Rega Kerner: Wer Schiffe klaut, kriegt nasse Füße. Roman. (Ab 14 J.), Bremen 2018, Edition Falkenberg, 978-3-95494-155-1, Softcover, 231 Seiten, Format: 14 x 22 x 1,8 cm, EUR 12,80.
„Es ist doch nur die Frage, was zuerst leer ist, das Essen oder der Tank oder das Glück, nicht erwischt zu werden. Jetzt haben wir vielleicht gerade noch genug Diesel, NOORTJE zurück in den Hafen zu bringen. Und nach Hause zu gehen, als wäre nichts gewesen.“ (Seite 162)
Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass Lara Klaasen und die gleichaltrige Karla beste Freundinnen werden können. Lara stammt aus gutem Haus, Karla aus prekären Verhältnissen. Sie wohnt in einem der Hochhäuser der Grohner Düne in Bremen-Vegesack. Doch schon als kleine Mädchen haben sie erkannt, was sie verbindet: Sie sind ihren Eltern sch***egal. Die haben so viel mit sich und ihren eigenen Problemen zu tun, dass sie ihre Töchter glatt vergessen haben. Also ernennen sich Karla und Lara kurzerhand zu Zwillingen und sind fortan unzertrennlich. „Karlara“ nennt eine Lehrerin die beiden insgeheim.
Jetzt sind die besten Freundinnen siebzehn, und an ihrer häuslichen Situation hat sich nichts verbessert. Laras Mutter kümmert sich mehr um Haushalt und Garten als um die Tochter und der Vater lässt sich nur noch sporadisch zu Hause blicken. Sein Leben spielt sich anderswo ab. Karlas Eltern interessieren sich für gar nichts und verdämmern ihr Leben vor dem Fernseher.
Ein Boot, so vernachlässigt wie die Freundinnen
Bei einem Streifzug durch den Museumshaven Vegesack entdeckt Karla ein altes blaues Stahlboot, das genauso vergessen und vernachlässigt zu sein scheint wie ihre Freundin und sie. NOORTJE heißt es, und Karla erklärt es zu ihrem persönlichen Rettungsboot.
Beim ersten Erkundungsgang an Bord rutscht Laras Schultasche ins Hafenbecken. Wenn der Schulbesuch nun quasi ins Wasser gefallen ist, können sie ja jetzt eine Spritztour mit der NOORTJE unternehmen! Allzu viel Ahnung von der Materie haben sie nicht. Strom? Sprit? Trinkwasser? Proviant? Bargeld? Darüber haben sie nicht nachgedacht. Wie man richtig ab- und anlegt wissen sie auch nicht. Sie wollen nur weg. Zuhause hält sie nichts. Wohin auch immer sie mit dem geklauten Boot schippern würden: Es kann dort nur besser sein als daheim.
Wie klaut man ein Boot?
Wie durch ein Wunder bringt Karla tatsächlich den Motor zum Laufen. Irgendwie kriegen sie auch die Taue von den Pollern gefriemelt und legen ab. Wohin? Egal. Immer der Nase nach.
Wie unbeholfen sich die zwei anstellen, ist für jemanden, der etwas vom Leben an Bord versteht, sicher ungleich amüsanter als für reinrassige Landratten wie mich. „Hätte ich auch nicht gewusst“, habe ich ein ums andere Mal gedacht, wenn die zwei Mädels nach vielen Mühen und Plagen schließlich ein Problem gelöst bekamen. Gut, manches ist auch mangelnder Lebenserfahrung geschuldet. Am Abwaschproblem wären gestandene Hausfrauen und –männer garantiert nicht verzweifelt. Aber es sind Teenager auf einem „Roadtrip“ zu Wasser. Die kommen garantiert gescheiter heim als sie weggefahren sind.
Die zwei genießen die Freiheit und das Abenteuer, auch wenn manche Episode nur mit viel Glück gut ausgeht. Und sie fürchten sich vergebens vor einer Begegnung mit der Polizei. Daheim vermisst sie kein Mensch.
Zwei Binnenschiffer als rettende Engel
Doch so viel Dusel, wie die zwei ahnungslosen Mädchen bräuchten, gibt’s gar nicht. Würden Binnenschiffer Franz von der „Mina-Ida“ und sein Matrose Max sie nicht unter ihre Fittiche nehmen und ihnen bei jedem Aufeinandertreffen mit Material, Wissen und tatkräftiger Hilfe unter die Arme greifen, wäre der Spaß schon nach der ersten Nacht zu Ende.
Den Binnenschiffern ist bestimmt klar, dass die Mädchen ihnen einen Bären aufgebunden haben und unerlaubterweise mit der NOORTJE unterwegs sind, aber sie sehen keinen Grund, sie zu verpfeifen. Vielleicht wäre aber genau das für die Freundschaft von „Karlara“ das kleinere Übel gewesen.
