Kris B.: Näher als du ahnst. London Crimes, Ricks 1. Fall – Psycho-Krimi, München 2017, Edition Tingeltangel, ISBN 978-3-944936-34-5, Klappenbroschur, 151 Seiten, Format: 13,9 x 2,4 x 21,3 cm, Buch: EUR 10,90, Kindle Edition: EUR 6,99.
„Englands einfühlsamster Ermittler – verstrickt in vier Verbrechen. Jeder der Psycho-Krimis erzählt einen in sich abgeschlossenen Fall. Im Zentrum stehen jeweils außergewöhnliche Frauen.“ (Klappentext)
Der kleine Zylinder auf dem Cover dieses liebevoll ausgestatteten Buchs hat mich zunächst in die Irre geführt. Dass es sich dabei um das Verlagslogo handelt, habe ich erst später begriffen. Ich dachte, die Reihe „London Crimes“ spiele Anfang des 20. Jahrhunderts und war etwas erstaunt, dass die Ereignisse 1990 ihren Anfang nehmen:
April Stevenson sieht Todesfälle voraus
Die fünfjährige April Stevenson versucht mit aller Macht, ihre Familie daran zu hindern, ins Auto zu steigen und zur Oma zu fahren. Sie sieht das Auto brennen und ihre Angehörigen sterben. Dass das die erste ihrer Todesvisionen ist, kann sie nicht wissen. Ihre Eltern glauben, sie stelle sich nur an, weil keine Lust auf den Verwandtenbesuch hat und schlagen ihre Warnungen in den Wind. Weil sich die Kleine gar so hineinsteigert, bleibt Mutter Imogen schließlich mit ihr zu Hause, während Vater, Sohn und Hund zu der Fahrt aufbrechen.
Es kommt zu einem Unfall, den nur der Hund überlebt.
Cambridge 2013: Nach zahlreichen fruchtlosen Therapien und Visionen, auf die niemand hören wollte, ist April Stevenson eine menschenscheue Einzelgängerin geworden. Und sie ist mächtig genervt von ihrer hyperaktiven und übergriffigen Hippie-Musikerinnen-Mutter Imogen.
Nachdem April mehrere Jobs in Folge verloren hat, wagt sie jetzt einen Neustart in London. Dort wird sie für ein Übersetzungsbüro mit dem lustigen Namen „Linguini“ arbeiten. Eine fremde, anonyme Umgebung kommt ihr gerade recht. Sie will sich an keine Menschen binden, aus Angst, deren Tod vorauszusehen und ihn nicht verhindern zu können. Wie bei ihrem Professor Russel Fenshaw, mit dem sie eine kurze Affäre hatte. Der wollte auch nicht hören ...
Ein Neustart und ein Todesfall
London 2013: Aprils distanzloser Vermieter in London ist ein bisschen unheimlich. Alles will er wissen. Sie wird doch nicht vom Regen in die Traufe gekommen sein? Der neue Job ist ganz okay, der Kollege Miguel Santos umwerfend attraktiv und dazu noch sympathisch. Nur Kollegin Stella Campion, die mit dem langen blonden Zopf, scheint in April vom ersten Augenblick an eine Konkurrentin zu sehen und behandelt sie arrogant und feindselig. Mit der Wahrheit nimmt’s die Gute offenbar auch nicht so genau. Bei ihr weiß man nie, was tatsächlich passiert ist und was sie sich nur ausgedacht hat – und selbst für die Wahrheit hält. Warum ist die Frau nicht in Therapie?
Auch wenn Stella ein Miststück ist, hält April es für ihre Pflicht, sie zu warnen, als sie Visionen von ihrer Ermordung hat. Die Kollegin lacht sie natürlich aus.
Wenn man ohnehin weiß, dass die Visionen etwas Unabänderliches zeigen, kommt man dann nicht irgendwann an den Punkt, an dem man A***l*cher mit eiskaltem Lächeln ins offene Messer rennen lässt? Ich glaube, ich brächte das fertig. April ist da anders. Ausgerechnet sie ist es, die die tote Stella im Büro findet. Und neben der Toten kniet Migue Santos, gegen den Stella in den Wochen zuvor aufs Heftigste intrigiert hat. Ihretwegen hat er seinen Job verloren. Hat er die Kollegin gefunden und zu retten versucht, oder hat er sie umgebracht?
