Die Welt aus den Angeln - Philipp Blom

  • Ich bin mit dem Kapitel „Das eherne Zeitalter“ fertig.


    Das muss wirklich eine gewaltige Umbruchszeit gewesen sein. Seit vielen Jahrhunderten festgeschmiedete Wahrheiten stehen plötzlich in Frage. Unvorstellbar dass sich Aristoteles bis in die Neuzeit halten konnte.


    Immer noch fällt es mir schwer, den Zusammenhang von Kleiner Eiszeit zu diesem Umbruch zu akzeptieren. Aber wenn man es Schritt für Schritt betrachtet: Klimaverschlechterung, Landflucht, Spezialisierung, Alphabetisierung, technischer Fortschritt, Militarisierung, Kolonialismus, Merkantilismus, dann klingt das folgerichtig.


    Wie passt in diese Atmosphäre der Wissenschaftlichkeit die Ansicht, Wohlhabende seien Auserwählte Gottes? Wie passt das zur christlichen Lehre? Fühlten diese Wohlhabenden dann wenigstens eine Verantwortung für die Armen?

  • Großartig, dass ihr das Buch hier lest. Ich bin gerade an der "Kulturgeschichte des Klimas" von Wolfgang Behringer, der auch ein Drittel des Buches der Kleinen Eiszeit widmet, wobei er diesen Begriff großzügiger auslegt und damit die Zeit vom 14. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts meint. Behringer ist kein Klimaforscher, sondern Historiker. Insofern zeigt er auch die Konsequenzen der Abkühlung für Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft auf. Ich habe noch ca. 40 Seiten im Behringer zu lesen, dann ist auch bei mir der Blom dran. Ich habe letztes Jahr diese beiden Bücher zusammen gekauft, weil ich einen Kunstthriller gelesen hatte, in dem es um einen Brueghel ging, der ein WInterthema zum Inhalt hatte. In diesem Zusammenhang wurde auch die Kleine Eiszeit erwähnt.

  • Das ist auch durchaus lohnend. Behringer beginnt mit der Entstehung des Menschen und findet für viele Epochen und Entwicklungen neben den wirtschaftlichen und soziokulturellen Gründen auch interessante Parallelen zur klimatischen Entwicklung.

  • Ich habe das Buch schon seit längerem fertig gelesen, aber keine Ruhe gefunden, noch etwas dazu zu schreiben.

    Neben dem ganz normalen Wahnsinn am 24. Dezember (inklusive Übernachtungsgästen) und zwei lang eingeplanten Terminen am 22. und 23. kam das Leben dazwischen mit Notfall-Zahnarztbesuch, gestörter Nachtruhe wegen Feuerwehreinsatz in der Straße und einem unverhofften und unerwünschten Besuch :pille.


    Ich hoffe, ich finde in den nächsten Tagen die Ruhe, mich noch einmal mit dem Buch auseinanderzusetzen.

  • Inzwischen habe ich das erste Kapitel "Gott hat uns verlassen" gelesen und finde gut, dass Blom hier mit Zitaten aus zeitgenössischen Dokumenten arbeitet. Insgesamt bin ich über die Zusammenhänge und Auswirkungen durch die obengenannte "Kulturgeschichte des Klimas" schon recht gut informiert. Aber ich habe mich gefreut, im Zusammenhang mit dem Klima von John Dee, Giordano Bruno und Montaigne zu hören. Besonders Montaigne könnte sich eventuell zu einer Folgelektüre entwickeln.


    Die einleitende Bildbetrachtung gefällt mir auch sehr gut und motiviert zum Weiterlesen.

  • Kapitel „Über Kometen und andere Himmelslichter“


    Pierre Bayle finde ich eine interessante Persönlichkeit. Zuerst hat mir die Aussage gefallen, Abgötterei, z.B. Astrologie oder das Verständnis eines Kometen als göttlichen Boten, dient dem Teufel mehr als Atheismus.

    Also: übertriebener Glaube ist gefährlicher als keiner.


    Der nächste Punkt hat mich an Epikur erinnert.

    Vernunft bringt Menschen dazu, gut zu handeln, weil sie langfristig Schaden (Höllenstrafen) fürchten. Jetzt stellt Bayle die Frage, ob das dann aber noch moralisches Handeln ist? Es geht doch nur um den eigenen Vorteil.


    Die Schlussfolgerung ist logisch, aber auch sehr mutig: Irdische Strafen würden auch eine atheistische Gesellschaft in Schranken halten. Atheisten sind nicht per se unmoralischer als Christen.

    Ich habe den Eindruck, dass es auch heute noch Menschen gibt, die der Ansicht sind, Christen sind die besseren Menschen. Das gilt vermutlich für andere Religionen auch.


    Sein Dictionnaire ist eine beindruckende Leistung, raffiniert. Wieviel Leidenschaft muss in Bayle gesteckt haben, um so ein Werk zustande zu bringen!

