchs,

    pieksende Nadeln, grüne Zweige, möglichst frisch,

    Tannenduft, Harzgeruch und Kindheitserinnerungen,

    eingenetzt und gekauft der Tannenbaum,

    beraubt des Lebens erwartet er das Fest.


    Rote, blaue, goldene, weihnachtliche Motive,

    Papier, Karton, Füller, Tinte, Stille, Aufkleber,

    Adressen, Marken, Gedanken, schöne Schrift,

    persönlich, ohne Platitüden gewünscht, doch

    Floskeln fließen falschflüssig in die Post.


    Noten, Verse, teils schon jahrhundertealt,

    Streicher, Bläser, Organisten, Sänger,

    Kinder, Schüler, Zusatz- und Generalproben,

    Aufregung, einheitliche Kleidung, lauter Programm,

    Besucherstrom ins Weihnachtskonzert.


    Kerze für Kerze erglimmt, Andachten, Bibeltext,

    Fürbitten, Krippenspiel und Weihnachtslieder,

    Klassen proben, singen, stimmen Instrumente,

    der Weihnachtsbaum im Foyer, letzter Schultag,

    Gottesdienste, Baumumgang mit viel Gesang aller Klassen.


    Nadelnde Nadeln, Handschuhe, abgeschnittenes Netz,

    Ständer, Decke, hochgewuchtet und aufgestellt der Baum,

    Kerzen, Kugeln, Holzfiguren, kleine Sterne, rot und gold,

    Strom und letzte Glühbirnen festgedreht, gedreht wird er

    der Baum, bis er steht und symmetrisch wirkt.


    Maultaschen, Schweinefilet, Schinken, Pfefferkörner,

    Kräuter de Provence, Créme fraiche, Kroketten,

    Kidneybohnen, Maris, Sojasprossen, Zwiebeln,

    Tannenbaum- und Sterneneis und guter Wein,

    volle Mägen, feine Kleidung und Gespräch.


    Weihnachtslieder, Weihnachtslicht, Weihnachtskekse,

    die vierte Kerze brennt, Weihnachtsbaum mit Geschenken;

    Christmette: Weihrauch, Maria und Josef, Christ ist geboren.

    Nach der Vorbereitung zählen nur noch: Familie,

    Freunde, Menschlichkeit, Liebe und Geselligkeit.

  • Der 15. Dezember von dieUnkaputtbare



    Adrian mochte Weihnachten noch nie. Als Kind nicht, weil er niemals das bekam was er sich gewünscht hatte. Und heute nicht weil er einsam ist und ein Problem hat, denn er war einfach irgendwann dem Alkohol verfallen. Wie Klara. Die ist auch dem Alkohol verfallen. Und so sitzen die beiden Heiligabend zusammen in einer Kneipe in Berlin. Kennengelernt haben sie sich vorige Woche auf dem Weihnachtsmarkt, natürlich am Glühweinstand. Klara wurde von ihrem Freund verlassen. Tragisch. Noch tragischer die Geschichte von Adrian. Seine Frau starb im letzten Jahr kurz vor Weihnachten bei einem Autounfall. Leider verfiel Adrian danach in schwere Depressionen und war so oft betrunken, das seine 10 Jährige Tochter Elly zur Zeit in einer Pflegefamilie lebt. Wenn man die beiden so beobachtet, wie sie vor ihren Gläsern sitzen und ab und zu hochschauen und sich ansehen, kann man in ihren Augen aber nicht nur Mitleid füreinander, sondern auch Freundschaft und Wärme sehen. Leider traut sich keiner von den beiden, irgendetwas in diese Richtung zu tun oder zu sagen. Also schweigen sie. Und trinken. Bis das Handy von Adrian klingelt…


    " Hallo ? Was ist passiert? Nein, bitte nicht das kann nicht sein, das darf nicht sein! Welches Krankenhaus ? Ich komme sofort dort hin! "


    Als Adrian das Gespräch beendet hat, ist er weiß wie die Wand. Die Pflegemutter von Elly hat ihm berichtet, dass seine Tochter gerade operiert wird. Er knallt sein Glas auf die Theke und springt auf, wendet sich Richtung Ausgang.


    Klara fragt: "Was ist los?"


    Adrian geht schweigend zur Tür, Klara hört noch wie er im Gehen ein Taxi ruft. Mit einem Seufzer springt sie vom Barhocker, verlässt die Kneipe und kann gerade noch ins Taxi hüpfen und die Tür zuknallen, bevor das Taxi losrauscht. Die Fahrt zur Charite verbringen sie schweigend aber als das Taxi auf das Klinikgelände fährt, nimmt Adrian Klaras Hand und sagt einfach nur " Danke. Meine Tochter wird gerade operiert und wenn sie das nicht überlebt, hat auch mein Leben keinen Sinn mehr. "


    " Sie wird nicht sterben " sagt Klara nur leise


    Die beiden steigen vor der Kinderklinik aus dem Taxi und betreten Hand in Hand das Gebäude. An der Info erfahren sie das Elly auf der Intensivstation liegt. Kurz darauf sind sie im Fahrstuhl zur Intensivstation. Dann betreten beide das Zimmer, in dem Elly liegt. Ein Arzt sagt " Sie hat alles gut überstanden und wird bald aufwachen aber es war knapp. "


    Adrian geht zum Bett, Klara bleibt in der Tür stehen. Adrian zieht sich einen Stuhl an das Bett, setzt sich und nimmt die blasse Hand seiner Tochter.


    " Elly, ich habe so viel Mist gebaut, aber ich verspreche dir, das ich in Zukunft keinen Tropfen mehr trinken werde. Und du wirst hoffentlich bald wieder bei mir wohnen, das wünsche ich mir so sehr. Bitte wach auf " . Er schaut zu Klara, die noch immer an der Tür steht und gibt ihr ein Zeichen, zu ihm zu kommen. Klara tritt hinter Adrian, legt ihre Hand auf seine Schulter und sagt leise Wenn du es möchtest, dann schaffen wir das zusammen….


    Adrian schweigt, es ist zu früh um etwas zu sagen, aber Klara spürt, dass er einfach noch etwas Zeit braucht. Dann können sie es vielleicht zusammen versuchen. In dem Moment schlägt die kleine Elly die Augen auf und lächelt. "Papa, endlich bist du da, ich habe dich so vermisst…"


    Und Adrian weiß dass jetzt das alles gut wird…

  • Der 16. Dezember von Johanna



    Henry und die Königin


    London im Dezember des Jahres 1850.

    Henry lief mit seiner kleinen Schwester Eliza an der Hand, durch die bitter kalten Straßen Londons.

    Er war auf der Suche nach etwas eßbarem und mildtätigen Menschen, die ihnen ein Almosen geben würden.

    So bewegten sie sich auf den Markt zu, wo er hoffte, eine Tätigkeit für sich, mit der er für sie beide ein paar Pennies verdienen könnte, zu finden. Manchmal konnte er älteren Dienstboten ihre Marktkörbe nach Hause tragen, oder den Verkäufern auf dem Markt zur Hand gehen.


    Er kannte es seit einem Jahr nicht mehr anders.

    Damals, vor fast einem Jahr, als das Leben das die beiden bis dahin kannten so abrupt endete, sie beide Eltern an den Typhus verloren.

    Versprochen hatte Henry es seiner Mutter auf dem Sterbebett, für sich und seine kleine Schwester zu sorgen, seine Schule weiter zu besuchen, anständig zu bleiben und etwas aus seinem Leben zu machen..

    Was sie nicht ahnen konnte, war der gewissenlose Mr. Nasty, der sie beide gnadenlos aus dem kleinen Häuschen gejagt hatte, nachdem er unter fadenscheinigen Behauptungen das Haus konfiszierte.


    Das Waisenhaus oder gar das Armenhaus kamen für Henry nicht in Frage, das wollte er sich und Eliza ersparen. Er wußte, wie es dort zuging und war der festen Überzeugung, daß es ihnen so, wie sie jetzt lebten, zumindest besser erginge, als dort.


