Für alle, die Halloween bevorzugt bei abgestellter Klingel auf dem Sofa verbringen, hätte ich eine kleine Geschichte. In den Hauptrollen: Ein unbekannter Vandale, ein verwirrter Eisenbahner, ein gestresster Kommissar und Zwillinge, die auch das Undenkbare denken.
Kommissar Rainer Postka seufzte. Gerade hatte Rüdiger Weber von der Bahn bei ihm angerufen, zum zweiten Mal an diesem Tag und zum vierten Mal in dieser Woche. Weber war für die Bahnhöfe der Stadt und der näheren Umgebung zuständig; er hatte dafür zu sorgen, dass sie immer in einem sicheren und vorzeigbaren Zustand waren. Er war auch derjenige, der die Polizei verständigte, wenn Vandalen irgendwas beschädigten.
Seit drei Tagen lag eine Anzeige wegen Sachbeschädigung bei Kommissar Postka auf dem Schreibtisch: Ein roter Fleck unbekannter Herkunft auf dem einzigen Bahnsteig des Südbahnhofs. Schon zum zweiten Mal, hatte Weber betont. Beim ersten Mal hatte er noch an ein Versehen geglaubt und jemanden geschickt, der den Fleck entfernte. Die Leute transportierten ja die unmöglichsten Sachen im Zug, da konnte es auch schon mal passieren, dass ein Farbeimer aus dem Baumarkt aufplatzte. Das war Tagesgeschäft für die Reinigungstrupps der Bahn. Doch am Morgen nach der Reinigung des Bahnsteigs war schon wieder ein Fleck da gewesen, genauso groß und an der gleichen Stelle. Das konnte dann doch kein Zufall mehr sein, da gab Kommissar Postka Weber recht.
Er hatte sich die Sache vor Ort angesehen, aber außer dem Fleck selbst nichts Auffälliges entdeckt. Der Fleck war fast kreisrund, hatte einen Durchmesser von ungefähr 90 Zentimetern und war dunkelrot gefärbt. Nach verschütteter Farbe sah er nicht aus, dann wäre eine deutlich dickere Schicht zurückgeblieben, selbst wenn jemand versucht hätte, ein Missgeschick wieder aufzuwischen. Kommissar Postka war sich nicht sicher, wie der Fleck entstanden war; es sah am ehesten so aus, als hätte jemand stark gefärbtes Wasser ausgeschüttet. Allerdings passte das weder zu einem Versehen, noch zu einem Vandalen, der den Bahnsteig absichtlich verschmutzte.
Noch merkwürdiger war, dass auf den Aufzeichnungen der Videoüberwachung nichts zu sehen war. Beim ersten Fleck konnte Kommissar Postka sich das noch erklären: Die Videos wurden recht bald wieder gelöscht, wenn es keine Vorfälle gab, denen man nachgehen musste, und wahrscheinlich waren ein paar Tage vergangen, ehe die Bahn von der Existenz des Flecks erfahren hatte. Die Bahnmitarbeiter patrouillierten nicht täglich, und kein Fahrgast würde wegen des Flecks extra eine Meldung machen. Beim zweiten Mal jedoch ließ sich der Zeitraum, in dem der Fleck entstanden sein musste, sehr genau eingrenzen: frühestens Montagnachmittag, nachdem das Reinigungsteam abgerückt war, das Weber wegen des Flecks losgeschickt hatte, und spätestens am Dienstagmorgen, kurz bevor die reguläre Putzkolonne gekommen war, um zu fegen und die Mülleimer zu leeren. Die Aufzeichnungen aus diesem Zeitraum waren noch nicht wieder gelöscht worden, und natürlich hatte Kommissar Postka sie von einem Mitarbeiter sichern und prüfen lassen. Außerdem hatte auch Weber sich die Videos angesehen, aber auch er hatte keinen Hinweis gefunden, wann und wie genau der zweite Fleck entstanden war.
Vermutlich war es nicht unmöglich, unbemerkt von den Kameras auf den Bahnsteig zu kommen, wenn man unter Lebensgefahr über die Gleise ging, statt den offiziellen Zugang zu benutzen. Das Bild, das die Kameras bei Nacht lieferten, war auch nicht berauschend, aber trotzdem – irgendwas hätte doch zu sehen sein müssen!
Dass Weber sich wunderte und unbedingt Klarheit haben wollte, war nachvollziehbar. Das ging Kommissar Postka ja nicht anders, aber er konnte nicht so viel Zeit darauf verwenden, dieses Rätsel zu lösen, wie Weber sich das wünschte. Es gab bei der Polizei keine unwichtigen Fälle, natürlich würde Kommissar Postka in der Sache ermitteln, aber er musste Prioritäten setzen. Der Fleck stellte keine Gefahr dar, und der Sachschaden war vergleichsweise gering. Da hatten der Einbrecher, der einer alten Dame fast 1000 Euro aus dem Nachtschrank gestohlen hatte, während sie geschlafen hatte, und das kranke Hirn, das die Stützpfosten eines Kletterturms auf dem Spielplatz angesägt hatte, Vorrang. Kommissar Postka hatte versucht, das Weber zu erklären, aber der verlangte höchste Aufmerksamkeit für die Bahnsteig-Sache und drohte damit, sich höheren Ortes zu beschweren. Kommissar Postka dachte bei dieser Wortwahl, dass Weber ruhig auf die Zugspitze fahren und seinen Frust rausbrüllen sollte, dann hätte er wenigstens solange Ruhe, aber laut sagen durfte er das natürlich nicht.
***
Als Polizist sollte man seine Arbeit nie mit nach Hause nehmen. Das wusste Kommissar Postka, aber er wusste auch, dass das nicht so leicht war, wie die Erfinder des Ratschlags dachten. Was man in seinem Job erlebte, das konnte man nicht abstreifen wie einen Laborkittel. Natürlich durfte Kommissar Postka keine Dienstgeheimnisse verraten, und er versuchte auch sonst, seine Familie nicht mit seiner Arbeit zu belasten. Seine Frau Greta und die fünfzehnjährigen Zwillinge Annick und Tommy hatten ohnehin mit seinen unregelmäßigen Dienstzeiten, vielen Überstunden und Notrufen in der Freizeit zu kämpfen. Aber ganz konnte er nicht verhindern, dass Frau und Kinder seine Stimmung spürten und daraus Rückschlüsse zogen.
„Nerviger Tag?“, fragte Annick rundheraus. Kommissar Postka nickte und erzählte, was er erzählen durfte über das Rätsel des roten Flecks und den Bahnmitarbeiter Weber, der ihn mit seinen Nachfragen nervte.
„Strange!“, befand Annick. „Aber vielleicht kommt der Fleck von unten?“ „Du meinst, ein leckes Rohr?“, fragte ihr Vater nach. Das hatte er sich auch schon überlegt, aber Weber hatte ihm glaubhaft versichert, dass unter dem Bahnsteig keine Rohre für was auch immer verliefen. Lediglich Kabel für die Bahnsteigbeleuchtung und die Lautsprecher waren unter dem Pflaster verlegt, aber dafür gab es einen Kanal genau in der Mitte, weit weg von der Stelle, an der sich der Fleck befand.
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