Ein Winter in Paris - Jean-Philippe Blondel

  • Ein Winter in Paris - Jean-Philippe Blondel

    Hardcover

    Deuticke Verlag

    192 Seiten


    Über den Autor

    Jean-Philippe Blondel wurde 1964 im französischen Troyes geboren, wo er auch heute als Autor und Englischlehrer mit seiner Familie lebt. Sein Roman "6 Uhr 41" (Deuticke 2014) wurde ein Bestseller. Auf Deutsch erschienen außerdem die Romane "Zweiundzwanzig", "Direkter Zugang zum Strand", bei Deuticke "This is not a love song" (2016), "Die Liebeserklärung" (2017) und im Herbst 2018 sein neuer Roman "Ein Winter in Paris".


    Inhalt

    „Ein Winter in Paris“ beschreibt rückblickend das Leben des heutigen Englischlehrers Victor. Zum Studium zieht es ihn nach Paris, damit beginnt auch die Abkapselung vom Elternhaus und aus der Provinz. Während der Protagonist aus eher einfachen Verhältnissen stammt, in dessen Familie keine großen Emotionen gezeigt wurden, kommen seine Kommilitonen aus einer völlig anderen Welt. Dies macht Victor zum Außenseiter. Die Anforderungen sind hart und so konzentriert er sich voll auf sein Studium. Doch im zweiten Jahr begegnet ihm Mathieu, mit ihm raucht er gelegentlich eine Zigarette. Doch leider besteht keine Gelegenheit mehr, die zarten Bande enger zu knüpfen, denn Mathieu nimmt sich das Leben. Von nun an steht Victor im Zentrum der Aufmerksamkeit, alle Welt scheint sich plötzlich für ihn zu interessieren.


    Meine Meinung

    Wunderbar feinfühlig und sensibel beschreibt der Autor diesen Lebensabschnitt des Victor. Heute ist Victor als Englischlehrerin tätig und nebenbei erfolgreicher Schriftsteller. Eines Tages erreicht ihn ein Brief, der die Erinnerungen wieder lebendig werden lassen. Rückblickend befindet sich der Leser mit Victor im Paris der achtziger Jahre und erlebt mit ihm diesen Winter, der ihn sein Leben lang prägen soll.

    Ausschließlich wird dieser Roman aus Victors Perspektive erzählt. Und das besonders eindringlich, gefühlvoll und auf den Punkt gebracht. Verschiedene Personen interessieren sich nach Mathieus Tod für Victor, doch die Beziehungen zu seinen Kommilitonen bleiben eher oberflächlich, Affären sind bedeutungslos. Einzig zu Mathieus Vater entsteht eine engere Bindung, zunächst ungewollt, da dieser sich hartnäckig auf die Suche nach dem Warum begibt. Doch langsam entwickelt sich dieser zu einer Vaterfigur, wie Victor sie nie persönlich erlebt hat.

    Nur einige wenige Passagen waren mir zu lakonisch und ein wenig in die Länge gezogen. Ansonsten hat der Autor hier einen wunderbaren kleinen, aber intensiven, feinfühligen Roman vorgelegt, den ich gerne gelesen habe.


    Dafür vergebe ich 8 Eulenpunkte.


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  • Victor, der Icherzähler dieser berührenden Geschichte eines gesellschaftlichen Aufsteigers, findet bei seiner Rückkehr aus dem Urlaub einen Brief vor. Geschrieben hat eine ältere Person, deren Schrift schon zittrig wirkt. Victor empfindet eine Mischung aus Scham und Bedauern, als er die Unterschrift liest. Vermutlich hätte er längst Kontakt zum Absender aufnehmen sollen. Unterschrieben hat Patrick Lestaing, der Vater von Victors Schulkamerad Mathieu.


