• Hier eine Kurgeschichte, die ich leider in zwei Teile teilen muss, weil sie ein Tick zu lang ist.



    Nachtfalter


    >“Wollen Sie nicht mal wieder nach Hause? Sie bräuchten Schlaf! Dringend!“ Dr. Göran Swantjein klemmte sich die Unterlagen unter den Arm und blickte zur Mutter der Patientin.
    Sybill. Der Engel. Die ewig Trauernde.
    Swantjein konnte sich noch gut an die Zeit erinnern, bevor die Sache mit ihrer Tochter geschah. Als Sybill mit einer Grippe oder mit gebrochenem Fuß im Wartesaal saß. Anmutig. Wunderschön. Nun jedoch, seitdem ihre Tochter im Koma lag, wirkte sie zerbrechlich. Als ob ein kleiner Windhauch genügen würde, sie in tausend Stücke zu zerteilen. Tiefe Augenringe zeichneten sich in dem schneeweißen Gesicht ab und die Haare waren unordentlich zu einem Zopf zusammengebunden. Göran erkannte sie fast nicht wieder. Er spürte die unermessliche Trauer, die wie ein Gewicht auf ihrer Seele lastete.
    Sybill saß am Fuß von Ambers Matratze und weinte. Nur langsam schaute sie auf und sah Swantjein in die Augen. „Ich ... ich habe mich schon seit längerer Zeit entschieden ...“
    Natürlich, dachte Swantjein und musste sich einen Seufzer verkneifen. Das Gleiche wie immer. Sybill würde warten, bis keine Hoffnung mehr vorhanden war. Und die Hoffnung war bei Komapatienten nie verloren ... Doch Sybills Entscheidung sah völlig anders aus, als es sich Swantjein gedacht hatte.
    „Ich hasse die Vorstellung, dass Amber in ihrem Körper gefangen ist. Dass sie sterben will, es aber nicht kann. Stellen Sie sich vor, Sie liegen lebend in einem Sarg. Unter der Erde. Wollten Sie nicht auch sterben, wenn Sie könnten?“ Sybill schniefte und wischte sich die Tränen von den Wangen. „Zu lange habe ich Amber schon leiden lassen ... zu lange ist sie gefangen. Sie soll sterben. Das ist ...“ Sie hielt inne und runzelte die Stirn, als ob sie überlegen müsse. „Das ist, glaube ich, das Beste ... Sie können die Geräte abstellen. Noch heute, wenn Sie wollen. Ich will nur noch ein Weilchen bei ihr sitzen.“
    Göran sagte nichts. War viel zu verwundert um den Mund aufzubekommen. Sybill wollte tatsächlich ... sie wollte ...
    Swantjein fuhr sich über das Gesicht und schnaubte.
    „Ihre Tochter empfindet keine Gefühle. Sie ist im Koma ... Sie ...“ Swantjein wurde unterbrochen.
    „Es ist das Beste so ...“, flüsterte Sybill und versuchte zu lächeln. Ein kläglicher Versuch.<


    „Du lügst!“, schrie Amber und verschränkte die Arme. Sie machte eine Fläppe und stampfte auf den Boden.
    „Nein, nein, nein!“ Bortill schüttelte den Kopf. „Dort oben ist wirklich ein Loch! Ein riesiges, tiefschwarzes Loch. Und manchmal, das sehe ich wenn ich nachts hier draußen sitze, kommt der Nachtfalter. Hell ist er – so hell und rein, wie es noch nicht einmal die Sonne ist!“
    Amber blickte skeptisch auf und vergaß die Bockige zu spielen. „Heller als die Sonne?“
    „Aber wenn ich es dir doch sage!“
    Amber sprang von dem Mäuerchen hinunter und blickte empor. Die Blütenbäume versperrten ihr zwar die Sicht, doch sie konnte trotzdem mit ein wenig Anstrengung den hellen, leuchtenden Kreis am Himmel erkennen.
    „Und warum kommt er hierher?“, fragte sie.
    Bortill zuckte mit den Schultern. „Nun, ich weiß nicht ... manche Leute aus dem Borgatal meinen, er wäre auf der Suche.“
    „Auf der Suche? Aber was sucht er denn? Muss das nicht schrecklich langweilig sein, jede Nacht zu suchen? Also ich glaube, ich würde vor Langeweile umkommen!“
    Bortill lächelte. Er saß in seinem Sessel, unter den Blütenbäumen und schaute ins Borgatal hinunter, wo sich jeden Abend alle Borgas versammelten. „Vielleicht ist es das. Doch der Nachtfalter überwindet jegliche Langeweile um einen Freund zu suchen.“
    „Also ich weiß nicht.“, flüsterte Amber und legte die Stirn in Falten. „Das muss ja ein ziemlich netter Freund sein. Wissen die Leute, welchen Freund genau? Vielleicht kenn’ ich ihn ja. Oder vielleicht bist es ja du, den er sucht!“
    Bortill lachte, so dass sein Sessel fast nach hinten kippte. „Mich? Niemals. In all den Jahren, bist du meine erste und einzige Freundin gewesen. Und das wird sich nicht ändern!“
    Amber musterte Bortill genauer. Die tiefen Falten im Gesicht, verrieten, dass Bortill sehr alt sein musste. Und trotzdem war sie seine einzige Freundin. Amber dagegen hatte Hunderte Freunde im Borgatal. Moll, der dicke Bäcker, Mortila, die ständig missgelaunte Weberfrau, Matthis, der Riese und viele, viele andere. Und jeden besuchte sie. Am liebsten von allen hatte sie aber Bortill.
    „Glaubst du, der Nachtfalter fragt auch uns?“, wollte Amber wissen und stellte sich einen großen Menschen mit weißen Flügeln vor.
    „Ich weiß nicht!“, brummte Bortill. „Vielleicht bist ja du es, den der Nachtfalter sucht!“
    Amber runzelte die Stirn und kicherte. „Du bist verrückt, Bortill!“


