Zu Beginn wurde Dörte Hansen in der bis auf den letzten Platz besetzten Römerhalle kurz vorgestellt und ihr erster Roman „Altes Land“, der über Leserempfehlungen zum Bestseller geworden sei, nicht über massive Werbung des Verlags. „Mittagsstunde“ sei in gewisser Weise eine Fortsetzung, der Schauplatz ein fiktives Dorf in Norddeutschland, wo die Menschen eher wortkarg seien.
Dörte Hanse erwiderte, dass sie Norddeutsche nicht als wortkarg empfinde, eher im Gegenteil als gesprächig. Plattdeutsch hätte früher eine ganze andere Rolle gespielt, weil viele nicht so gut Hochdeutsch konnten. Dialekt zu sprechen sei verpönt gewesen und man habe schnell als ungebildet gegolten. Heute sei es umgekehrt und man werde hofiert, sobald ein Einschlag von Dialekt zu hören sei – was auch nicht so toll sei.
Zuerst wurde die Figur der Marret Feddersen vorgestellt, ziemlich genau in der Mitte zwischen verrückt und normal. In jedem Dorf habe es so jemanden gegeben. Marret gehe durchs Dorf und verkünde den Weltuntergang. "De Welt geiht ünner." Auf dem Dorf arrangiere man sich mit solchen Menschen, auch Marret sei keine Außenseiterin.
In der vorgelesenen Passage lernten die Zuhörer nicht nur Marret kennen, sondern auch ihre Vorhersagen und die Figuren aus dem Dorf, denen sie auf einem ihrer Rundgänge begegnet.
Durch die Flugbereinigung in den 1950er und 60er Jahren sei im dörflichen Bereich eine Welt untergegangen. Kleine Felder seien zu großen zusammengelegt worden, Feldwege wurden asphaltiert, Bäche begradigt und all dies sei mit einer enormen Wucht geschehen. Damals habe man die Natur besiegen wollen, der Fortschrittglaube jener Zeit wollte alle schnell in die Moderne führen. Plötzlich konnten die Dorfkinder nicht mehr auf der Dorfstraße spielen, weil diese mehrspurig asphaltiert wurde, LKWs und PKWs durch die Dörfer rasten. Dörte Hanse hat das Gefühl, dass damals jedes Dorf ein Kind der Moderne geopfert habe.
Natürlich habe es auch einige wenige Skeptiker gegeben. Sie erzählte von einem Dorfschullehrer, der die Einebnung eines Hühnergrabhügels verhindert. Natürlich sei zuerst die Begeisterung über größere und hellere Häuser groß gewesen. Erst später habe man festgestellt, dass einmal Zerstörtes unwiederbringlich verloren war. Durch die Begradigungen, Trockenlegungen und großen Monokulturen verschwanden die Hasen, Frösche und Störche. Man sei damals über das Ziel hinausgeschossen.
Dann seien Städter gekommen, mit dem Ziel, die eine Dorfkultur wiederbeleben. Oft sehe man von außen klarer. In den 1970ern kamen Künstler von der Stadt aufs Land, auf einer nostalgischen Suche nach einem Ort, den es nicht mehr gab. Es habe viel Unverständnis zwischen Dörflern und Städtern gegeben.
Die alten Feddersens in „Mittagsstunde“ führen auch mit Anfang 90 noch ihren Gasthof, wollen nicht aufgeben und können ihn nicht an den in der Großstadt lebenden Enkel übergeben. Das sei allzu oft so. Die Jugend ziehe weg und fühle sich gleichzeitig als Verräter. Dörte Hansen betonte, dass sie nicht werten wolle, denn sie könne auch verstehen, warum Menschen aus den Dörfern wegzogen.
Heutzutage würden sich die kleinen Höfe kaum noch tragen. Der trockene Sommer 2018 habe jedoch gerade die Besitzer großer Höfe in Angst und Schrecken versetzt, weil sie Probleme hatten genügend Futter zuzukaufen. Das sei bei den kleineren Höfen oft anders organisiert und so sei die Frage aufgekommen, ob kleinere Höfe vielleicht doch sinnvoller seien.
In der nächsten vorgelesenen Textpassage wurde Ingwer Feddersen vorgestellt, der sich als 47-Jähriger an seine Jugend im Dorf erinnert und an die Bedeutung der Mittagsstunde für die Kinder. Denn niemand könne leiser sein als Kinder, die auf dem Dorf groß geworden seien.
Dörte Hansen und Vladimir Balzer erinnerten sich beide an die Freiheiten, die Dorfkinder in der Mittagsstunde hatten – solange sie die schlafenden Erwachsenen nicht weckten. Das Dorfleben sei hart gewesen und der Mittagsschlaf für die Erwachsenen wichtig, während die Kinder die Freiheit genossen. Details wollten sie irgendwie nicht erzählen.