    Victor blickt nun 30 Jahre zurück, als er als einziger Schüler aus Nanterre nach Paris kam, um sich für die Vorbereitungsklasse einer Eliteschule zu qualifizieren. An Victor zieht das Schuljahr vorbei, als er erkannte, dass Leistung allein ihm noch keinen gesellschaftlichen Aufstieg verschaffen würde. Der Code, an dem sich die akademische Oberschicht erkennt, ist dem Jungen aus der Provinz ein Buch mit sieben Siegeln; die Kenntnis seiner Mitschüler über Musik und Kunst wird er vermutlich nie aufholen können. Ähnlich wie Mathieu im folgenden Jahr muss Victor sich damit abfinden, dass auch seine Klassenkameraden sehr gute Schüler sind und dass er sich einem knallharten Wettbewerb stellen muss um die ersten 12 Plätze an der Spitze der Klasse. Mathieu war ein Jahr jünger als Victor, besuchte eine Klasse unter ihm und sprang eines Tages mitten aus der Französisch-Stunde heraus in den Tod. Unterschätzt hatten beide Schüler sicher die gläserne Decke, die sich zwischen ihnen als Außenseitern und den Schülern aus wohlhabenden Verhältnissen spannt. Schüler wie Victor schaffen es normalerweise nicht auf die Liste, so dass seine Mitschüler sich erst gar nicht die Mühe machen, ihn kennenzulernen. Mathieus Selbstmord hätte die Frage nach der Verantwortung von Schule und Lehrern aufwerfen müssen, doch die Schule schließt sofort die Reihen, angeblich, um die Karriere der zukünftigen Elite nicht zu gefährden. Inzwischen ist Victor Lehrer und hat offenbar erfolgreich mehrere Romane eröffnet. Der Brief von Patrick Lestaing konfrontiert ihn mit der engen Beziehung, die er lange Zeit mit dem verwaisten Vater des Jungen pflegte, der sein Freund hätte werden können. Ob Victor die Zuneigung des Monsieur Lestaing erwiderte, blieb für mich offen.


    Jean-Philip Blondel legt hier das bewegende Psychogramm zweier Männer vor, die sicher eine Portion Kritik an der Schinderei in französischen Elite-Gymnasien auszusprechen hätten. „Winter in Paris“ passt perfekt in die Reihe von Romanen aus jüngster Zeit über gesellschaftliche Aufsteiger, die vor geschlossenen Reihen des Bildungsbürgertums stehen (Vance: Hillbilly-Elegie; Eribon: Rückkehr nach Reims; Louis: Das Ende von Eddy) und beeindruckt als Text, der perfekt ist, weil man nichts mehr weglassen kann.

  • Ein Brief Patrick Lestaing's katapultiert den Englischlehrer Victor, (49), zurück in die 80er Jahre - in seine Vergangenheit als Student am renommierten Lycée D. in Paris:


    Als Sohn eher bildungsferner Eltern kämpft der aus der Provinz kommende 19jährige Victor sich mit viel Fleiß durch das erste, sehr harte Jahr am Lycée - von den zumeist elitären Kommilitonen ignoriert. Ein Außenseiter, von dem man annimmt, dass er ohnehin das Handtuch schmeißen wird, auch die Lehrer urteilen die Arbeiten der Studenten demütigend ab - und bringen so manchen dazu, aufzugeben. Doch Victor gehört zu den wenigen Auserwählten, die weiterkommen: Durch das harte Studium nimmt er jedoch wahr, dass er sich immer mehr den Eltern entfremdet und ihre Besorgnis kaum noch erträgt, eine bisher nicht gekannte Einsamkeit macht sich in ihm breit, die durch den Lerndruck noch verstärkt wird. An seinem Geburtstag rebelliert er erstmals gegen das System: Er kommt zu spät und beschließt spontan, Mathieu, mit dem er ab und an eine Zigarette raucht und der - wie er ein Außenseiter aus der Klasse unter ihm ist, der versucht, im luftleeren Raum des Lycées irgendwie durchzuhalten - zum Essen einzuladen.


    Doch dazu sollte es nicht mehr kommen, da Mathieu - nach einem Schrei der Wut - über das Geländer in den Tod springt, was Victor, der seine Stimme erkennt und als erster nach draußen eilt, erst später realisieren sollte....


