Hier also der 2. Teil.
>„Sie sitzt schon den ganzen Tag neben dem Bett. Sie bräuchte Schlaf. Doch sie will nicht.“
Die Krankenschwester bemerkte die Sorge in der Stimme von Doktor Swantjein. Schon seit einem Jahr verfolgte er das Schicksal von Sybill und Amber. Doch mit dem heutigen Geräteabstellen wäre das Drama noch immer nicht beendet – die Trauer durch Ambers Tod wäre noch überwältigender, noch stärker als zuvor.
Göran presste das Klemmbrett noch ein bisschen fester an sich. Vor wenigen Minuten hatte Sybill die Papiere unterschrieben. Sie war die einzige Person, die das Recht hatte, zu entscheiden ob die Geräte abgestellt werden durften oder nicht. Und sie wollte. Leider.
„Haben Sie den Chefarzt schon informiert?“, fragte die Schwester.
Swantjein schreckte aus seinen Gedanken auf. „Ähm ... nein ... das werde ich wohl nun tun müssen.“ Er wandte ihr den Rücken zu und schaute noch einmal durch die Scheibe zu Amber. Und er erkannte, noch bevor er den Blick abwandte, dass Sybill am Bettrand ihrer Tochter endlich eingeschlafen war. <
Als Ambers Augen zuzufallen drohten, glaubte sie einen Lichtblitz am dunklem Himmel zu erkennen. Prompt war ihre Müdigkeit wie weggewischt. Sie rüttelte Bortill wach, der schon seit einer Stunde schnarchte und zeigte ihm das goldene Glänzen in der Dunkelheit.
Bortill blickte mit zugekniffenen Augen zu dem Punkt, auf den Amber deutete und erblickte es auch. Ein Flimmern, das ein Borga, der nicht so aufmerksam wie Amber in den Himmel starrte, gewiss übersehen hätte. „Das ist er!“, hauchte er und zog die Decke bis zum Hals hoch. „Gewiss ...“
Amber war fiel zu aufgeregt um ein Wort hervorzubekommen. Das Einzige, was sie tun konnte, war, den Nachtfalter mit Argusaugen zu fixieren.
Wagte noch nicht einmal zu atmen. Drückte so kräftig wie möglich Bortills Hand. Und er drückte ebenfalls. Amber schaute zu ihm und erkannte ein zweites Mal diese unbestimmte Traurigkeit in seinen Augen.
Doch sie hatte nun keine Zeit danach zu fragen. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Amber raffte sich auf, lief zur Leiter und kletterte hinunter.
„Was hast du vor?“, hörte sie Bortills Stimme fragen.
Aber Amber antwortete nicht. Sie hatte das Gefühl jetzt sofort dem Nachtfalter begegnen zu müssen. Wenn nicht jetzt, dann nie ...
Amber rannte so schnell wie sie konnte. Rannte durch das Gewirr von Obstbäumen, durchpflügte das Unterholz und schaute immer wieder zum Himmel hinauf. Und jedes Mal sah sie das Flimmern, das kein bisschen größer geworden zu sein schien. Doch es war viel zu früh um aufzugeben. Sie hatte schließlich erst begonnen.
>Göran öffnete die Türe und betrachtete Sybill, deren Kopf aus Ambers Hand lag. Sie sah so zart, so zerbrechlich aus. Er sollte sie noch kurz schlafen lassen, bevor die Schwester die Geräte abschaltete.<
Amber glaubte, so schnell wie der Wind zu sein. Äste und Blätter peitschten ihr ins Gesicht, doch sie beachtete es nicht. Sie wollte nur den Nachtfalter einholen. Wenn sie ihn nicht einholen würde, würde etwas sehr, sehr Schreckliches passieren. Das wusste Amber ...
Sie suchte einen Weg durch das Labyrinth der Bäume. Schlug einmal rechts und einmal links ein. Als sie wieder emporblickte, konnte sie noch immer das Flimmern erkennen. War es größer geworden? Hatte es sich ihr genähert?
>Swantjein fühlte sich wie ein Henker. Obwohl nicht er die Geräte abschalten musste. Obwohl nicht er die Entscheidung über Tod oder Koma getroffen hatte.
Und doch ... <
Schon jetzt klopfte Ambers Herz ganz schnell und ungleichmäßig. Doch ob es von Aufregung oder von Anstrengung herrührte, wusste sie nicht.
Amber passierte eine undurchdringliche Mauer von Bäumen, als ob sie sich gegen sie verschwört hätten. Sie rannte nach links, suchte nach einer Lücke und fand sie schließlich. Keuchend kroch sie hindurch, sprang auf und rannte weiter. Weiter ...
>Der Doktor schreckte auf. Die Krankenschwester war ins Zimmer getreten und blickte zu Amber, die noch zerbrechlicher und bleicher wirkte als sonst. Sie war für die Geräte zuständig. Musste nur ein paar Knöpfe drücken. Mehr nichts ... Reinste Routine.
Und so wurde der erste Knopf gedrückt.<
Amber stolperte über eine Wurzel und schlug auf dem weichen Gras auf. Doch es war hart genug, Amber pochende Schmerzen zuzufügen. Am liebsten hätte sie nun aufgegeben. Hätte den Nachtfalter verdammt, von dem sie doch eigentlich gar nichts wusste und noch nicht einmal verstand, weshalb sie ihn unbedingt treffen wollte. Als sie sich aufgerappelt hatte, blickte sie wieder durch die Baumkronen und versuchte das Flimmern auszumachen. Doch sie sah nichts ... nichts ... Mit den letzten, verbliebenen Kräften setzte sie sich wieder in Bewegung.