    Diese Gedanken gingen Henry an diesem kalten Wintertag durch den Kopf, als sie beide durch die Gassen gingen. Er fror erbärmlich, da er seine Jacke Eliza gegeben hatte, damit wenigstens sie nicht frieren mußte – sie war doch erst fünf Jahre alt und war ständig hungrig, da sollte sie es wenigstens ein wenig warm haben.


    Auf dem Markt gab es heute nichts für ihn, immerhin bekam er von einer freundlichen Bäckersfrau zwei kleine Pasteten, die sie sehr genossen.

    Diese nette Frau hatte zudem Elizas Augen zum Leuchten gebracht, indem sie ihr erzählte, daß heute die königliche Weihnachtsparade zum Buckingham Palast ganz in der Nähe vorbeifahren würde, so wie jedes Jahr.

    Es war ein jährliches Ritual, das immer kurz vor Weihnachten stattfand und sich die königliche Familie so gerne dem Volk zeigte.


    Eliza bettelte so lange, bis Henry schließlich nachgab, sich die Parade anzusehen.

    „Ich habe noch nie die Königin gesehen“, meinte Eliza, „sie soll so eine wunderbare Frau sein, vielleicht bringt es uns ja Glück, wenn wir sie einmal vorbei fahren sehen können“

    Da konnte Henry nicht widerstehen, schließlich war ja bald Weihnachten und so konnte er Eliza wenigstens diese kleine Freude machen.


    Die beiden Kinder schlängelten sich durch die Gassen, bis sie die Menschen sahen, die bereits an der Mall standen.

    Diese traditionelle Kutschfahrt zur Weihnachtszeit – wunderschöne geschmückte offene Kutschen in einem feierlich anzusehenden Konvoi hin zum Buckingham Palast - Dieses Highlight zur Weihnachtszeit ließen sich die Londoner nicht entgehen und standen an der Straße und erwarteten die Königfamilie.


    Henry und Eliza schlängelten sich durch die Menschen, bis sie ganz vorne standen und erwartungsvoll auf die Straße blickten.


    „Da, schau mal Henry, da kommen sie“ schrie Eliza begeistert und hüpfte aufgeregt auf und ab.


    Voran die prachtvolle Kutsche mit Königin Victoria und ihrem Mann Prinz Albert, gefolgt von den Kutschen mit dem Prinzen Edward und seinen Schwester, den Prinzessinnen Viktoria und Alice, sowie einer weiteren mit den Geschwistern, Alfred, Helena & Louise

    Zum Schluß hin wurde die Parade von Wachen auf stolzen Pferden begleitet.


    Eliza sah staunend zu und auch Henry konnte sich einer wachsenden Aufregung nicht erwehren.


    Als die Kutsche der Königin auf Höhe der Kinder war, löste sich plötzlich direkt neben Henry ein Mann aus der Menge, zog ein Schwert und rannte auf die Kutsche der Königin zu, schrie: “nieder mit der Monarchie“


    Erstarrt standen die Menschen und waren unfähig, sich zu rühren.


    Ohne Nachzudenken rief Henry seiner Schwester zu, sie solle sich nicht bewegen und stürmte dann los.

    Er stürzte auf den Mann zu, erreichte ihn und sein Schwung ließ ihn von hinten in den Mann hineinrennen, dabei trat er ihm in die Kniekehlen, so daß der Mann ins Wanken kam und zu Boden stürzte, wobei ihm das Schwert aus den Händen fiel und unter die Kutsche rutschte.


    Endlich reagierten auch die Wachen vom hinteren Ende des Konvois, preschten nach vorne, sprangen von den Pferden und hielten den Mann am Boden fest.


    Prinz Albert, der sich während des Angriffs über seine Frau geworfen hatte, stieg aus der Kutsche, nachdem Victoria meinte, sie hätte nur einen Kratzer abbekommen und er solle lieber nachsehen, ob es den Kindern gut ginge und sich dann um den Attentäter kümmern.

    Sie hätte schließlich schon das Attentat des letzten Jahres und die vorherigen heil überstanden, da mache sie um das fünfte auch keine Gewese mehr.


    Mittlerweile war auch schon Prinz Edward, genannt Bertie, aus seiner Kutsche gesprungen, neugierig und abenteuerlustig, mit seinen neun Jahren und näherte sich der Szenerie.

    Sein Vater rief ihn zwar zurück, aber wie Bertie nun einmal war, tat er so, als höre er ihn nicht.


    Er ging auf Henry zu, der gerade dabei war aufzustehen, klatschte ihm ungestüm auf die Schulter und sagte:“Hey Junge, Du hast unser Leben gerettet, Du bist mein Freund“.

    „Ich habe gar nicht nachgedacht, bin einfach losgelaufen und wollte unbedingt verhindern, daß der Königin etwas passiert“, erwiderte Henry schüchtern.


    Nun kam auch Prinz Albert auf die Jungen zu, reichte Henry die Hand, bedankte sich bei ihm und nannte ihn einen tapferen Jungen, der geistesgegenwärtig gehandelt habe und somit die Königin vor schlimmerem bewahrt habe.


    Aus der Menge schob sich vorsichtig Eliza vor und stürmte Henry in die Arme. „Das war so schrecklich“ schluchzte sie „ich hatte so große Angst, daß Dir etwas passiert“.

    Henry schloß sie in seine Arme.


    Aus der Kutsche rief Victoria nach ihrem Mann und Sohn und meinte, sie sollen die beiden Kinder mitbringen.


    „Wie heißt Du, Junge“ fragte sie ihn.

    „Henry und das ist meine Schwester Eliza“.

    „Das bist sehr mutig, kleiner Mann. Dich so auf den Mann zu stürzen und uns somit das Leben zu retten, das hätte nicht jeder gemacht. Deine Eltern müssen stolz auf Dich sein“ meinte die Königin freundlich.

    Leider habe ich keine Eltern mehr, sagte Henry traurig

    „Oh, das tut mir sehr leid“, äußerte Victoria, „das werden wir Dir nie vergessen und uns erkenntlich zeigen.“


    „Können die beiden nicht mitkommen“, platzte Bertie heraus, „immerhin ist Henry jetzt mein Freund“

    Die Königin lächelte und sagt zu ihrem Sohn, „das ist eine hervorragende Idee. Auf dem Schloß können die beiden dann etwas zu essen bekommen und uns ihre Geschichte erzählen“


    So kam es, daß Henry und Eliza in die hintere Kutsche zu Edward und seinen Schwestern stiegen.

    Beiden erschien es wie ein Traum. Während Henry noch ziemlich betäubt wirkte, ließ sich Eliza das Geschehen gefallen, plapperte mit Alice, die nur etwas älter war als sie und genoß die Fahrt sichtlich.


    Am Palast, der den Kindern riesig erschien, angekommen, nahm Bertie die beiden Geschwister erst einmal mit in den Kindertrakt, dort kam sofort eine der Kinderfrauen auf die Kinder zu, nahm sich ihrer an, steckte sie in den Badezuber und kleidete sie anschließend mit frischer Kleidung an.

    Hinterher gab es in dem Raum von Bertie einen kleinen Imbiß, den sie heißhungrig verschlangen und von Bertie und seinen Geschwistern ausgefragt wurden.


    Einige Zeit später erschien der Butler und bat die Kinder, ihm in den roten Salon zu folgen, die Königin und der Prinz wünschten, mit ihnen zu sprechen.


    Bertie begleitete Henry & Eliza, die beide sehr aufgeregt waren. Eliza vor Freude mit ihrer geliebten Königin reden zu dürfen, Henry eher ängstlich, da er nicht wußte, was sie beide erwartete.


    Victoria und Albert empfangen die Kinder und baten sie, sich zu setzen.

    „Ich möchte Dir, Henry, noch einmal sehr danken, daß Du Dich so mutig und unerschrocken verhalten hast und mir damit das Leben gerettet hast.“ sagte Victoria.

    „Der Attentäter ist inzwischen inhaftiert und kann uns nichts mehr anhaben.


    Erzählt mir von eurem Leben, ihr beiden“.

    Das tat Henry dann auch .

