Die Geschichte von Karl Mays Orientreise 1899 beruht dabei auf Tatsachen. Und auf alternativen Tatsachen. Und auf Tatsachen, die auf jeden Fall wahrer sind als alles, was Karl May selbst je behauptet hat.
Nachdem Philipp Schwenke ein Jahr zuvor an gleicher Stelle eine Lesung mit Nick Hornby moderiert hatte, saß er dieses Mal auf der Autorenseite – dort müsse man sich nicht so vorbereiten, müsse er sich keine Fragen ausdenken.
Auf der Suche nach einem Thema, bei dem man den Boden der Tatsachen verlassen könne, sei er auf Karl May gekommen. Statt Lügenpresse würde ein Journalist dann Prosa schreiben. Sein Vater sei ein großer Karl May Fan und als Kind sei er oft in Bad Segeberg gewesen, habe Pierre Brice dort mehrfach gesehen. Als Erwachsener habe er das alles aus den Augen verloren und sich erst nach dem Tod von Pierre Brice wieder damit beschäftigt. Karl May sei bereits 1912 gestorben und in den letzten zehn Jahres seines Lebens sei er sehr aktiv gewesen. Zwar habe er lange vermittelt, er selbst sei Old Shatterhand, sei jedoch tatsächlich erst mit 57 Jahren das erste Mal in den Orient gefahren, bewaffnet mit einem Badeker Reiseführer. Diese Reise sei eine totale Enttäuschung gewesen.
Das Arbeitszimmer von Karl May war vollgestopft von Erinnerungstücken an seine (angeblichen) Reisen. Ein ausgestopfter Löwe, Möbel aus aller Welt und der Henrystutzen. Damals hätte man ihm seine Geschichten geglaubt, obwohl er nur 1,66m groß war und keine breiten Schultern hatte. Philipp Schwenke sieht sich selbst als Karl May Fan, aber als noch größerer Fan der Cohen Brüder und es gebe nichts tragischeres und Komischeres als Männer, die sich selbst überschätzen.
Bis vor kurzem habe er so gut wie nichts über die Reisen von Karl May gewusst, sei sich aber sicher gewesen, dass es sich um einen großartigen Fall von Selbstüberschätzung handele. Karl May habe eine sehr komplexe Persönlichkeit gehabt, sei aus ärmlichen Verhältnissen gekommen und die Erwartungen an den einzigen Sohn seien erdrückend gewesen. Nachdem er auf die schiefe Bahn geriet, psychische Krankheiten und das Gefängnis hinter sich gelassen hatte, baute er sich später eine bürgerliche Existenz auf und wurde der beliebtestes Autor des Kaiserreichs. Seine Beliebtheit habe sogar noch angehalten, nachdem seine Lügen aufflogen.
Dann las Devid Striesow mit sichtlichem und hörbarem Vergnügen eine Passage vom Anfang der Schiffsreise, die in Genua begann. Karl May trifft beim Abendessen auf Leser und einen Zweifler... der Beweise fordert, dass Karl May tatsächlich 800 Sprachen kann. Mit viel Hingabe und Gestik deklamierte Devid Striesow das fiktive chinesische Gedicht – bis er und das Publikum sich die Lachtränen aus den Augen wischen mussten.
Philipp Schwenke entschuldigte sich bei Devid Striesow, denn beim Schreiben habe er nichts von einem Hörbuch geahnt und nicht nur Passagen in fiktivem Chinesisch einflochten, sondern auch noch zum Beispiel Georgisch, einer Sprache, die scheinbar alle Konsonanten der Welt aneinanderreihe.
Zu Karl Mays Lebzeiten sei viel weniger über den Rest der Welt bekannt gewesen. Es habe keine Auslandskorrespondenten und nur wenige Auswanderer gegeben. Die Geschwindigkeit von Informationen sei nicht so schnell wie heute und auch heute würden Menschen noch auf Hochstapler hereinfallen. Es erstaune ihn immer wieder, wie lange Hochstapler heutzutage noch durchkämen. Allerdings gebe es auch bessere Möglichkeiten für weitreichenden Betrug. Es reiche eine gut aussehende Webseite, damit man alle Ersparnisse von jemandem bekomme, dessen Wunschdenken stärker sei als Zweifel an den versprochenen 10% Rendite.