>“Halt!“, schrie Swantjein und rannte zur Schwester, die erschrocken, aber zugleich verärgert aufschaute.
„Ihre Mutter schläft noch. Sie können doch nicht ...“
„Ja, natürlich ... wecken Sie sie auf. Auch wenn wir ihr deswegen vielleicht keinen Gefallen tun.“
Swantjein nickte und strich über Sybills Schulter. Sie zuckte ... doch sie wachte nicht auf ...
Swantjein berührte sie etwas stärker, wieder ohne Ergebnis.
„Vermutlich ist es sowieso besser, wenn sie davon nichts mitbekommt.“, flüsterte die Krankenschwester und schaute mitleidig zu dem Doktor rüber.
Swantjein schüttelte Sybill noch ein letztes Mal, bevor er widerwillig nickte.<
Amber hatte aufgegeben. Rannte nicht mehr, schaute nur noch zum Himmel. Das Leuchten war verschwunden. Der Nachtfalter war verschwunden. Und Amber fühlte sich so verloren ... so einsam ... wollte ... nur ... noch ... schlafen ...
Sie trottete weiter, und erkannte ein Licht vor sich. Kein Flimmern. Amber lief nun etwas schneller und erkannte, dass dieses Licht von Bortills Haus kam. Sie musste wegen dem Bäumelabyrinth im Kreis gelaufen sein. Doch es war viel heller als sonst ... das konnte doch nicht das Kaminfeuer sein ... nein, das war unmöglich ... aber trotzdem ... Ambers Gedanken rasten. Und als sie die letzte Baumgruppe durchschritten hatte, erblickte sie keine Hütte mehr, sondern eine einzige, große Flamme. Selbst in dieser Lethargie, in der sich Amber gerade befand, verstand sie, dass das nichts Gutes bedeuten konnte.
>Die Hälfte der Geräte waren abgeschaltet. Die Hälfte der Knöpfe waren gedrückt. Swantjein fühlte sich von Sekunde zu Sekunde unwohler. Wollte Sybill wecken und der Schwester Einhalt gebieten. Doch er konnte es nicht. Er durfte es nicht. Die Papiere waren unterschrieben. Und so ging ein Lämpchen nach dem anderen aus. Pling, Pling, Pling …<
Gerade als Amber schreien wollte, tauchte Bortill aus der Dunkelheit auf.
„Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr!“, sagte er und lächelte. Ja, er lächelte tatsächlich!
„Aber ... aber warum?“, stammelte Amber und schaute zum brennenden Haus.
Bortill antwortete nicht und schaute nur in den Himmel. Darum.
„Wegen“, Amber packte ihn bei den Schultern, wie es Erwachsene manchmal zu tun pflegten und schüttelte ihn „wegen dem Nachtfalter?“
Bortill sagte immer noch nichts. „Aber ... aber das ist doch absurd!“ Amber wurde von schrecklichem Gewissenbissen überflutet, wie von einer gigantischen, harten Welle. Hatte Bortill etwa nur wegen einem ihrer vermaledeiten Tagträume das Haus verbrannt?
Die Flammen wurden höher und Amber spürte die ständig wärmer werdende Temperatur.
Er hatte es getan, damit ein heller Lichtpunkt entstand. Dass der Nachtfalter es sehen würde. Zu ihnen käme ... „Ich habe es gemacht, damit es dir gut geht!“, wisperte Bortill und umschloss ihre Hand. „Nicht damit du dir Sorgen machst.“
Es war ein Abschied. Das spürte Amber. Und sie wusste nicht warum.
>Während die letzten Geräte ausgeschaltet wurden, schloss Swantjein die Augen und versuchte die Trauer zu verdrängen. Doch es ging nicht und er tat etwas, was er seit etwa fünf Jahren nicht mehr getan hatte. Er weinte.<
Amber entdeckte eine einzelne Träne auf Bortills Gesicht, doch er hatte sich sofort abgewandt.
„Du wirst glücklich sein. Das weiß ich. Und mach dir keine Sorgen um mich. Ich komme zurecht.“ Er drückte ihre Hand noch ein wenig fester. Als Amber kurz davor war aufzuschreien, hatte sich seine Hand gelöst. „Mach’ s gut. Und vergiss mich nicht. Versprochen?“
Amber konnte nichts sagen. Konnte nicht nicken. Konnte nur weinen. Ganz arg und bitterlich.
Bevor sie Bortill noch ein letztes Mal umarmen konnte, wurde die Umgebung erhellt. Nicht von den Flammen, sondern vom Schein des Nachtfalters, der sich Amber näherte und schließlich auf dem Boden landete. Vor ihr. Vor Amber.
Seltsamerweise hatte sie sich ihn genau so vorgestellt. Er war weiblich, hatte lange, schwarze Haare, die im Takt des Windes aufwirbelten und zwei weiße, große Flügel. Er sagte nichts. Lächelte nur – und streckte seine Hand aus.
Amber blickte ein letztes Mal zu Bortill. Aber da war kein Bortill. Da war kein brennendes Haus und keine Obstbäume. Nur Schwärze. Doch Amber hatte keine Angst. Griff nur nach der Hand des Nachtfalters, drückte sich ganz fest an ihn und schloss die Augen.