  • Der Mann muss beides gehabt haben: Leidenschaft und Verstand.

    Und Mut noch dazu.


    Ich habe ehrlich gesagt in meinem ganzen Leben noch nie verstanden, wieso eigentlich gläubige Menschen moralischer handeln sollen als Atheisten.

    Da ich in einer streng katholischen Umgebung aufgewachsen bin, konnte ich von frühester Kindheit an sehen, dass diejenigen, die am frömmsten taten oft die grausamsten Menschen waren.

  • Da ich in einer streng katholischen Umgebung aufgewachsen bin, konnte ich von frühester Kindheit an sehen, dass diejenigen, die am frömmsten taten oft die grausamsten Menschen waren.

    Das hat mich jetzt zum Nachdenken gebracht, wie es bei mir war. In meinem Elternhaus fand eine gewisse religiöse Erziehung statt, ich weiß aber nicht, ob das aus ihrer eigenen Überzeugung stattfand oder eher aus dem Druck der Dorfgemeinschaft.

    Jedenfalls kann ich mich erinnern, dass ich zeitweise Mitleid mit Nichtchristen empfand. Und ob dieses Mitleid ganz frei von Überheblichkeit war, weiß ich nicht.

  • Es hatte schon etwas von Überheblichkeit - besonders gegenüber den "Evangelischen".

    Man kann sich heute kaum noch vorstellen, was da für Stimmung gemacht wurde.


    Da haben die Kirchen wirklich was getan, um das zu ändern. Wenn es auch noch immer Dinge gibt, die kein Mensch verstehen kann.


    Mir hat im Buch aber sehr gut gefallen, dass sich der Autor bemüht hat, uns heutigen Lesern verständlich zu machen, wie groß der Umbruch war von der alles bestimmenden Religion zu einem anderen Denken.

  • Spinoza ist mir schon mal untergekommen und zwar in „Sofies Welt“. Ich habe den betreffenden Abschnitt gerade nochmal nachgelesen. Da steht der Satz „Gott ist kein Puppenspieler“.


    Spinoza vertritt ein monistisches Weltbild: Gott ist alles.

    Seine Argumentation ist nachvollziehbar und doch revolutionär.

    Da Gott unendlich ist (wie ja auch die Kirche behauptet), ist Gott in allem. Natur und damit die Naturgesetze sind göttlich und vollkommen. Gott wird nichts daran ändern, da alles bereits vollkommen ist. Wunder sind also unmöglich, Gebete sinnlos usw.


    Wenn aber alles vollkommen ist und unabänderlich abläuft, wie ist es dann mit dem freien Willen?


    Ich versuche mir vorstellen, wie es ihm bei dieser Erkenntnis gegangen ist. Ob er vielleicht sogar selbst Angst vor diesen Gedanken hatte, als ihm das dämmerte, was er für die Wahrheit ansah? Oder war es ihm eigentlich schon lange klar, nur fehlte ihm die Argumentation?


    Interessant ist die Weise, wie die Juden ihre Regeln interpretieren. Wie sie den Spagat schaffen zwischen der Pflicht der buchstabengetreuen Anwendung der Gesetze und den Gegebenheiten des Alltags.

  • „Die neue Natur“


    Wenn Gott = Natur ist, Dogmen keine Gültigkeit haben und somit der Mensch lediglich seinem eigenen Gewissen verantwortlich ist, ist der Sprung von religiösen zur politischen Gewissensfreiheit nicht weit. Jetzt gibt es keine Rechtfertigung für von Gott eingesetzte Herrscher. Alle Menschen sind gleich!


    Es ist schwer nachzuvollziehen, was für einen Effekt das ausgelöst hat. Das Ganze hat ja nicht innerhalb kürzester Zeit stattgefunden. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass gerade die wohlhabende und gebildete Mittelschicht hier aufgehorcht hat. Manche Arbeiter haben womöglich diese Gleichheit sogar ablehnt, weil man ihnen Respekt vor den Höhergestellten anerzogen hat. Vielleicht waren sie auch überfordert, ihre Gleichheit einzufordern. Und Gleichheit für die Frauen war sicher für viele noch völlig unvorstellbar.


    Geburtsstunde der Menschenrechte! Leider nicht für alle. Lockes Doppelmoral als „Erfinder“ der Menschenrechte und Sklavenhalter klingt unglaublich. Ich frage mich, ob es nicht daran liegen könnte, dass man damals die Afrikaner nicht wirklich als Menschen betrachtet hat. Somit sind sie von der Gleichbehandlung ausgeschlossen.