    In knappen Worten erzählte er von dem Leben bevor seine Eltern starben, wie er und Eliza liebevoll aufgewachsen waren in dem kleinen Häuschen, dem Tod beider Eltern, wie die Zeit seither verlaufen war und er versuchte, sich und seine Schwester durchzubringen und wie er es vermisse, in die Schule gehen zu können, da er das immer so gerne getan habe.


    „Was“, platzte Bertie heraus, „Sag jetzt nicht, daß Dir diese blöde Lernerei etwa Spaß gemacht hat.“

    Prinz Edward, gerade 9 Jahre alt, mochte das Lernen überhaupt nicht, lieber spielte er seinen Lehrern und Erziehern kleine Streiche und tat sich schwer damit, aufmerksam zu sein.


    Henry staunte, als er das hörte und fragte ihn, ob er denn nicht froh sei, so viel lernen zu dürfen.

    „Ich liebe das lernen - wie die Welt funktioniert, sich Länder auf Karten ausbreiten und man sie sich so ansehen und vorstellen kann - wie sich aus Zahlen magische Konstrukte ergeben und das abtauchen in andere Welten beim Lesen“


    Das stimmt“ warf Eliza schüchtern ein: “Henry ist der beste Vorleser der Welt und hat mir immer aus seinen Büchern die Geschichten vorgelesen.

    „Aber jetzt kann er das nicht mehr, weil er sich immer Arbeit suchen muß“


    „Aber Du bist doch nicht älter als ich, was willst Du denn da arbeiten“, erstaunte sich Bertie, der sich bisher noch nicht sehr viel mit dem Leben seiner zukünftigen Untertanen beschäftigt hatte.

    „Du kannst Dich gerne an meiner Stelle mit den Lehrern abgeben, ich finde das lernen und lesen so langweilig und würde die Zeit viel lieber mit fechten und kämpfen verbringen“ lachte Bertie.


    „Hmm“, mischte sich da Prinz Albert nachdenklich ein: „das ist vielleicht wirklich keine schlechte Idee. Also, Du Edward, wirst natürlich weiterhin den Unterricht besuchen, aber vielleicht gelingt es Dir ja mit einem eifrigen Vorbild, den Stunden besser zu folgen und es spornt Dich ein wenig an, Deine Leistungen zu verbessern, wenn Du nicht mehr alleine lernst, sondern wenn Henry zusammen mit Dir den Unterricht besucht.“


    „Albert, mein Lieber, das klingt sehr vernünftig und ich befürworte diese Idee ebenfalls“. Mischte sich da die Königin ein.

    „ Immerhin muß Bertie als künftiger König noch sehr viel lernen und wenn er jemanden an seiner Seite hat, der ihm die nötige Leidenschaft und Ernsthaftigkeit dazu vermitteln kann, dann begrüße ich das sehr.

    Also, abgemacht, Ihr beiden, Henry & Eliza wohnt fortan hier im Palast und lernt mit den Kindern gemeinsam. Bei über 600 Zimmern hier in diesem Haus dürfte das kein Problem darstellen, einen schönen Raum für Euch beide zu finden“ zwinkerte sie ihnen zu.


    Henry und Eliza blickten sich sprachlos an, begannen zu jubeln und nahmen sich in den Arm.

    „Eure Majestät, wir danken Ihnen so sehr, das klingt wie ein Weihnachtsmärchen. Ich glaube, wir sind die glücklichsten Kinder der Welt“ strahlte Henry die Königin an


    „Wie könnten wir uns besser revanchieren bei unserem Lebensretter, als daß wir ihm seinen Herzenswunsch erfüllen.“ lächelte die Königin und sah zufrieden aus dem Fenster in den immer dichter werdenden Schneefall.

  • Der 17. Dezember von Serendipity8



    Secret Ticket


    „Jedes Jahr das Gleiche: Weihnachten kommt immer schneller, als man denkt. Man weiß, dass es hektisch sein wird und doch ändert man in keinem Jahr etwas.“ Mirjam seufzte und stellte die Kaffeetasse vor sich auf dem Tisch ab. Es war nun noch genau zwei Tage Zeit, bis sich die Familie unter dem Weihnachtsbaum versammeln würde und die Weihnachtsgeschenke, die sie schon gekauft hatte, lagen wild in der Wohnung verteilt und waren auch noch nicht eingepackt. Eine Liste mit Geschenkideen pinnte bereits seit Oktober an ihrem Kühlschrank und doch hatte sie mal wieder die meisten Dinge last-minute online eingekauft oder abends kurz vor Ladenschluss noch ergattert. Zum Glück hatte ihre Lieblingsnachbarin Antje ihr zufällig geholfen. Vor einigen Tagen hatte sie mal wieder einen der altbekannten gelben „Sie waren leider nicht anzutreffen, ihr Paket befindet sich bei Antje Pode“-Zettel vorgefunden und aus dem Vorhaben, nur mal schnell ihr Paket abzuholen, saß sie anschließend bei einer Tasse Tee in Antjes gemütlicher Rentnerwohnung. Auch wenn die beiden Frauen mehrere Jahre trennten, konnten sie sich herrlich über den Vorweihnachtsstress und verrückte Verwandte austauschen. Bei der Gelegenheit hatte Mirjam erwähnt, dass sie ihrer besten Freundin Alicia noch den neuen Band einer Liebeskomödie kaufen wollte. Antje hatte daraufhin vorgeschlagen, ihr das Buch mitzubringen, da sie sowieso die Buchhandlung aufsuchen wollte. Tatsächlich hatte Mirjam am gestrigen Abend vor ihrer Tür ein säuberlich eingepacktes Buch vorgefunden, verpackt wie nur Buchhändler es mit einer Leichtigkeit und Präzision vermögen. Diesen Abend würde sie nun wohl damit verbringen, sämtliche Geschenke zu suchen, zu verpacken und kleine selbstgemalte Zettel anzubringen, damit sie nicht den Überblick verlor, wem sie welches Geschenk zukommen lassen wollte. Dann würde sie zu Bett gehen und sich auf den kommenden Abend freuen: Seit Jahren hatten sie und Alicia die Tradition, sich am 23. Dezember abends zu treffen, gemeinsam Plätzchen zu essen, Tee zu trinken und beim „Tatsächlich Liebe“-Gucken Kraft zu tanken für die kommenden Feiertage. Dabei tauschten sie ihre Geschenke aus, die sie aber erst an Weihnachten öffnen würden. Normalerweise telefonierten sie dann, wenn die Weihnachtsfeiertage vorbei waren, lange miteinander, erzählten sich gegenseitig vom Chaos und den tollen Geschenken und bedankten sich beim jeweils anderen.


    Deswegen war Mirjam umso überraschter, als ihr Handy am Weihnachtsabend klingelte und Alicias Nummer im Display zu sehen war. Sie entschuldigte sich bei ihrer Familie, die gerade die kleinste Cousine Mirjams davon abhielt, die Kugeln vom Weihnachtsbaum zu pflücken und mit entzücktem Quietschen auf den Boden zu werfen, und ging in die Küche, um den Anruf entgegenzunehmen.