    So sehr Amber Bortill für verrückt erklärte, genauso stark wünschte sie sich, er hätte recht. Es musste ein verdammt außergewöhnliches Spektakel sein, wenn der Nachtfalter zu Amber käme und vor Freude in die Arme nähme.
    Amber saß im hohen Gras und blickte zu Matthis, der das Mühlrad anschob, weil es wie jeden Tag aussetzte. Sie hatte ihn gefragt, ob er dem Nachtfalter begegnet war. Doch Matthis hatte den Kopf geschüttelt.
    „Nachtfalter – ph ... das ich nicht lache! Das ist doch nur wieder so eine Spinnerei von Bortill!“, hatte er gesagt und kümmerte sich nicht um die Tritte von Amber, die es hasste, wenn der riesige Mensch so schlecht von ihrem Freund redete. „Er lebt in einer anderen Welt! Er hat sich sein eigenes Universum zusammengezimmert!“
    Amber streckte die Zunge heraus und plumpste ins Weiche Gras. „Es gibt den Nachtfalter! Du wist’ s schon noch sehen!“
    Daraufhin lachte Matthis und schob das Mühlrad weiter an.


    Kaum hatte die Dämmerung eingesetzt, sprang Amber auf und suchte sich den kürzesten Weg durch die blühenden Obstbäume. Die Grillen zirpten laut, als sie durch das Gras rannte und die Vögel durchbrachen krächzend die Baumkronen. Doch Amber störte das nicht. Sie wollte vom höchsten Punkt im Borgaland blicken und den Nachtfalter entdecken, wenn er diese Nacht aus dem schwarzen Loch auftauchte.
    Schon von weitem sah sie Bortills Hütte und spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie wusste nicht weshalb sie sich so sehr für den Nachtfalter interessierte – doch tief in ihrem Innern fühlte sie sich mit ihm verbunden. Das mochte komisch klingen, doch Amber war sich ganz sicher, dass es diesmal keiner ihrer viel zu vielen Hirngespinste war.
    Keuchend übersprang sie die Gartenmauer und stolperte auf Bortills Sessel zu. Er war leer. Hastig überschritt sie die Türschwelle und entdeckte ihren Freund in der Wohnstube, wo er das Feuer im Kamin entfachte. Als er Ambers Schritte hörte, drehte er sich um und blickte sie überrascht an. „Amber ...“
    „Können wir heute Nacht auf deinem Dach sitzen und ins Borgatal hinunterschauen?“, presste sie in Sekundenschnelle hervor und faltete die Hände flehend zusammen.
    Bortill schnaubte. „Aber du weißt doch. Mein Rücken ...“ Er hielt inne und musterte Amber. „Ist es wegen dem Nachtfalter?“
    Amber nickte. Und in diesem Moment wusste sie, Bortill würde zustimmen.
    Wenige Minuten und zehn Decken später, lagen Amber und Bortill auf dem Dach der Hütte, eingehüllt von etlichen Decken und der Wärme des Kaminfeuers, die durch die schmalen Holzritzen des Daches drang.
    Das Weiß der Blütenbäume leuchtete zu ihnen herüber, die fernen Lichter aus dem Borgatal waren ockergelb und die Sterne über ihnen waren hell und klar.
    „Glaubst du er wird kommen?“, fragte sie und drückte Bortills Hand, um sich zu vergewissern, dass er noch neben ihr lag.
    Bortill schaute zu ihr und lächelte. „Er wird kommen. Vetrau’ mir!“ Und Amber glaubte, in diesem Augenblick Traurigkeit in seinen Augen zu entdecken.