    Blondel gelingt es ungeheuer sensibel, die Gefühlswelt, in der sich Victor nach dem Suizid von Mathieu befindet und die völlig durcheinandergeraten scheint, zu beschreiben: Alles war in Frage gestellt und Victor beginnt durch das Trauma dieses Verlusts - denn er hätte sich ohne Frage mit Mathieu anfreunden wollen - die Welt anders, neu zu begreifen: Sein eigenes Leben in den folgenden Wochen, den wir ihn als Leser begleiten, als das zu betrachten, was es ist: Kostbar.


    Victor entgeht nicht, dass sowohl Studenten als auch Lehrerschaft über das Ereignis des Selbstmordes das Renommée stellen und die eigenen Interessen, dass über den Vorfall hinweggegangen wird. Diese Stimmung bringt Blondel realistisch zum Ausdruck und man fragt sich, warum alle so schnell wie möglich wieder "zur Normalität" zurückfinden wollen, besonders, weil jedem klar ist, dass Mathieu dem rauen Klima, dem Lernstress und den täglichen Demütigungen seitens der Lehrer nicht mehr gewachsen war.


    Mit den Eltern Mathieu's tauchen sowohl der Vater als auch die Mutter auf, deren Bewältigung des ungeheuren Verlusts sehr unterschiedlich sind: Der Vater sucht Kontakt zu Victor und beide helfen einander, in dem sie über Mathieu sprechen, Antworten suchen. Dieser Romanteil gefiel mir besonders gut, da er zutiefst menschlich ist - und sich Menschen in Ausnahmesituationen sehr viel geben können, um ihren Weg besser weitergehen zu können. Für Victor war es nicht von Nachteil, endlich "sichtbar" zu werden, den umschwärmten, aber dennoch einsamen Paul Rialto zum Freund zu haben und dadurch überall offene Türen der Akzeptanz zu finden, da er "der Freund des Opfers" für die Mitstudenten war.


    Die tiefen Empfindungen und die außergewöhnliche Ehrlichkeit Victors, seine eigene Rolle in diesem Drama betreffend als auch in seiner Vorstellung, "wie alles hätte werden können" und Armelle sowie Mathieu betreffen, berühren zutiefst. Auch die Kochaktionen mit Patrick Lestaing, der für Victor zeitweise ein Vater wird, wie er nie zuvor einen hatte, erstaunen den Leser - und sind gleichzeitig tröstend.


    Auf der Verlagsseite habe ich ein Interview des Autors gelesen, das ich an dieser Stelle nur empfehlen kann.


    Einzig die Reaktion der Mutter Mathieu's, die die Treffen von Victor und ihrem Ex-Mann "krank" fand, konnte ich überhaupt nicht nachvollziehen. Sie waren wichtig, für jeden der beiden. Die Tatsache, dass auch ein Suizid nichts am Lycée D. änderte, erzürnt den Leser nicht zu unrecht; auch dies leider sehr realistisch.
    Die Abschlussprüfung Victor's verläuft für die Prüfer anders, als gedacht: Er ist umso entschlossener, welchen Weg er gehen wird, worin seine größte Leidenschaft besteht - was eine Frage Patrick L. an ihn gewesen war:


    "Er wollte Wörter wie ein Netz über den Abgrund spinnen" (Zitat S. 184) - und Schriftsteller werden.


    30 Jahre später - Victor ist inzwischen Ende 40, schreibt Patrick Lestaing ihm einen Brief, um sich mit ihm zu treffen. Er möchte dadurch "das entschwindende Gespinst der Erinnerungen zurückbringen" - und Victor stellt sich dieser Herausforderung!


