Felicity Whitmore: Der KIang der verborgenen Räume. Roman, München 2017, dtv Verlagsgesellschaft, ISBN 978-3-423-26167-8, Klappenbroschur, 427 Seiten, Format: 13,4 x 3,5 x 21,1 cm, Buch: EUR 16,90 (D), EUR 17,40 (A), Kindle Edition: EUR 14,99.
„Anna war hilflos. [Er] erpresste sie auf eine Art und Weise, die das Falsche zum Richtigen und das Richtige zum Falschen werden ließ. Aber es gab nichts Richtiges in dieser Situation.“ (Seite 351)
Die Konzertpianistin Nina Altmann, 24, hat schon im Grundschulalter ihre Mutter verloren und seitdem keinen Kontakt mehr zu ihrer Geburtsfamilie. Ihre Klavierlehrerin und deren Mann sind für sie zu Ersatzeltern geworden. Dass sie mütterlicherseits noch Verwandtschaft hat, wird ihr erst klar, als Urgroßtante Ernestine ihr ein Herrenhaus im Herzen Englands vererbt.
Stone Abbey heißt das Anwesen. Es ist seit 1723 in Familienbesitz und noch heute Objekt wüsten Dorfklatsches, denn dort hat einst die Pianistin Anna Stone gewohnt, die 1857 in einem Anfall von Wahnsinn mehrere Menschen getötet haben soll. Die Anzahl der angeblichen Opfer schwankt stark, je nachdem, wen man fragt.
War Ninas Vorfahrin eine Mörderin?
Ninas verstorbene Urgroßtante besaß alte Dokumente, die vermuten lassen, dass Anna Stone gar keine Mörderin war. Wirklich beweisen konnte sie ihre Unschuld aber nie. Jetzt soll die neue Besitzerin von Stone Abbey mit den Nachforschungen fortfahren. Nina, die gerade eine Riesendummheit gemacht hat und in einer schweren Krise steckt, kommt diese Aufgabe als Ablenkung gerade recht.
In den Cotswolds angekommen, haut das Erbe sie regelrecht um: Stone Abbey ist ein riesiger Kasten mit einer unüberschaubaren Anzahl vollgekramter Zimmer - und mit einem enormen Renovierungsstau. Nie wird Nina sich den Unterhalt dieser Immobilie leisten können! Also gilt es, sich schnellstmöglich einen Überblick über eventuell vorhandene historische Dokumente zu verschaffen und das Objekt dann umgehend abzustoßen.
Der nächste Schock ist ein Gemälde, das Anna Stone am Klavier zeigt. Sie hatte eine unglaubliche Ähnlichkeit mit Nina!
Der Lord sabotiert Ninas Recherchen
Die junge Erbin findet tatsächlich ein paar alte Briefe, und eine Spur führt nach Mainston Hall in Nordwales, dem Anwesen von Lord und Lady Lubrell. Dort soll Anna ihre letzten Lebensjahre verbracht haben. Der derzeitige Lord Lubrell torpediert Ninas Recherchen, wo er nur kann. Ahnt er oder weiß er, dass seine Familie in der Geschichte keine allzu gute Figur macht?
Unerwartete Hilfe erhält Nina von Bryan Sackville, für den sein Job als Butler bei den Lubrells nur eine von vielen Rollen ist. Nina lernt ihn auch als umsichtige Aushilfe im elterlichen Pub kennen, als prolligen Motorradfreak mit Hang zu billigen Rockerbräuten und bald auch als guten Freund.
Anna Stone, so finden sie heraus, ist als Tochter eines Briten und einer Deutschen auf einem Gut in Preußen aufgewachsen. Als ihr Vater, William Stone, stirbt, heiratet ihre gesundheitlich angeschlagene Mutter Marianne überraschend dessen jüngeren Bruder Timothy und folgt ihm nach London. Anna muss mit.
Auf der Flucht vorm sadistischen Stiefvater
„Onkel Timothy“ ist ein sadistischer Mistkerl, dem es Freude macht, Marianne und ihre Tochter zu misshandeln und zu quälen. Und er bestimmt, dass Anna seinen Studienkollegen Philip Lyme heiraten muss, der von ähnlichem Kaliber ist wie er selbst. Anna will das auf gar keinen Fall und begreift nicht, warum ihre Mutter zu ihrem neuen Mann hält und nicht mit ihr zusammen fliehen will. Sie kennt eben die familiäre Vorgeschichte nicht. Die arme Marianne ist schon als Teenager unwissentlich zwischen die Fronten eines Bruderzwists geraten und büßt offenbar immer noch für ihre damalige Naivität.