    „Alicia? Ist etwas passiert?“


    „Fröhliche Weihnachten erstmal, liebste Mirjam!“


    „Oh, ja! Natürlich! Fröhliche Weihnachten! Ich hab mich nur gewundert, warum du anrufst.“


    „Ich dachte, das wüsstest du? Wegen der Karte! Du gehst doch bestimmt auch hin oder?“


    „Welche Karte?“


    „Na, die Karte, die du zu meinem Geschenk gelegt hast!“, rief Alicia etwas verwundert. „Mit der Einladung zum Weihnachtskonzert. Das ist doch heute um Mitternacht!“


    Jetzt war Mirjam endgültig verwirrt. „Du musst da etwas verwechseln, ich habe dir keine Karte geschenkt.“


    „Mirjam-Mäuschen, ich weiß ja, dass dein Job stressig ist, aber du hast mir den neuen Band von Sophia Fuga geschenkt, den ich mir gewünscht habe und zudem eine Eintrittskarte zum Weihnachtskonzert, das heute um Mitternacht stattfinden soll. Ich finde das ja eine großartige Idee.“, plapperte Alicia weiter. „Unsere Familien verschwinden doch eh noch vor 22 Uhr und dann können wir beide uns einen schönen Abend machen. Das war bisher die beste Weihnachtsidee, die je jemand für mich hatte. Ich denke mal, ich soll fahren? Dann hole ich dich ab? Du bist bei deiner Mutter nehme ich an? Okay, ich werde dann um 23 Uhr vorbeikommen. Oh nein, mein Opa will ein Lied auf der Blockflöte spielen, wir sehen uns dann später!“


    Aufgelegt. Verwundert starrte Mirjam das Handy an. Alicia war nicht zu stoppen gewesen. Von welcher Karte redete sie? Mirjam hatte ihr mit Sicherheit keine Eintrittskarte geschenkt, auch wenn sie beide große Konzertfans waren. Aber sie hatte ja auch gar nicht das Buch gekauft! Hatte Antje eventuell die Karte jemandem schenken wollen und sie war versehentlich in der Geschenktüte für Alicia gelandet? Ach herrje, Weihnachten könnte komplizierter nicht sein. Schnell wählte Mirjam Antjes Nummer. Womöglich wollte die herzensgute Frau sogar selbst auf das Konzert und konnte nur die Karte nicht finden? Doch das kurze Telefongespräch verwirrte Mirjam nur noch mehr: Antje hatte noch nie von einem Weihnachtskonzert gehört und auch keine Karte für andere gekauft. Alicia musste da etwas verwechselt haben! Doch viel länger konnte Mirjam über das Mysterium nicht nachgrübeln, die Familie rief sie zum gemeinsamen Singen, anschließend wurde noch ein neues Brettspiel ausprobiert und dann verabschiedeten sich Teile der Familie allmählich. Als Alicia dann pünktlich um 23 Uhr bei Mirjams Eltern klingelte, hatte ihr Gehirn weiterhin keine Idee, wie diese Karte zu ihrem Geschenk hinzugekommen war.


    „Einladung zum Weihnachtskonzert. Montag, 24.12.2018, Punkt Mitternacht, Marktplatz am Wasserturm. Einladung Nr. 04“ las Mirjam vor, als sie neben Alicia im Auto Platz nahm. „Ernsthaft, Alicia, von mir ist das nicht!“


    Alicia warf ihr einen kurzen Blick zu. „Also das ist dann wirklich seltsam. Aber das ändert ja nichts daran, dass wir jetzt eine Einladung haben und deswegen zumindest mal schauen können, was es damit auf sich hat. Wäre doch eine Verschwendung, wenn wir es einfach ignorieren.“


    Doch die Verwunderung war noch größer, als sie sahen, dass rund um den Marktplatz, der um diese Uhrzeit eigentlich komplett verlassen war, mehrere Autos parkten und auf dem Platz Stühle standen und sich davor ein Orchester aufgestellt hatte. Sie parkten, wickelten sich dicht in ihre Wintermäntel und liefen zum Platz hinüber. „Hier steht Einladung Nr. 04“, sagte Alicia. „Ich vermute mal, damit ist Sitzplatz Nr. 4 gemeint.“ Zielstrebig steuerte sie auf die erste Reihe zu. Mirjam hielt sie zurück: „Und was mach ich? Ich habe keine Karte bekommen?“. Alicia schaute sich kurz um und raunte zurück: „Platz 3 ist noch frei und selbst wenn ihn jemand besetzen will: Das ist ja ein öffentlicher Platz, du kannst also auch einfach daneben stehen bleiben und es anhören.“


    Nach und nach füllten sich die grob 20 Stühle. Mirjam beobachtete, dass so gut wie alle Personen sehr unsicher schauten und meist alleine kamen. Hatten sie alle eine überraschende Einladung bekommen? Wieso schien keiner zu wissen, dass ein Konzert stattfinden würde? Plötzlich spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter. „Entschuldigen Sie bitte“, sprach sie ein älterer Mann an. „Ich glaube, Sie sitzen auf meinem Platz.“ Sofort sprang Mirjam auf, entschuldigte sich und lies ihn platznehmen. Sein Blick wanderte zu Alicia neben ihm und nun sah auch er verwirrt aus. Er wandte sich zu ihr: „Haben Sie die Karte für Platz Nr. 4?“, wollte er wissen, worauf Alicia sie ihm zeigte. „Seltsam“, murmelte er. „Seltsam. Diese Karte war doch eigentlich für…Einen Moment bitte!“ Er stand auf und verschwand.


    „Verstehst du das?“, fragte Mirjam.


    „Naja. Offensichtlich war die Karte weder von dir, noch für mich.“, sagte Alicia, eine leichte Enttäuschung in der Stimme.


    Die anderen Plätze hatten sich mittlerweile gefüllt und die Menschen kamen miteinander ins Gespräch. Mirjam bemerkte, dass jeweils jüngere neben jüngeren und ältere neben älteren saßen. Sie wollte Alicia gerade darauf aufmerksam machen, als der Mann zurück kam. Er lächelte beide an: „Das Konzert sollte ja eine Überraschung für alle sein, aber jetzt haben Sie beide mich überrascht.“ Alicia und Mirjam starrten ihn verwirrt an. „Hubert Manner“, stellte er sich vor. „Mir gehört der kleine Buchladen dort an der Ecke. Nächstes Jahr muss ich ihn leider schließen – ich bin nicht mehr fit genug – und so habe ich mir gedacht, ich tue meiner Gemeinde noch etwas Gutes und bringe Menschen zusammen, die sich sicherlich gut verstehen würden.“ Mit einem Grinsen sah er sich um. „Scheint ja auch zu klappen. Wissen Sie, als Buchhändler lernt man die Menschen sehr gut kennen: Wer mag das Geheimnisvolle, wer sehnt sich nach Romantik, wer möchte in Fantasiewelten abtauchen, wer mag das Historische, wer das Gefährliche, wer sucht Spaß und wer möchte seinen Horizont erweitern. Und da habe ich ihnen eben in letzter Zeit in ihren neu gekauften Büchern eine Einladung versteckt.“


    „Sie haben die Leute hier verkuppelt?“, lachte Alicia auf.


    „So sagen das die jungen Leute“, grinste er. „Aber scheinbar kam meine persönliche Begleiterin offenbar nicht an eine Karte. Aber bitte, nehmen Sie Platz und genießen Sie das Konzert. Es sollte in wenigen Minuten anfangen.“


    Mirjam dachte kurz nach, dann sah sie Alicia an: „Ich brauche deine Autoschlüssel! Ich glaube, ich weiß, wen Herr Manner meinte. Und diese Person sollte definitiv die Chance bekommen, dieses Weihnachtskonzert zu erleben.“

  • Der 18. Dezember von Sinela



    Zeit


    Mit einem leisen „klack“ fiel die Haustür ins Schloss. Anna Hämmerle atmete auf – endlich zu Hause! Sie ging in die Küche, stellte die Einkaufstaschen auf den Tisch und setzte sich auf einen der daneben stehenden Stühle. Mit einem tiefen Seufzer zog sie ihre Schuhe aus. Sie hätte die neuen Stiefeletten nicht ausgerechnet heute einweihen sollen, wo nach einem langen Arbeitstag auch noch die Wocheneinkäufe auf dem Plan standen. Mit einem wohligen Stöhnen streckte sie die Beine aus. Nur ein paar Minuten, dachte sie. Heute Abend wollte sie es ruhig angehen lassen. Die Woche war lang gewesen, jeden Tag Überstunden, auch am heutigen Samstag hatte sie arbeiten müssen. Es tat gut, einfach so dazusitzen, aber es half ja nichts, die Einkäufe müssten in den Kühlschrank … Frau Hämmerle sprang auf, da hatte sie ja gar nicht mehr daran gedacht! In Socken räumte sie in rascher Folge die Taschen aus; legte die Pizzen, das gefrorene Gemüse, die Fertiggerichte und das Eis in die Gefriertruhe; die Wurst, den Käse, Joghurt, Quark und die Milch in den Kühlschrank, alles andere wanderte in die entsprechenden Schränke. Anna atmete auf – geschafft! Jetzt ein schönes heißes Bad zum Entspannen und dann ein gemütlicher Abend auf dem Sofa mit einem guten Buch.