    Fazit:


    Ich kann mich nur der Aussage von "Le Figaro" anschließen, der dieses literarische Kleinod - ein 'trouvaille' - so beschreibt:
    "Es gibt niemanden, der die Verwirrung der Gefühle auch nur annähernd so bescheiben kann wie Jean-Philippe Blondel".
    Von mir erhält dieses kleine, aber sehr lesenswerte und sprachlich feinfühlige Meisterwerk eine absolute Empfehlung, 5* und 100° auf der "Belletristik-Couch".

  • Meine Meinung zum Buch:

    Titel: Was Suizid mit den Hinterbliebenen macht...


    Nach dem unglaublich intensiven "6 Uhr 41" wollte ich gern mal wieder ein Buch des Autors lesen und so begann ich ohne große Vorkenntnis des Inhaltes mit der Lektüre.


    In der Geschichte geht es um den jungen Victor, der sich an der Uni abkämpft, um später ein besseres Leben als seine Eltern führen zu können. Der Provinz entflohen merkt er schnell, dass die Großstadt auch nicht das ist, was er erwartet hatte. Doch dann taucht Mathieu in seinem Leben auf, aber nur kurz, denn dieser wählt den Freitod. Was macht das mit Victor und allen anderen Hinterbliebenen? Gab es Gründe für die Tat? Das Leben muss weitergehen, aber geht das wirklich einfach so?


    In diesem Roman geht es mal nicht darum wie es zu dem Freitod eines Charakters gekommen ist, sondern was das Fehlen dieser Person mit den Hinterbliebenen macht. Suizid tut man nicht sich selbst an, sondern stets denen, die zurückbleiben.


    Victor steht im Fokus der Handlung. Mir hat gut gefallen, dass Blondel die Einsamkeit des jungen Mannes sehr gut rüberbringt und die beginnende Überforderung mit dem Studium. Muss man wirklich studiert haben, um ein gutes Leben führen zu können? Allein wurde er von seinen Kommilitonen kaum beachtet, doch als Freund eines Toten sieht dies schnell anders aus. Die Entwicklung zu einem besseren Leben durch den Tod eines anderen, das hatte schon etwas sehr befremdliches, aber auch gleichzeitig etwas faszinierendes.


    Doch auch den anderen Protagonisten im Buch setzt der Freitod von Mathieu sehr zu. So hat dessen Vater doch sehr zu kämpfen mit dem Verlust seines einzigen Sohnes und er denkt über sein Leben nach, welches nie wieder so sein wird wie zuvor. Auch spannend, wie es ihn und seine Frau wieder etwas näher zusammengebracht hat, was man im ersten Moment nicht wirklich glauben und wahrscheinlich nur Eltern auf Anhieb verstehen werden, denn ein Kind schweißt zusammen auf Lebenszeit.


    Die Darstellung der Uni habe ich als sehr realistisch empfunden und bei Lehrer Clauzet musste ich sofort an eine Hauptfigur aus dem Film "Die Brillante Mademoiselle Neïla" denken. Auch hat sicherlich jeder in seiner Schullaufbahn oder Unizeit einen solchen Tyrann erleben dürfen.


    Die Beschreibungen von Paris haben angenehme Bilder in meinem Kopf entstehen lassen. Da bekommt man direkt selbst Lust einmal hinzureisen.


    Das Buch hat mich mit diversen Fragen zurückgelassen, da es offen endet.


    Der Roman berührt und sorgt für Nachdenklichkeit. Emotional fühlte ich mich beim Lesen niedergedrückt und recht traurig, denn ein so junger Mensch, der noch dazu gesund ist, sollte nicht so früh sterben. Besonders eindrücklich war für mich die Szene als Victor das Blut seines Freundes um seine Schuhe rinnen sieht. Ich glaube diese werde ich so schnell nicht wieder vergessen können.


    Fazit: Trotz der geringen Seitenzahl ist man mit diesem Buch doch um einiges länger beschäftigt, da man beim Lesen immer wieder innehält und einen die Handlung auch nach Beenden des Buches nicht gleich los lässt. Wer gern tragische Geschichten liest, der wird daran seine Freude haben.


    Bewertung: 10/ 10 Eulenpunkten