Bei der Namenswahl achte sie darauf, nicht die Namen all ihrer Nachbarn oder Verwandten zu nehmen. Der Name Ingwer Feddersen passe ihrer Meinung nach zu dieser Figur und sie habe niemanden mit diesem Namen gekannt. Neulich habe sie dann in einem Dorf einen Grabstein mit just diesem Namen gesehen, aber das lasse sich nie vermeiden.
Nicht alle im Dorf seien nostalgisch mit ihrer Heimat verbunden. In „Mittagsstunde“ ist es die Bäckerstochter, die viel liest und das Dorf mit Vehemenz hasst. Eines Tages zieht sie weg und hört auch auf, Platt zu sprechen. Dörte Hansen merkte mit einem Augenzwinkern an, dass diese Figur zwar auch ein störrisches Pony habe, aber deutlich energischer als sie selbst sei.
Früher habe sie sich bei goldenen Hochzeitgen gefragt, ob man fröhlich sei, noch zusammen zu sein oder weil man durchgehalten habe. Das Ehepaar in „Mittagsstunde“ rede wenig, die Frau sei inzwischen dement und das habe ihren Charakter stark verändert.
Dörte Hansen ist Soziolinguistin und hat sich mit dem Thema Demenz und Wortschatz intensiv beschäftig. Ein gewisser Grundwortschatz bleibe immer, wobei die Älteren oft lieber Platt sprächen. In ihrer Heimat habe Plattdeutsch über einen deutlichen Imagegewinn erholt und sie habe von Anfang an konsequent mit ihrer Tochter Platt gesprochen. Für ihre Tochter sei das oft lästig gewesen, weil von Außenstehenden immer eine Reaktion gekommen sei, sobald sie miteinander Platt gesprochen hätten. Mit dem künstlichen Platt in der Schule habe ihre Tochter nichts anfange können.
Inzwischen sei ihre Tochter 16, habe kein Problem damit Platt zu sprechen und wünsche sich, dass Plattdeutsch als normal wahrgenommen werden, ohne Aufsehen zu erregen. Dörte Hansen empfindet es als eine gewisse Zweisprachigkeit, über die Menschen miteinander verbunden seien.
Mit den Dorfkneipen, Dorfschulen usw. seien oft die sozialen Treffpunkte verschwunden, doch inzwischen gebe es sehr aktive Vereine, die neue Möglichkeiten schaffen würden. So sei ihre alte Grundschule inzwischen durch den örtlichen Tischtennisverein zu einem Treffpunkt geworden. Solche Orte seien für das Dorfleben und auch das Überleben der Dialekte wichtig. Ihrem Empfinden nach ist die Talsohle für die Dörfer durchschritten, es kehre neues Leben ein, zum Teil auch weil Städter durch die hohen Mieten mit ihren Kindern weit hinaus aufs Land ziehen. Heute sei es nicht mehr so gespenstisch still wie noch vor einigen Jahren.
Es folgte eine weiter kurze Lesung. Der Dorflehrer in „Mittagsstunde“ hadere mit den neuen Kindern an seiner Schule, die durch den Zuzug von Städtern kamen. Er steht kurz vor der Rente und glaubt weder an Chancengleichheit noch an gewaltfreie Erziehung. Karl Fidel Baumann aus Berlin hat ihm da gerade noch gefehlt...
Dörte Hansen schilderte, dass es wirklich sehr hart sei, nach einem unerwarteten Erfolg wie „Altes Land“ dann den zweiten Roman zu schreiben. Über einige Rückmeldungen, dass man dem zweiten Roman diesen Kampf nicht anmerke, habe sie sich sehr gefreut. Diese von anderen empfundene Leichtigkeit sei hart erkämpft.
Beim ersten Roman sei die Frage gewesen, warum schreibst Du. Beim zweiten Roman hingegen sei zuerst die Frage gewesen, warum schreibst Du nicht. Die Geschichte habe sie gesucht, nicht umgekehrt. Über das Landleben zu schreiben sei irgendwie von selbst gekommen. Sie selbst habe sich gefragt, wie sich die Welt seit den 1960ern verändert habe, was damals gut gewesen sei und bei was sei es gut, dass es verschwand. Zum Glück habe sie eine gute Freundin und ihre Familie als kritische Erstleser, sowie ihre Lektorin. Ihre Familie wolle schließlich wissen, was sie so lange in der Dachkammer mache.
Dann wurde die lebendige und humorvolle Veranstaltung etwas früher als geplant beendet, damit noch genügend Zeit zum Signieren sei. (Unter anderem wurde ein Hörbuch signiert.)