    „Anna? Bist du das?“

    Oh nein, an ihre Mutter hatte sie gar nicht mehr gedacht. Es war auch noch ungewohnt, da sie erst seit zwei Wochen bei ihnen im Haus wohnte. Die Alternative wäre ein Seniorenheim gewesen und dagegen hatte sich Elisabeth Randecker, von allen liebevoll nur „Oma“ oder „Oma Elisabeth“ genannt, vehement gewehrt. Sie sah zwar nicht mehr so gut, war aber noch gut zu Fuß und auch im Kopf noch total fit, und das, obwohl sie schon 74 Jahre alt war. Annas Bruder lebte in einer kleinen 1-Zimmer-Wohnung, sie seit ihrer Scheidung mit ihrer Tochter in einem großen Haus, da war eigentlich von vorneherein klar gewesen, bei wem ihre Mutter einziehen würde.

    „Ja, Oma, ich bin es.“

    „Ach, das ist ja schön, dass du schon zu Hause bist.“

    Schon? fragte sich Anna. Es ist bereits 18 Uhr!

    „Könntest du Karin und mich nach Bad Cannstatt fahren? Wir haben doch heute unseren Bingo Abend und Karins Tochter, die uns fahren wollte, ist krank geworden.“

    „Tut mir leid, es geht heute Abend nicht. Ich habe eine lange Arbeitswoche hinter mir und möchte jetzt einfach nur noch meine Ruhe haben.“

    „Aber Anna, es wäre doch ...“

    „Oma, ich fahre jetzt nicht mehr in der Weltgeschichte herum, nur damit deine Freundin und du einen vergnüglichen Abend habt. Du kannst ja fernsehen.“

    Oma Elisabeth schaute ihrer Tochter, die mit schnellen Schritten die Küche verließ, traurig hinterher. Das bisschen Zeit hätte sich Anna ruhig nehmen können, um ihr eine Freude zu machen.


    Saskia Hämmerle, eine etwas pummelige 12-jährige, kontrollierte noch einmal die Tasche, die sie für das Fildorado gepackt hatte. Das große Duschtuch zum darauf liegen, zwei kleine Handtücher zum Abtrocknen, Badeschuhe, Schwimmbrille, Badeanzug, Geldbeutel – doch, sie hatte alles. Sie nahm die Tasche und ging nach unten in die Küche um sich dort noch etwas zum Essen und Trinken mitzunehmen. Ein Blick auf die Uhr, sie musste sich beeilen, sie war mit einigen Freundinnen an der Kasse des Hallenbades verabredet und schon spät dran. Schnell packte sie eine Flasche Mineralwasser und zwei Olgabrezeln, die ihre Mutter gestern mitgebracht hatte, ein und wollte gerade zur Haustüre hinaus, als sie ihre Oma rufen hörte.

    „Saskia, warte doch mal.“

    Das junge Mädchen drehte sich zu der älteren Frau, die langsam die Treppe herunterkam, um.

    „Was gibt es denn Oma?“

    „Ich möchte bei dem schönen Wetter so gerne ins Cafè gehen. So ein großes Stück Schwarzwälder Kirsch-Torte würde dir doch bestimmt auch schmecken, deshalb wollte ich dich fragen, ob du mich begleiten würdest.“

    Saskia lief schon bei dem Gedanken an die leckere Torte das Wasser im Mund zusammen, aber sie wollte ihre Freundinnen nicht versetzen.

    „Tur mir leid, Oma, aber ich bin verabredet. Wir wollen ins Fildorado gehen.“

    „Könnt ihr das nicht morgen machen? Ich würde so gerne ins Cafe gehen bei dem sonnigen Wetter. Dort kann man sich so schön nach draußen setzen.“

    „Oma, es geht wirklich nicht. Meine Freundinnen warten auf mich.“

    „Die könntest du doch anrufen und ihnen sagen, dass ...“

    Saskia schaute auf ihre Uhr, rief ihrer Oma „ich kann nicht, tut mir leid“ zu, drehte sich um und rannte los. Nun würde sie auf jeden Fall zu spät kommen.


    Die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel, es war für Oktober außergewöhnlich warm – und deshalb war nicht nur das Hallenbad gut besucht, sondern auch auf der Liegewiese lagen viele Menschen. Die vier Mädchen waren froh gewesen, dass sie noch einen Platz gefunden hatten, der ihnen zusagte. Während zwei von ihnen gleich zum Schwimmen gingen, legte sich Saskia erst mal auf ihr Duschtuch. Sie wollte sich nach der Hektik im Vorfeld erst mal ein wenig ausruhen. Julia, die erst vor zwei Monaten in die Nachbarschaft gezogen war und mit der sie sich angefreundet hatte, setzte sich neben sie.

    „Du warst ja ganz schön spät dran, ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.“

    „Meine Oma hat mich aufgehalten. Stell dir vor, sie wollte doch tatsächlich heute mit mir in ein Cafè gehen. Als hätte ich bei dem schönen Wetter nichts besseres zu tun.“

    Julias Augen füllten sich mit Tränen, die ihr kurz darauf über die Wangen liefen. Sie schluchzte in einem fort.

    „Hey, was ist denn los?“

    Julia beruhigte sich langsam und holte ein Taschentuch aus ihrer Badetasche, wischte sich die Tränen weg und putzte sich die Nase.

    „Es ist nur … als du deine Oma erwähnt hast, musste ich an meine Oma denken. Sie ist im letzten Jahr gestorben und sie fehlt mir so sehr. Ich würde viel darum geben, wenn ich mit ihr in ein Cafè gehen könnte.“

    Saskia schaute ihre Freundin betroffen an. Das hatte sie nicht gewusst. Sie hatte auch noch nie darüber nachgedacht, dass ihre Oma sterben könnte. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie das auch nicht. Sie stand auf.

    „Komm, lass uns ins Wasser gehen und einige Runden schwimmen.“

    Julia schniefte noch einmal, erhob sich ebenfalls und ging mit Saskia in Richtung der Wasserbecken.


    Weihnachtsmusik lief in den Kaufhäusern, die so voll waren, dass man kaum vorwärts kam. Anna Hämmerle bahnte sich einen Weg durch die Menschenmassen, musste dabei aber aufpassen, dass ihre Mutter mit ihr Schritt halten konnte. Warum nur hatte sie sich breit schlagen lassen und war mit ihr an einem Samstagmorgen Mitte Dezember in die Stadt zum Einkaufen gefahren? Hätte der lieben Oma nicht früher einfallen können, dass sie einen neuen Wintermantel brauchte? Gut, wenn sie ehrlich war, hatte diese schon vor vier Wochen davon gesprochen, aber Anna hatte einfach keine Zeit gehabt. Damals nicht und jetzt eigentlich auch nicht. Ihr Blick fiel auf einen großen Ständer mit Wintermänteln, zu dem sie zusammen mit Oma Elisabeth ging.

    „Ich weiß nicht, irgendwie gefallen mir die Mäntel alle nicht. Der hier ist mir zu modern geschnitten, bei dem ist der Stoff so dünn, da friere ich bestimmt drin und der hier ...“

    „Mir reicht es jetzt“, fuhr Anna ihre Mutter an. „Das ist jetzt das dritte Kaufhaus, in dem wir sind. An allen Mänteln, die du dir angeschaut hast, hattest du etwas auszusetzen. Wir gehen jetzt nach Hause und bestellen dir einen Mantel im Internet!“


    „Oh, schau mal, Anna, der Weihnachtsmarkt, lass uns da doch hingehen.“

    Elisabeth Randecker blieb stehen und holte tief Luft.