Karl May habe einen tiefliegenden Wunsch des Kaiserreichs bedient. Deutschland sei damals eine junge Nation gewesen und politisch kaum von Wert. Ein unbesiegbarer Held, vor dem alle Achtung hatten, kam da gerade recht. Old Shatterhand sei das Ideal vieler gewesen, attraktiv mit immensem Moralbewußtsein, christlich orientiert und jemand, der seine Feinde nur verurteilte, jedoch nie tötete.
Auf seiner Orientreise habe Karl May zwei Nervenzusammenbrüche erlitten, nicht zuletzt, weil er feststellen musste, dass er nicht Old Shatterhand sei.
Philipp Schwenke arbeitete fünf Jahre an dem Roman. Karl May sei ein Narzisst gewesen. Heute wäre er bei Facebook und Instagram sehr aktiv, wo wir uns alle viel spektakulärer darstellen würden. Im November 2016 sei dann jemand in das Weiße Haus gezogen, der bizarre Ähnlichkeit zu Karl May habe. Beide hätten ein schwarzes Loch in ihrer Seele, das sie durch Aufmerksamkeit Anderer füllen würden, die sie durch Flunkereien erringen. Beim Schreiben von „Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste“ habe er immer gedacht, dass Karl May seine Lügen doch nicht selbst geglaubt haben könne. Aber dann sei Donald Trump gekommen und seine Geschichte über die Anwesenden bei seiner Amtseinführung – trotz klarer Fotobeweise. Beide hätten auf ihren Versionen und Urteilsfähigkeit gepocht.
Während Karl May in Kairo vielleicht noch nicht einmal das Schiff verlassen habe, sei für Devid Striesow im Tonstudio extra eine authentische Atmosphäre geschaffen worden. Wüstenartige Hitze ohne Klimaanlage und trotzdem habe er den Roman wunderbar eingelesen.
Es folgte eine Textpassage, auf der Karl May sich durch das Gewusel eines Bazars in Kairo wühlt.
Als Kind habe er die Werke Karl Mays anders gelesen als heute, wo er um die Stärken und Schwächen wisse. Seine Gefühle seien komplexer als schlichtes Fantum (sic), denn beim Schreiben des Romans habe er ihn manchmal in den Arm nehmen wollen und manchmal schütteln. Er sei nach wie vor ein Fan dessen, was in den 1960ern aus Karl Mays Büchern wurde, insbesondere der Europa Hörspiele, auch wenn er heute deutlich höre, dass der Häuptling der Kiowa aus dem Rheinland gekommen sei.
Eigentlich habe er sich vorgenommen, während des Schreibens die kompletten Werke Karl Mays zu lesen, habe es jedoch nur bis zur Hälfte geschafft. Dafür habe er sehr viel über Karl May gelesen und insbesondere seine Romane über den Orient und sein Alterswerk. „Frieden auf Erden“ sei leider eines der schlechtesten Bücher, die Philipp Schwenk je gelesen habe. Biographisch sei es interessant, weil man deutlich die Sehnsucht nach Anerkennung herauslesen könne.
Er bedankte sich ausführlich bei der Karl May Gesellschaft und habe auf dem Grabstein Karl Mays zwei Indianerfedern abgelegt. Gleichzeitig könne er Alle verstehen, die seinen Roman als Ketzerei empfänden. Es sei ein Reiseroman, aber auch ein Eheroman. Während Karl May im Orient unterwegs war, bezichtigten ihn in Deutschland die ersten Zeitungen der Lüge und Pornografie.
Der Moderator merkte an, dass es abertausende Seiten an Sekundärliteratur über Karl May gebe, aber Philipp Schwenke sei der erste, der Karl May ins Schlafzimmer gezerrt habe. (Diese Passage wurde zur großen Belustigung aller Anwesenden vorgelesen.)
Am Ende seines Lebens habe Karl May eine Art Abrechnung mit seiner Frau geschrieben. Auf diesem Text mit dem Titel „Emma Pollmer, eine psychologische Studie“ beruhe diese Szene. Karl May habe von der Perversion seiner Frau gesprochen, die sich wie ein Mann verhalte.
Zum Abschluss wurde der Kauf des Buchs und Hörbuchs empfohlen, sowohl der Autor als auch Sprecher nahmen sich Zeit zum Signieren und für weitere Fragen, während des äußerst gut gelaunte Publikum nach und nach den Saal verließ.
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Das Hörbuch hat 20:15 Stunden, das Buch 608 Seiten.