  • "Das eherne Zeitalter" habe ich nun auch abgeschlossen. Mir ist vorher zwar bewusst gewesen, dass die Niederländer im 17. Jahrhundert eine große Handelsmacht waren, aber ihre auch sozioökonomisch-philosophische Vorreiterrolle war mir so nicht klar. Gut finde ich immer wieder, wie Blom die Epochenparadigmen an Individuen verdeutlicht. Dabei hat mir auch die Bildanalyse des Stillebens von Maria van Osterwijk besonders gefallen. Schade, dass das Buch keine Farbtafeln hat. Das wäre durchaus hilfreich. Wieder habe ich einiges dazugelernt über den Merkantilismus und einige mir bisher kaum bekannte Philosophen. Manchmal ärgere ich mich ein wenig über nicht ganz saubere logische Bezüge, z.B. im Kapitel über den Offizier im Ruhestand, wo es zu Beginn nicht verständliche Zahlenwerte gibt, oder bei Gassendi und Fludd, wo die Bezüge auch manchmal unklar sind. HIn und wieder hätte auch ein Mehr an Synonymen nicht geschadet, da es hin und wieder auffällige Adjektivdoppelungen gibt. Aber das ist wirklich Nebenbei-Meckerei. Der Erkenntnisgewinn durch dieses Buch ist für mich als Nicht-Historiker durchaus beträchtlich.

  • made, das Thema der Doppelmoral fand ich auch sehr spannend. Und Locke war ja wirklich nicht der Einzige.


    Spinoza ist ja - vielleicht für ihn zum Glück, wer weiß, ob man ihn nicht verhaftet hätte - jung gestorben. Wer weiß, wohin ihn seine Gedanken noch geführt hätten? Ich fand seine Ideen oder jedenfalls die wesentlichen gut und verständlich dargestellt. Bestimmt längst nicht ausführlich genug, aber dafür auch für Nicht-Philosophen nachvollziehbar.


    finsbury, dein Buch klingt wirklich interessant. Man kommt wirklich kaum hinterher, bei den vielen Anregungen.

  • „Die Öffentlichkeit und lasterhafte Bienen“


    In Mandevilles Gleichnis vom Bienenstock steckt sicher viel Wahrheit und mir ist klar, dass es zugespitzt formuliert ist, aber dennoch gefällt es mir nicht. Es ist mir zu sehr schwarz-weiß. Und es ist einfach falsch zu sagen, dass, wenn weiß nicht passt, automatisch schwarz richtig ist.


    Klar leben die arbeitenden Menschen zu einem großen Teil von der Genusssucht und Eitelkeit der Wohlhabenden. Und natürlich würde die ganze Wirtschaft zusammenbrechen, wenn alle Menschen über Nacht moralisch einwandfrei handeln würden. Aber so etwas wird nie passieren. So etwas wäre immer ein längerdauernder Prozess.


    Mich regt es auch heutzutage auf, wenn Menschen ihr Einweg-Konsumverhalten damit rechtfertigen, dass sonst die ganze Wirtschaft zusammenbrechen würde. Kommen die nicht auf die Idee, dass es auch darauf ankommt, wofür man sein Geld ausgibt? Statt fünf T-shirts für 2,99 € kann ich auch eines für 15 € kaufen.



    „Der schwebende Reverend“


    Blom hat es, glaube ich, schon wiederholt geschrieben, dass die Veränderungen, die die Kleine Eiszeit bewirkt hat, keineswegs immer zielgerichtet stattgefunden haben. Oft war es einfach nur Versuch und Irrtum. Ich habe mir darüber nie so richtig Gedanken gemacht. Aber irgendwie hat es mich überrascht. Ich bin eher davon ausgegangen, dass solche Entwicklungen planmäßig stattgefunden haben, weil es eben die Umstände erfordert haben.


    Auch in den verschiedenen Ländern war es ebenso. Sie ergriffen verschiedene Maßnahmen mit unterschiedlichem Erfolg.

  • Ist es nicht heute auch noch so? Menschen versuchen immer zu planen, alles vorher zu sehen und die Zukunft zu gestalten.

    Es gibt ja auch Fälle, in denen das gelingt. Aber die sind doch eher selten.

    Viel häufiger sind die Gelegenheiten, wo sich etwas zufällig in eine andere Richtung entwickelt, eine vermeintlich segensreiche Erfindung in Katastrophen endet, aus einem Misserfolg dann doch eine tolle Entdeckung wird.

    Welche Hoffnungen hatte man nicht bei der Entdeckung der Radioaktivität und hat sie bedenkenlos eingesetzt? Nur weil man von den Schäden nocht nichts wusste.


    Von dem Mandeville Gleichnis hatte ich schon gehört, ich finde aber, hier ist es viel anschaulicher erklärt. Das ist einer der großen Verdienste dieses Buches. Manches mag ein wenig verkürzt dargestellt sein.

    Aber es verschafft einen gewissen Überblick (auch das bisschen Überblick vergesse ich dann leider schnell...)

    und mich macht es im Hinblick auf die Zukunft noch nachdenklicher.