    „Dieser Geruch nach Lebkuchen und Glühwein, wie lange war ich schon nicht mehr hier.“

    „Und das wird sich auch nicht ändern, denn wir fahren jetzt nach Hause!“

    „Bitte, nur eine halbe Stunde, ich möchte so gerne ein wenig zwischen den Buden umherlaufen.“

    „Wir fahren nach Hause! Ich habe den halben Tag damit vergeudet, mit dir durch überfüllte Kaufhäuser zu gehen, die dort laufenden Weihnachtslieder kommen mir zu den Ohren raus, ich muss noch Geschenke einpacken, den Weihnachtsbaum kaufen, aufstellen und dekorieren, Karten verschicken, das Essen für die Feiertage kaufen, deshalb – wir fahren jetzt nach Hause!“

    Anna drehte sich um und ging weiter zum Parkhaus. Ihre Mutter folgte ihr langsam, zum einen wegen ihrer verminderten Sehkraft, zum anderen, weil sie mit den Tränen zu kämpfen hatte. Sie wäre so gern auf den Weihnachtsmarkt gegangen, warum konnte ihre Tochter ihr diesen kleinen Wunsch nicht erfüllen? War Weihnachten nicht ein Fest der Liebe?


    Saskia nahm ihre Schlittschuhe aus dem Schrank, verließ ihr Zimmer und ging den Flur entlang. Als sie an der angelehnten Tür des Zimmers, in dem ihre Oma lebte, vorbeiging, hörte sie, wie diese mit jemanden redete. Saskia blieb stehen. Wer konnte das denn sein? Ihre Mutter war unterwegs, außer ihr und Oma Elisabeth war niemand im Haus. Vorsichtig öffnete sie die Zimmertüre und schaute hinein. Ihre Oma saß am Tisch und hatte ein Foto ihres vor einigen Jahren verstorbenen Mannes in der Hand.

    „Ach Hans, du fehlst mir so sehr. Ich denke gerne an die Zeit zurück, in der wir zusammen waren. Wir haben so viel gelacht, so viel unternommen und als dann Anna kam … ach Anna, was war sie doch für ein liebes Kind. Sie hatte so viel Freude, wenn wir im Schnee spazieren gegangen sind, über den Weihnachtsmarkt .. . ich wäre heute so gerne über den Weihnachtsmarkt gegangen, hätte mir die Auslagen in den Buden angeschaut, vielleicht ja auch etwas gekauft. Doch, ganz bestimmt hätte ich mir etwas gekauft. Aber Anna hatte keine Zeit. Sie hat nie Zeit für mich, keiner hat hier Zeit für mich. Was soll ich denn noch hier? Ich möchte zu dir kommen, mit dir zusammen sein und niemanden mehr zur Last fallen.“

    Oma Elisabeth fing an zu weinen. Saskia wollte so gerne zu ihr laufen, sie trösten, aber dann wüsste ihre Oma, dass sie gelauscht hatte. Vorsichtig schloss sie die Türe und ging wieder auf ihr Zimmer. Schlittschuh laufen wollte sie jetzt nicht mehr gehen, die Lust dazu war ihr vergangen.


    Der große Tannenbaum stand majestätisch in einer Ecke des Wohnzimmers. Geschmückt mit blauen und goldenen Kugeln, angetan mit leuchtenden LED-Kerzen, behangen mit Engeln und Lebkuchen, gekrönt von einem goldenen Stern an der Spitze – Anna war sehr zufrieden mit ihrem Weihnachtsbaum. Die Geschenke hatte sie bereits darunter gelegt, es waren wieder mal mehr geworden als sie ursprünglich vorgehabt hatte. Ihr war bewusst, dass sie dadurch auch ihr schlechtes Gewissen ihrer Mutter und ihrer Tochter gegenüber beruhigen wollte. Sie würde gerne mit beiden mehr Zeit verbringen, mehr mit ihnen unternehmen, aber die Arbeit und der Haushalt ließen dies einfach nicht zu. Im nächsten Jahr würde alles anderes werden, das nahm sie sich fest vor.


    „Oma! Saskia! Kommt ihr bitte runter, wir wollen noch vor dem Abendessen die Bescherung machen.“

    Anna ging zurück in das Wohnzimmer, welches auch kurz darauf die beiden von ihr gerufenen Familienmitglieder betraten. Saskia sah den Baum mit großen Augen an.

    „Mama, das sieht ja toll aus!“

    „Danke mein Kind. Und jetzt lasst uns die Geschenke auspacken, ja?“

    Das ließ sich Saskia nicht zweimal sagen. Sie stürzte regelrecht zum Weihnachtsbaum, nahm ein Geschenk in die Hand und las den darauf stehenden Namen.

    „Oma, das ist für dich.“

    Die ältere Frau nahm das Päckchen in die Hand. Während Saskia bei ihren Geschenken das Papier drumherum einfach herunter riss, öffnete ihre Oma dieses ganz vorsichtig und faltete es. Man konnte nie wissen, vielleicht konnte man es ja irgendwann noch einmal verwenden. Geschenk um Geschenk wurde aufgemacht und Saskia freute sich über die Schleichpferde und den dazugehörenden Stall genauso wie über das neue Computerspiel; Anna tat dies bei dem handgestrickten Pullover, den sie von ihrer Mutter bekommen hatte. Auch über das Eau de Toilette von ihrer Tochter freute sie sich sehr, der Geruch war einfach nur toll.

    „Gefällt dir die Patchwork-Decke?“, fragte Anna ihre Mutter. „Sie wird dich in den kalten Wintermonaten schön warm halten, wenn du vor dem Fernseher sitzt. Aber du kannst sie auch als zusätzliche Decke zum Schlafen nehmen.“

    „Sie ist wirklich sehr schön. Und so kuschelig“, antwortete Oma Elisabeth. „Vielen Dank“.

    Saskia setzte sich zu ihrer Mutter auf das Sofa und überreichte ihrer Oma einen großen Umschlag.

    Die ältere Frau schaute ihre Enkeltochter überrascht an, hatte sie doch von ihr schon Handschuhe, Mütze und einen Schal bekommen. Mit noch einem Geschenk hatte sie nun wirklich nicht gerechnet. Sie öffnete den Umschlag und zog eine Karte heraus. „Zeit-Gutschein“ stand darauf. Verblüfft blickte sie Saskia an, um sich dann aber gleich wieder der Karte zu widmen. Vorsichtig schlug sie diese auf und begann zu lesen.

    „Liebe Oma!

    Ich möchte dir im nächsten Jahr jeden Monat 10 Stunden meiner Zeit schenken. Ich weiß, das ist nicht viel, aber ich muss ja auch noch in die Schule gehen und Hausaufgaben machen. Und ab und zu muss ich ja auch der Mama helfen, abspülen und abtrocknen, auch mal saugen, aber das macht die Mama dann doch meistens selbst. Was wir in den 10 Stunden machen, darfst du entscheiden.“

    Ich habe dich ganz toll lieb,

    Deine Saskia.“

    Oma Elisabeth ließ den Brief sinken. Tränen liefen ihr über beide Wangen.

    „Oma, Oma, bitte nicht weinen! Ich wollte dir doch eine Freude machen, bitte, bitte, sei nicht traurig.“

    Mit tränenverschleiertem Blick schaute die ältere Frau ihre Enkeltochter an.

    „Ich bin nicht traurig, im Gegenteil, ich weine vor Glück. Das ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich in meinem ganzen Leben bekommen habe.“

  • Der 19. Dezember von Dieter Neumann



    Adventslesung


    Der Schaffner ist nett.

    Ob ihm denn irgendwelche Störungen auf der Strecke bekannt seien, frage ich ihn. Er sieht auf meinen Computerausdruck, einstmals auch ‚Fahrkarte‘.

    „Nach Dortmund?“, fragt er freundlich. „Nö, müsste alles klar gehen.“

    „Na dann“, sage ich. „Hier ist es aber viel zu heiß.“

    „Sie müssen den Regler auf KALT drehen, also runter, dahin, wo das Thermometer blau ist.“

    „Hab ich schon. Mehr runter geht nicht, sonst bricht der Hebel ab.“

    „Ach ja, das hier ist Wagen zwölf, da ist die Anlage kaputt. Tut mir leid.“

    Ich lehne mich zurück.

    „Trotzdem gute Reise“, sagt der nette Mann und zieht die Abteiltür hinter sich zu.