Karla verguckt sich in den Matrosen Max. Der aber hat kein Interesse an dieser dürren Bohnenstange, sondern nur Augen für das üppige Dekolletee von Lara. Die will wiederum nichts von Max, weil sie unglücklich in ihren Schulkameraden Lukas verliebt ist. Da kommt Karla auf eine sensationell bescheuerte Idee, die nur in einer emotionalen Katastrophe enden kann ...
Inzwischen ist daheim in Bremen zumindest Frau Klaasen aufgefallen, dass sie ihre Tochter Lara schon seit ein paar Tagen nicht mehr gesehen hat. Sie geht zur Polizei. Bis Karlas Eltern einfällt, das sie ja irgendwann mal ein Kind gehabt haben, dauert es noch ein Weilchen. Das größte Armutszeugnis stellen sie sich aus, als sie nicht mal ein Bild von Karla haben, das sie der Polizei überlassen könnten. Spätestens da kann man nachvollziehen, warum das Mädchen weg will.
Umkehren oder weiterfahren?
Ewig werden weder die Vorräte noch das Geld der beiden „Piratinnen“ reichen. Und das Glück sicher auch nicht. Selbst wenn niemand die NOORTJE als gestohlen gemeldet hat: Jetzt gelten sie als jugendliche Ausreißerinnen und die Polizei ist ihnen auf den Fersen.
Was sollen sie tun? Reumütig umkehren und tapfer die Konsequenzen tragen oder warten, bis sie erwischt werden, weil jetzt ohnehin schon alles egal ist? Natürlich gönnt man ihnen Freiheit, Spaß und Abenteuer. Sie sind ein eingespieltes Team, haben von klein auf Halt aneinander gefunden und sich gemeinsam bis zum Erwachsenwerden durchgewurstelt. Kapitänin Karla war immer fürs Vorwärtskommen zuständig, Lara, die jetzt perfekt das Boot festmachen kann, fürs Stoppen. Wenn sie jetzt einfach so weiterfahren, werden sie sicher irgendwie klar kommen. Und den lieblosen Eltern geschähe es recht, wenn die beiden sich nicht mal mehr nach ihnen umdrehten.
Der Spießerin in mir missfällt jedoch der Gedanke, dass die zwei ohne Schulabschluss in die Welt hinausziehen könnten. Wär’s nicht vielleicht doch gut, sie würden nochmals für kurze Zeit nach Bremen zurückkehren, die NOORTJE abliefern und ihre persönlichen Angelegenheiten regeln? Danach können sie ja wieder gemeinsam losziehen.
Wie immer sie sich auch entscheiden werden – und das bleibt am Schluss offen – ich wünsche ihnen, dass sie viel erleben werden, dass sie die Liebe und Anerkennung erfahren, die ihnen im Elternhaus vorenthalten wurde, und dass kein Mann je diese Frauenfreundschaft auseinanderbringt.
Nicht nur für Seebären und Teenager
Der menschliche Aspekt der Geschichte kommt auch bei uns Landratten an. Und man muss kein Teenager sein, um an den Erlebnissen der beiden Schiffsdiebinnen Gefallen zu finden. Es reicht, wenn man mal einer gewesen ist.
Wer sich allerdings auf Booten und Schiffen, mit Schleusen und Brücken so gar nicht auskennt, tut sich manches Mal schwer, sich ein Szenario wirklich vorzustellen. (Auch ein gutes Dutzend Bücher von Claus Beese gelesen zu haben, macht eine Landratte noch nicht zum hinreichend sachkundigen Seebären.)
Trotzdem: Wenn’s eine Fortsetzung der Geschichte gibt, bin ich auf jeden Fall wieder mit an Bord.
Die Autorin
Aufgewachsen als norddeutsche Seemannstochter, wollte sie bücherschreibende Binnenschifferin werden, was am Recht der Frau auf ihre eigene Toilette scheiterte. (Es gibt nur eine "vor dem Mast".) Die Lebenswellen verschlugen sie zu diversen Tätigkeitsbereichen bei Film, Theater/Musical, Jugendarbeit und Multimedia/Internet. Für die Medien an den Rhein gezogen, fand sie als Kölner Fährfrau endlich zurück zum Wasser. Es folgte Fahrgastschifffahrt im Koblenzer Raum, danach war sie rund zehn Jahre Steuermann sowie Kapitänsfrau auf einem Motortankschiff. Hinzu kam ein Wohnboot als Meldeadresse. Mann mit Tanker ist weg, Boot mit Schulkind ist geblieben. Zurück im Norden, ist sie jetzt allein erziehende Schriftstellerin.
https://www.amazon.de/Schiffe-klaut-kriegt-nasse-Füße/dp/3954941554/re f