DI Rick London ermittelt
Es ermittelt Detective Inspector Frederick „Rick“ London, ein feinsinniger und empathischer Mensch, der weiß, wie es ist, ein Außenseiter zu sein. Er nimmt April und ihre Visionen ernst.
Ein wenig Einblick in sein Privatleben erhalten wir auch: Seine Familie meidet ihn, seit er sich als homose*uell geoutet hat. Kontakt hat er nur zu seiner ebenfalls daheim in Ungnade gefallenen Nichte Cecilia (23), die sich als Schriftstellerin versucht. Sie wohnt in Ricks unmittelbarer Nachbarschaft und revanchiert sich für seine emotionale und finanzielle Unterstützung, indem sie ihm seinen Haushalt organisiert. Auf sich allein gestellt, neigt er nämlich zu Chaos und Unordnung.
Diese Familienidylle ist jäh zu Ende, als eine entfernte Verwandte auftaucht: die geschäftige und ziemlich anstrengende Tante Ellie. Erst besucht sie den Inspektor, dann scheint sie dauerhaft bleiben zu wollen. Von Abreise ist jedenfalls nicht mehr die Rede. Platz hat Rick ja. Er hat vor zwei Jahren das Haus seines Lebensgefährten Michael geerbt – in einem der nobelsten Viertel der Stadt.
Eine überraschende Wendung
DI Rick London gibt, wie gesagt, durchaus etwas auf Aprils Visionen. Nur wer ihre zickige Kollegin umgebracht hat, hat Miss Stevenson ja leider nicht gesehen. Bald muss der Detective feststellen, dass eine ganze Reihe von Menschen Grund gehabt hat, Stella an die Gurgel zu gehen. Doch dann führt plötzlich eine Spur zu einer Person, die das Opfer überhaupt nicht gekannt haben kann. Eine neue Intrige? Oder einfach eine überraschende Wendung in diesem mysteriösen Fall?
Ein bisschen wie Alice im Wunderland stolpert April Stevenson durch eine Welt, die sie nicht wirklich versteht und die ihr zutiefst unheimlich ist. Ihre exaltierte Mutter ist ihr keine große Hilfe, und so hat man Verständnis dafür, dass sie auch noch mit Ende 20 ihre Probleme ausschließlich mit einem Kuscheltier aus ihrer Kindheit bespricht. April tut einem unendlich Leid, und man hofft für sie, dass sie und die wenigen Menschen, an denen ihr etwas liegt, heil aus dieser Geschichte herauskommen.
Selbst als ein in der Wolle gegerbter Skeptiker kann man für die Länge dieses Romans die Prämisse akzeptieren, dass es solche Todesvisionen gibt und die Spannung und den feinen Humor des Krimis genießen.
Dass NÄHER ALS DU AHNST der Auftakt zu einer Reihe ist, ist deutlich spürbar. Für den Kriminalfall selbst wären das Privatleben des Ermittlers und das seiner Nichte nicht von Relevanz. Das alles wird im Hinblick auf künftige Ereignisse erzählt und erklärt. Und, ja, es kostet die Geschichte schon ein bisschen Tempo. Das ist ja öfter so bei den Startbänden einer Reihe: Es dauert, bis die Personen alle eingeführt sind. Betrachten wir das als Investition in die folgenden Fälle. Es könnte sich lohnen.
Die Autorin
Kris B. ist eines von fünf Pseudonymen der vielseitigen Autorin und Übersetzerin Christine Spindler, die selbst begeisterte Krimileserin ist. Sie hat als Setting für ihre vierbändige Reihe bewusst London gewählt, denn so gab es immer wieder Gründe für Recherchereisen in die quirlige Metropole – die perfekte Abwechslung zu ihrem ruhigen Alltag in einem idyllischen Dorf. Im Internet ist sie zu finden unter http://www.krisbenedikt.de und www.christinespindler.de
https://www.amazon.de/Näher-als-ahnst-Psycho-Krimi-erster/dp/3944936345/ref