    Ich verspüre sofort den unwiderstehlichen Drang, einen frischen Aufguss auf den Saunaofen zu kippen, und reiße die Schiebetür zum Gang wieder auf, damit ein wenig Luft hereinkommt. Es rattert und rumpelt und quietscht erbärmlich, es zieht im Genick. Aber der Schweiß trocknet.

    Alles wie immer. Vorsichtige Entspannung. In Hamburg habe ich siebenunddreißig Minuten Luft bis zum Anschlusszug. Reichlich Zeit.

    Ich denke an meine vorweihnachtliche Lesung heute Abend. Fast ausverkauft, hat die Buchhändlerin gesagt.

    „Sehr geehrte Fahrgäste“, reißt mich der Lautsprecher – aufgedreht wie die Heizung – aus sanftem Dösen, „wegen einer Stellwerksstörung werden wir einige Minuten auf der Strecke halten müssen.“

    Ohrenbetäubendes Kreischen. Alarmiert blicke ich aus dem verschmierten Fenster. Nichts als graue Wiesen. Der Zug bremst, hält. Steht.

    Und steht.


    „Verehrte Fahrgäste, in wenigen Minuten erreichen wir Hamburg Hauptbahnhof. Wir haben nun fünfundvierzig Minuten Verspätung. Leider werden daher die meisten Anschlusszüge nicht mehr erreicht. Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten.“

    Ich stürze mich unternehmungslustig auf den Bahnsteig. Wie geht´s jetzt weiter? Wann und auf welchem Gleis – und überhaupt?

    Über mir plärrt plötzlich eine Frauenstimme: „Eine Durchsage für Gleis elf! Der Intercity 2229 nach Passau …“ – verdammt, das wäre doch meiner gewesen! – „… hat heute etwa fünfzig Minuten Verspätung. Abfahrt von diesem Gleis.“

    Das wird ja lustig. Noch steht da der Schrotthaufen, mit dem ich aus Flensburg gekommen bin. Doch es gleicht einem technischen Wunder: Der Zug bewegt sich auf einmal, beschleunigt rasant und fährt davon. Direkt dahinter naht nun der Passauer, der in Dortmund hält. Hätten die ein anderes Gleis freimachen können, wäre der längst weg gewesen. So fügt sich alles zu adventlicher Harmonie.

    „Fahrgäste an Gleis elf, bitte steigen Sie zügig ein, der Zug fährt gleich ab!“

    Machen wir, aber so was von zügig. Der Herr in Mantel und Hut vor mir besonders. Er schwingt beim Erklimmen der Stufen seinen Aktenkoffer direkt in mein Gesicht. Und schon geht´s los.

    Die halbe Stunde, die wir bis Dortmund noch verlieren („Verehrte Fahrgäste, leider müssen wir wegen einer Stellwerksstörung …“) – geschenkt.

    Sieben Minuten vor Beginn der Lesung bin ich da. Die Leute hatten sich bereits Sorgen gemacht. Weicheier.


    ***


    „Der IC 2028 nach Hamburg hat etwa zwanzig Minuten Verspätung. Bitte beachten Sie: Der Zug fährt heute ohne Wagen vierzehn!“

    Dortmund ist einer meiner Lieblingsbahnhöfe. Man kommt nirgends in Versuchung, die Wartezeit mit einem Bier zu überbrücken. Dafür kann man an fünf verschiedenen Kiosken belegte Brötchen kaufen. Im Ruhrgebiet scheinen sie gern belegte Brötchen zu essen.

    Das späte Frühstück im Hotel war prima, ich brauche keine belegten Brötchen. Ich bräuchte nun einen Zug, der mich nach Hause bringt.

    Gemach, alter Freund, gemach. Erst überlegen wir mal, was wir machen. Ich hab schließlich im Wagen Nummer vierzehn einen Platz reserviert. Also in dem Wagen, der heute nicht fährt. Vielleicht haben sie ihn ausrangiert, weil es ein Problem mit der Heizung gab. Eigentlich nur konsequent. Suche ich mir eben einen anderen Platz.

    In Bremen reißt ein erfreulich viel dickerer Mann als ich die Tür auf und brüllt mich an: „Sie sitzen auf dem Platz, den ich reserviert habe!“ Sein Gesicht ist ungesund gerötet. „Und das“, keucht er, „wo der Zug sowie schon Verspätung hat!“

    Mein freundliches Angebot, doch Platz einundsechzig in Wagen vierzehn zu nehmen, ein toller Fensterplatz mit Tisch, immer noch reserviert, überzeugt ihn irgendwie nicht.

    „Ich hole den Schaffner, das sage ich Ihnen. Dann können Sie was erleben!“ Fort ist er.

    Kommt übrigens nie wieder, der Mann. Ich mache mir schwere Gedanken, ihm könne etwas zugestoßen sein. Dafür sorgt der Abteillautsprecher für Ablenkung: „Verehrte Fahrgäste, wegen einer Stellwerksstörung auf der Strecke wird sich unser Zug …“ Die Leute im Abteil stöhnen. Dann kommt noch etwas von in Hamburg nicht erreichbaren Anschlusszügen. Die Leute winseln.


    Es gibt einen Intercity nach Dänemark, der fährt nur zweimal am Tag. Und genau den erwische ich noch. So kann ich mir nach vierzig Minuten Verspätung die zwei weiteren Stunden Wartezeit im Hauptbahnhof und ein Umsteigen in Neumünster mit nochmals zwanzig Minuten Wartezeit sparen. Obwohl, das muss gesagt werden: Den Bahnhof Neumünster mag ich eigentlich auch. Da kommt man nicht einmal in Versuchung, diese dick machenden belegten Brötchen zu kaufen.

    Ach, die Dänische Staatsbahn ist einfach toll. Leise rauscht die Karosse über die Schienen, während ich in einem breiten Fauteuil fläze und meiner Holden eine whats app sende: Komme etwa eine Dreiviertelstunde später in Flensburg an.

    „Verehrte Fahrgäste, es gibt ein Problem mit der Technik an unserem Zug. Wir werden jetzt anhalten, damit der Lokführer das abklären kann.“

    Direkt hinter Hamburg ist es landschaftlich nicht sonderlich reizvoll, finde ich. Nur Lagerschuppen, Gleise und abgestellte Waggons. Der Lokführer hastet am Fenster vorbei, ein gefährlich aussehendes Gerät in der Hand. Ich bin handwerklich eine Niete, aber dass man so ein Ding braucht, um einen Zug zu reparieren …

    „Verehrte Fahrgäste“ – eine halbe Stunde später, Dunkel senkt sich über das triste Szenario da draußen, die whats app wurde auf eineinhalb Stunden aktualisiert – „leider haben wir am vorletzten Wagen ein technisches Problem, das eine Weiterfahrt unmöglich macht. Wir haben uns dazu entschlossen, die letzten beiden Waggons abzukuppeln und ohne sie weiterzufahren.“

    ‚Nevada Pass‘, fährt es mir durchs Hirn. Alistair McLean war früher einer meiner Lieblingsschreiber, muss man wissen.

    „Wir bitten die Fahrgäste aus den letzten beiden Wagen auszusteigen und in den Waggons davor Platz zu nehmen, damit wir die Fahrt fortsetzen können. Für das Umsteigen und das Abhängen des defekten Zugteils planen wir etwa eine halbe Stunde ein. Danach setzen wir die Fahrt unverzüglich fort. Wir bedauern …“

    Nach meiner neuesten whats app – ‚etwa zwei Stunden, sie mussten einen Teil des Zuges abhängen‘ – fragt meine Holde gerade: Bist du ganz sicher, dass du nichts getrunken hast?

    Ich antworte darauf gar nicht, trinke den letzten Schluck von der pisswarmen Cola light und denke an was richtig Schönes. Nein, nicht an sowas. Ans Segeln im Mittelmeer denke ich. Intensiv.

    Und dann komme ich an. Mitten in der Nacht.

    Flensburg bei Nacht ist schön, ehrlich. Vor allem im Advent. All die Lichter.

    Ach ja.


