HIGHSCHOOL BABE
Tom wischte sich hastig die Nässe aus dem Haar, nahm das Tablett von der Theke und sah sich in der kaum besetzten Cafeteria um. Er hatte sie hineingehen sehen, das hochaufgeschossene Mädchen mit dem glatten, schwarzen Pferdeschwanz unter dem knallbunten Schirm konnte nur Nell sein, also mußte sie hier irgendwo sitzen. Sein Hintermann maulte, stieß ihm ins Kreuz, daß er sich in Bewegung setzte, als er den Schirm sah, der aufgespannt auf dem Boden lag. Nell saß am Fenster, vor sich auf dem Tisch einen Becher mit Limonade und einen schokoladendunklen Donut, und las in einem kleinen Buch, dessen dunkelroter Einband einen hübschen Kontrast zu ihrer verwaschenen Jeans bildete. Die drohend schwarzen Wolken in ihrem Rücken schienen gegen die Scheibe zu rollen, doch sie beachtete sie nicht. Nicht einmal als grelles Licht das Glas funkeln ließ.
Er wartete den Donner ab, um unbemerkt gegen den Klumpen in seiner Kehle anzuatmen, und marschierte geradewegs auf ihren Tisch zu.
»Darf ich mich setzen?«
Nell legte den Kopf zurück, gönnte ihm einen Blick in ihre schwarzen Augen und ließ dann ihren über die vielen leeren Plätze in der Cafeteria schweifen, wortlos, ehe sie sich wieder in ihre Lektüre versenkte.
Tom stellte das Tablett auf dem Tisch ab und plumpste in den Stuhl, er schlug die Beine übereinander und griff nach dem Kaffeebecher. »Was liest du da?«
Er sah sie seufzen, das Geräusch blieb aus. Statt dessen grölte draußen der Sturm, und dicke Regentropfen prasselten gegen das Fenster, perlten herab.
»Nun sag schon. – Bitte«, setzte er nach und lehnte sich ein wenig über den Tisch.
Wieder hoben sich ihre Wimpern. Er nippte an seinem Kaffee, ohne sich abzuwenden, stellte den Becher ab, drehte ihn in den Fingern. Sie sah ihn an. Sie taxierte ihn, was sonst? Typisch Rothaut. Deren Art, einen herauszufordern. Ein weiterer Blitz fuhr aus den Wolkenbäuchen herab. Tom wartete den Donner ab, während sich ihm die Schaufensterpuppe im Megastore aufdrängte, die ihn bis in seine Träume verfolgte, seitdem er das schwarzhaarige Mädchen, das vor ihm saß, zum ersten Mal wirklich bemerkt hatte.
»Ich kann wahrsagen, Nell.«
Sie lehnte sich zurück, blinzelte. Ein Zucken ihres rechten Mundwinkels war ihm Antwort genug. »Ich weiß, daß du auf dem Ball ein dunkelrotes Kleid tragen wirst.«
Ihr Kopf sank ganz leicht nach rechts, der Mundwinkel krümmte sich aufwärts.
»Dunkelrot und wadenlang«, fuhr er fort.
»Und warum weißt du nicht, was ich gerade lese?«
»Weil das nicht in der Zukunft ist. Gestern hätte ich es dir sagen können.«
»Spinner.« Ihr Kopf sank nach vorn. Ihr Interesse an ihm war erloschen, als wäre er nur ein lästiges Insekt, das an ihrem Ohr vorbeigesummt war.
»Hawthorne«, murmelte er, und sie schrak auf.
Er hatte nur geraten. Es war der verdammte abgestoßene, dunkelrote Einband, der ihn auf die Idee gebracht hatte. »Der scharlachrote Buchstabe.«
Sie hob die Brauen. »Nicht schlecht.«
»Sollst du mal wieder die Rolle der vorkommenden amerikanischen Ureinwohner behandeln?«
Sie warf den Kopf in den Nacken und lachte lautlos. »Nein, diesmal lese ich wirklich nur zum Spaß.«
Tom umfaßte den Kaffeebecher, führte ihn zum Mund, zögerte aber, während er hinausblickte in Sturm und Regen. Seine Lippen, sein Mund waren wie ausgedörrt. Er mochte überhaupt keinen Kaffee. Er haßte das Zeug geradezu, aber es war das einzige genießbare Gesöff in diesem Laden.
»Kannst du dir vorstellen ...?«
Ihre Augen schienen ihn aufzusaugen, während das Licht über ihre Wange züngelte. Jesus! Er hatte ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Zum ersten Mal, seitdem er sie bemerkt hatte. Versau es nicht, Tom! Versau es nicht!
»Kannst du reiten?«
Ihr plötzliches schallendes Gelächter ließ ihn zusammensinken. Okay, das war `s. Er tastete nach den Grifflöchern des Tabletts, als warme schlanke Finger sich auf seine Rechte legten.
»Netter Versuch, Tom. Was hältst du von den drei Felsen am Pine Creek? Morgen, gleich nach Sonnenaufgang.«
Seine Ohren schienen zu glühen. Er mußte hier weg, und wollte es nicht. Auf keinen Fall, nicht jetzt, nicht aus dem Bannstrahl dieser schwarzen Augen treten. Verdammte Rothaut! Er ballte die Fäuste um die Tablettgriffe. Nickte. Stand schwerfällig auf, ohne den Blick von diesem Gesicht abzuwenden, das ihm nie zuvor so ebenmäßig erschienen war. Braune, leicht schimmernde Haut, umrahmt von glattem, schwarzem Haar, das sie zu einem straffen Pferdeschwanz zurückgebunden hatte. Da, wo sie ihn berührt hatte, war ein wenig von der Sonnenwärme, die ihr Körper speicherte, eingedrungen. Das Kleid würde ihr toll stehen. Er spürte, daß sein Gesicht sich zu einem Grinsen verzog, murmelte einen Gruß und wandte sich rasch ab.
»Und bring `was zu lesen mit«, sagte sie, während er den verschwommenen Kerl in der lichtfunkelnden Fensterscheibe dämlich angrinste.
(c) I. Kammerer, 2005