Kayla Ancrum: Wicker King [ab 14 Jahre?]

  • Kayla Ancrum: Wicker King

    dtv Verlagsgesellschaft 2018. 320 Seiten

    ISBN-10: 9783423762335

    ISBN-13: 978-3423762335. 16,95€

    Vom Verlag empfohlenes Alter: Ab 14 Jahren


    Verlagstext

    Lass dich mitnehmen in die Welt von Jack und August! Aber gibt es sie wirklich?

    Ein Brand in einer alten Lagerhalle. Am Tatort zwei Siebzehnjährige, einer davon (der vermutliche Brandstifter) mit Verbrennungen, die beide in die Psychiatrie eingeliefert werden. Einige Monate zuvor: In der Schule hängen August und Jack mit völlig verschiedenen Typen rum, privat verbindet die beiden aber seit Langem eine intensive Freundschaft. Doch Jack, Vorzeigeschüler, Spitzensportler, Mädchenschwarm, entwickelt immer stärkere Halluzinationen und driftet mehr und mehr in eine Fantasiewelt ab. In dieser ist er der König, der »Wicker King«, und August ist sein Ritter. Um Jack nah zu bleiben und zu verhindern, dass dieser sich endgültig in seiner Scheinwelt verliert, lässt sich August auf das Spiel ein: Er begibt sich gemeinsam mit Jack in dessen Fantasiewelt hinein und steuert sie beide damit genau auf die Katastrophe zu, die er verhindern wollte.


    Die Autorin

    Kayla Ancrum wuchs in Chicago unter der rigiden Aufsicht des dortigen öffentlichen Schulsystems auf. Sie studierte Mode-Merchandising, doch nachdem sie zu viele Nächte mit zwielichtigen Literaturstudenten rumgehangen hatte, lockte sie ein Englischstudium. Derzeit lebt sie in Andersonville, und wenn gerade keiner aufpasst, schreibt sie während der Arbeit Bücher.

    Inhalt

    August ist wegen Brandstiftung in die Psychiatrie eingewiesen worden. Ausgerechnet August, stets gepflegt und adrett gekleidet, hätte niemand diese Tat zugetraut. Sein makelloser Aufzug war lebensnotwendig für den 17-Jährigen, denn nur so konnte er unbehelligt Drogentransporte abwickeln, mit denen er seinen Lebensunterhalt bestreitet. Augusts Mutter ist wegen Depressionen arbeitsunfähig und hat keinerlei Einfluss auf ihren Sohn. In Augusts Therapie nach seiner Verurteilung wird u. a. gefragt, welches Verhältnis er eigentlich zu Jack hatte, den er seit frühester Kindheit kennt. Jack stolperte in Augusts Leben, weil August offenbar jemanden brauchte, um den er sich kümmern konnte. Geteilte Hausarbeit wäre ein Modell, aber selbst wenn Jacks Eltern nie da sind, ist das noch lange kein Grund, dem Jungen alles nachzutragen. Jack geht es ganz offensichtlich nicht gut, so dass Klassenkameraden sogar den Diagnoseschlüssel für psychische Erkrankungen wälzen. Doch da August meint, Jack unbedingt schützen zu müssen und Erwachsene sich in Kayla Ancrums beklemmenden Setting alles andere als erwachsen verhalten, unterbleibt das einzig Logische: Jack einem Arzt vorzustellen.


    Die gegenseitige Abhängigkeit der Jungen führt soweit, dass August schließlich in Jacks pathologische Märchenwelt hinüber wechselt. Der Übergang in Jacks dunkle Welt lässt sich am Buchschnitt nachvollziehen, der Schnitt wirkt ab der Mitte des Buches verbrannt, verkohlt, als ob jeden Moment Asche aus dem Buch rieseln könnte. Schließlich sind die Seiten völlig schwarz mit weißer Schrift. Die beklemmende Wirkung entsteht u. a. aus den eingefügten datierten Fotos, Quittungen, Tracklists, Zettelchen, Protokollen und Krankenberichten.


    Unterschiedliche Interpretationsansätze sind denkbar. Auf den ersten Blick trifft man als Leser Jugendliche kurz vor der Volljährigkeit, die sich völlig selbst überlassen sind und denen gegenüber Lehrer und andere Experten nicht gerade kompetent handeln. Die Vernachlässigung ist zwar Auslöser hochdramatischer Ereignisse, ungewöhnlich fand ich hier dennoch das Maß an Manipulation, das vom vermeintlich Schwächeren in einer unguten Co-Abhängigkeit ausgeübt werden kann. Auch Sex dient als Mittel der Manipulation, so dass ich die Frage nach der sexuellen Orientierung der jungen Männer unnötig spoileranfällig finde.

    [edit: Erst längere Zeit, nachdem ich diesen Absatz geschrieben hatte, las ich die Bonus-Kurzgeschichte, (goodreads zählt sie als Band 1.5) die das Verhältnis zwischen August und Jack aus einer anderen Perspektive beschreibt und die Legende vom Wicker King erzählt.]


    Wicker King, mit Gold und Lackeffekten auf schwarzem Cover, scheint ein Marketing-Wunder zu sein. Eine Fantasy-Welt, die aus den Halluzinationen eines Jugendlichen wächst und klassische Motive (Brüder, Kampf um ein Königreich, Gut/Böse) lassen mich spontan an PC-Spiel, Film und Merchandising zum Buch denken. Nicht gefallen hat mir der englische Titel für die deutsche Ausgabe, weil sich die Gegenspieler Wicker King und Cloven King (Gut gegen Böse oder Gott gegen Teufel?) aus dem Text der mir vorliegenden Ausgabe nicht unbedingt erschließen. Wer die Wahl hat, sollte evtl. zur englischen Ausgabe greifen.


    Fazit

    Sprachlich und durch die Konfrontation von Realität und möglicher psychischer Krankheit halte ich den Roman für die Zielgruppe ab 14 für sehr anspruchsvoll. Eine nahestehende Person gegen deren erklärten Willen in ärztliche Behandlung zu schaffen, ist ein Problem, dass sich auch Erwachsenen stellt – und deshalb empfehle ich „Wicker King“ unbedingt auch erwachsenen Lesern. Das Thema der Vernachlässigung/des Nichthandelns Erwachsener hat mich gefesselt und bewegt. Dennoch bleiben hier diverse Fragen offen. Sind 14-Jährige wirklich Zielgruppe für Psycho-Horror mit fast 18-jährigen Protagonisten? Sollten 14-Jährige so unkritisch wie hier über Sex als Mittel der Manipulation lesen? Spoilert die Autorin ihren eigenen Roman? Wenn es um sexuelle Orientierung geht (schwul, bi oder poly?) lasse ich mich im Roman gern von der Entwicklung der Beziehung überraschen. Für eine 18-Jährige Zielgruppe sicher ein fesselnder Roman - aber für 14-Jährige?


    Es besteht Diskussionsbedarf.


    9 von 10 Punkten