    In dieser Nacht träume ich von den beiden einsamen Waggons da auf freier Strecke hinter Hamburg. Schnöde abgehängt, ganz allein, kalt und verlassen. Kein schönes Weihnachten für die. Plötzlich fahre ich hoch, kalten Schweiß auf der Stirn. Ich frage mich, wie die nachfolgenden Züge eigentlich an denen vorbeikommen …


    Nachwort: Dies alles hat genau so stattgefunden, wie hier erzählt. Auf einer Reise von Flensburg nach Dortmund und zurück an zwei aufeinander folgenden Tagen. Nichts ist erfunden, lediglich war es nicht im Advent, sondern schon Mitte November. Aber so viel dichterische Freiheit musste sein, sonst wäre das ja nichts für den Adventskalender gewesen …


    Frohe Weihnachten euch allen!

  • Der 20. Dezember von polli



    Vom Geschichtenerzählen


    Beim Aufräumen fiel mir ein Briefumschlag mit einem blaugrünen „Danke“-Aufkleber in die Hände. Seine Form ähnelte dem Umriss einer Libelle mit ausgebreiteten Flügeln. An das Schreiben darin erinnerte ich mich gut. Es kam aus der Anstalt und es galt meiner Lesung von Kurzgeschichten in einer der Wohngruppen dort. Wie es dort war, möchte ich euch erzählen.


    Mein Weg führte über die Anstaltsstraße, die heute einen neutralen Namen trägt. Am Haupteingang der Einrichtung nahm mich ein Mitarbeiter in Empfang und führte mich über das parkähnliche Gelände zu einem der alten Backsteingebäude, in dem früher die Schlafsäle waren. Wohngruppe F, das klang freundlich. Nach Einzelzimmern, sozialem Dienst und dem rechten Maß an Selbstverantwortung und Beaufsichtigung.


    Trotzdem blieb ein vages unbehagliches Gefühl. Mein Großonkel war damals nicht ohne Grund hier untergebracht worden. Mein Opa hatte ihn den Irren genannt und bei den Familientreffen am ersten Weihnachtstag dunkle Andeutungen gemacht, die ich als Kind nicht verstand.


    Der Aufenthaltsraum war vorweihnachtlich geschmückt. In der Ecke stand ein weinroter Ohrensessel, daneben ein Tischchen mit Häkeldecke, Leseleuchte und einem Teller mit Lebkuchenherzen. Gemütlich. Wohnzimmeratmosphäre. Ich musterte die Bewohner, die sich auf den Stühlen und dem breiten Sofa niederließen. Sie wirkten, hm, ganz normal. Ich ärgerte mich über meine Vorurteile. Wenn mich jemand zu einer Lesung einlädt, sollte ich den Leuten mit Freundlichkeit begegnen. Und nicht mit Argwohn.


    In der ersten Hälfte verlief die Lesung ohne besondere Vorkommnisse. Eine Frau vom sozialen Dienst begrüßte mich, stellte mich vor und bat mich, ein paar schöne Geschichten zu lesen. Der Ohrensessel sei extra für mich aufgestellt worden, sie alle hofften, dass ich mich bei ihnen wohlfühlen würde. Ich las. Und ich vergaß meine Bilder im Kopf.


    In der Pause bekam ich einen heißen Früchtetee serviert, Adventsmischung. Ich stand auf, reckte mich, dann richtete ich mich wie bei jeder Lesung auf Smalltalk mit dem Publikum ein. Die Frau vom sozialen Dienst machte den Anfang und stellte einige Fragen zu meinen Geschichten. Alles wie immer. Dann meldete sich einer der Zuhörer, er hob die Hand wie ein Schulkind und ich war versucht, ihm wie eine Lehrerin das Wort zu erteilen.

    „Wie geht das eigentlich, sich eine Geschichte auszudenken? Ist das eine Begabung?“, fragte er leise.

    Meine Überzeugung ist es, dass man sich besondere Fähigkeiten mit einem Mix aus Anstrengung, Freude und Ausdauer mit der Zeit erarbeiten kann. Das gilt meiner Meinung nach für das Geschichtenschreiben ebenso wie für Tischtennis, Kuchenbacken und Ukulelespielen.

    Ich antwortete: „Keine Begabung. Man fängt einfach an. Und man weiß nicht, wohin einen die Geschichte führt.“

    Die anderen hörten interessiert zu. „Können Sie das vielleicht mal vormachen? Wie Sie sich etwas ausdenken?“

    Na toll. Das Gespräch nahm eine Wendung, die mir nicht gefiel. Mich beim Finden eines Anfangs zu beobachten, nein. Ich fühle mich schon hilflos und unbehaglich, wenn ich ganz allein vor einem weißen Blatt Papier sitze. Um Zeit zu gewinnen, kehrte ich zum Ohrensessel zurück, arrangierte die Lebkuchenherzen neu und schob die Tasse mit dem Adventstee zur Seite. Dann hatte ich einen rettenden Einfall.

    „Wie man sich etwas ausdenkt, das können wir gern zusammen ausprobieren. Dazu brauche ich Ihre Hilfe. Haben Sie Lust mitzumachen?“

    Die Bewohner nickten.

    „In jeder Geschichte gibt es eine Hauptperson. Eine echte oder eine ausgedachte. Was meinen Sie, wer könnte in unserer Geschichte auftauchen?“

    Ich blickte auf der Suche nach Ideen zum Fenster.

    Einige Zuhörer folgten meinem Blick. „Eine Fee!“, rief jemand. „“Da draußen!“

    Ich stimmte ihm zu. „Genau. Eine Fee. Sie ist da draußen. Warum eigentlich?“

    „Weil sie draußen wohnt und uns durch das Fenster beobachtet.“

    Ich sah die Fee deutlich. Sie war ziemlich klein, deshalb bemerken wir Menschen sie nicht. Und sie blickte sehnsüchtig durch das Fenster, weil es bei uns so gemütlich war, so weihnachtlich geschmückt. Und sie war ganz allein da draußen. Am liebsten wäre sie zu uns gekommen, aber das ging nicht. Warum nicht?

    Die Bewohner hatten mehrere Vorschläge: Die kleine Fee hatte Angst, uns Menschen zu begegnen. Und sie konnte nicht hinein, denn das Fenster war geschlossen. Außerdem trauen sich Feen nur zu uns Menschen, wenn es dunkel im Haus ist.

    Das war einleuchtend. Ich schilderte also die Sehnsucht der Fee, zu uns zu gelangen, malte ihre Angst aus, auf einen echten Menschen zu treffen, und ließ sie dann ein paar Überlegungen anstellen, wie sie in der nächsten Nacht unbemerkt ins Haus gelangen könnte.

    „Wir lassen das Fenster etwas geöffnet, Dann kann sie rein.“

    „“Kann sie eigentlich fliegen?“

    „Klar kann sie fliegen. Wie eine Libelle. Das sieht man doch.“

    Ja, das sah ich.

    Wir erzählten uns, wie es die Fee schließlich schaffte, sich durch einen offenen Spalt des Oberlichts zu zwängen, wie sie ein paar Krümel von den Lebkuchenherzen naschte und sich hinter dem Vorhang versteckte, weil einer der Bewohner nachts wach wurde und im Flur auf und ab ging. Zuerst hatte sie Angst vor ihm, aber dann stellte sie fest, dass der gar nicht schrecklich war, er war nicht anders als kleine Feen, nur ziemlich groß. Später wurde die Fee müde und sie schaffte es rechtzeitig vor dem Morgengrauen, aus dem Fensterspalt zu schlüpfen.

    „Ist die Geschichte jetzt zu Ende? Schade!“

    „“Nein“, sagte jemand. „Sie ist nie zu Ende. Wir können sie ja weitererzählen, wenn wir Lust dazu haben.“

    Er hat recht. Wenn wir die richtigen Bilder im Kopf haben, sind unsere Geschichten nie zu Ende, wir können sie weitererzählen, jeden Tag aufs Neue.


    Ich danke den Bewohnern der Wohngruppe F herzlich für ihre Gastfreundschaft und ihre Fähigkeit, eine ganz normale Lesung zu etwas Besonderem zu machen. Die Einrichtung gibt es wirklich, die Bewohner und mich gibt es natürlich auch und, wie wir alle wissen: Da draußen gibt es eine kleine Fee. Mit Libellenflügeln.