Anna bleibt keine Wahl: In Timothys Haus muss sie um ihr Leben fürchten. Sie läuft weg. Die einzige Anlaufstelle, die sie hat, ist die zweier mitfühlender Damen aus Devon, die sie bei einer Veranstaltung kennengelernt hat. Doch dort kann sie nicht lange bleiben. Der Stiefvater ist ihr auf den Fersen. Nach bitteren Zeiten als hart arbeitendes Stubenmädchen landet sie schließlich in Wales als Gesellschafterin der schwer kranken Künstlerin Sophia und gerät dort in einen ausweglosen Loyalitätskonflikt. Und das ist noch lange nicht das Schlimmste …
... landet Anna schließlich in Wales als Gesellschafterin der schwer kranken Künstlerin Sophia und gerät dort in einen ausweglosen Loyalitätskonflikt. Und das ist noch lange nicht das Schlimmste …
Trifft Nina klügere Entscheidungen?
Werden Nina und Bryan gegen alle Widerstände herausfinden, was damals wirklich geschehen ist? Und, was fast noch wichtiger ist: Wird Nina klügere Entscheidungen treffen als ihre Vorfahrin vor fast 160 Jahren? Andere Möglichkeiten hat sie ja heute als die Frauen im 19. Jahrhundert. Die hat man ja zum Teil behandelt wie Ware. Das weiß man zwar, aber man regt sich immer wieder aufs Neue darüber auf, wenn man das so liest.
Die Handlung springt zwischen Nina, Anna und der Generation von Annas Eltern hin und her. Es steht stets klar und deutlich da, wann und wo eine Szene spielt, trotzdem kommt man mitunter kurz ins Straucheln: Wie kann Anna auf ihrer Flucht ein Zimmer reserviert haben? Die hatten doch damals noch kein Telefon! Ach nee, halt, hier geht’s ja um Nina! Die ist ein paar Generationen später in genau derselben Gegend unterwegs. Das ist sicher eine gewollte Irritation, um die Ähnlichkeit der beiden Frauen zu betonen – „Zwillingsschwestern“, die anderthalb Jahrhunderte trennen.
Die Geschichte ist spannend, weil man wissen will, was Anna Stone getan oder eben nicht getan hat. Dass sie nicht zimperlich ist, wenn sie in die Enge getrieben wird, merkt man als Leser recht bald. Deshalb traut man ihr auch drastische Maßnahmen zu.
Mistkerle sind auch nur Menschen
Die Bösewichte in diesem Roman sind ein bisschen plakativ böse, auch wenn man durchaus nachvollziehen kann, was sie umtreibt. Mit manchen Figuren hat man direkt Mitleid: Je mehr sie sich damit abmühen, ihre Widersacher zu bekämpfen, desto tiefer reiten sie sich selbst in die Sch***e. So ist eben manchmal das Leben, nicht nur im Roman.
Ich habe das Buch in zwei Tagen durchgelesen. Vielleicht ist mir deshalb der häufige Einsatz einer bestimmten Formulierung aufgefallen: das Kribbeln im Bauch. Möglich, dass nur mich das stört und sonst keinen. Deshalb: Peanuts. DER KLANG DER VERBORGENEN RÄUME ist gute Unterhaltung. Punkt.
Die Autorin
Felicity Whitmore hat vier große Leidenschaften: England, ihre Hunde, das Theater und das Schreiben. Daher eröffnete sie 2011, nach dem Studium der Germanistik und Religionswissenschaft an der Ruhr-Universität in Bochum, das Theater an der Volme in Hagen, das sie gemeinsam mit ihrem Mann betreibt. Sie lebt in Hagen/Westfalen, hat vier Hunde, reist regelmäßig nach England und schreibt, wann immer sie Zeit dafür findet. In ihren Romanen beschäftigt sie sich am liebsten mit den Geheimnissen alter Häuser und den Auswirkungen der Vergangenheit auf die Gegenwart. Außerdem schreibt sie Theaterstücke, die alle mit großem Erfolg gespielt werden.
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