Der deutschen Literatur der letzten Jahre wird eine neue Lust am Erzählen nachgesagt. Als eine Galionsfigur dieser Entwicklung gilt Judith Hermann, deren beide bisher erschienene Erzählungsbände von Publikum und Kritik gleichermaßen begeistert aufgenommen worden sind. Vor allem ihr Megaseller aus dem Jahre 1998 "Sommerhaus, später" ist inzwischen wohl einem Großteil des deutschsprachigen Lesepublikums bekannt.
Erstaunlich an der phänomenal guten Rezeption dieses Buches ist nicht so sehr das Faktum selbst. Hermann schreibt gefällige, gut lesbare Prosa, sie hat eine klare Sprache und ein Gespür für interessante anekdotische Strukturen, die weder zu trivial noch zu symbolhaft verbrämt wirken. Der Erfolg Hermanns gründet wohl nicht zuletzt auf ihrer Fähigkeit einen bestimmten Typ Alltagserfahrung so aufzubereiten, dass er wie etwas Besonderes wirkt, das gleichwohl allen widerfahren kann. Hermann bedient die Sehnsucht nach einem Leben, das mehr ist, als eine kontingente Aneinanderreihung von Entscheidungen, sie verleiht in unaufgeregter Weise den kleinen doch bedeutsamen Kehren unseres Lebens eine tiefere Relevanz.
Genau hier liegt allerdings auch das problematische Moment ihrer Prosa. Beispielhaft steht hierfür die titelgebende Erzählung, in der die Erzählerin den Anruf eines Bekannten erhält, eines sporadischen und wohl vor allem aufgrund seiner Schönheit zugelassenen Mitglieds ihres ebenso angesagten wie ziemlich dekadenten Berliner Freundeskreises. Dieser Bekannte namens Stein hat ein Haus im Brandenburgischen gekauft, das er im Laufe der Erzählung herrichtet – für wen, ist dabei nicht eindeutig zu klären: für ein Leben zu zweit mit der Ich-Erzählerin oder doch als Stützpunkt für die hippe Berliner Clique? „Das hier ist eine Möglichkeit von vielen“ erscheint als der Schlüsselsatz. Nichtsdestoweniger stellt sich im Laufe der Erzählung ein Ungleichgewicht her. Stein und die Erzählerin scheinen näher zusammenzurücken und schließlich ist sie es – kein anderes Mitglied des Freundeskreises – die immer wieder Postkarten erhält, in denen sie darüber aufgeklärt wird, wie weit die Arbeiten an dem Landhaus fortgeschritten sind und dass es nun langsam Zeit wird, sich für einen Umzug oder gegen ihn zu entscheiden – die Möglichkeit also wahrzunehmen oder nicht. Es kommt, wie es kommen muss, eines Tages erhält die Erzählerin einen Brief mit einem Zeitungsausschnitt, der davon berichtet, dass das Haus einem Brand zum Opfer gefallen ist. Stein verschwindet aus Berlin.
Das Problem mit dieser Anordnung ist, dass sich die Erzählung nicht entscheiden kann, welchen Stellenwert dieses Haus als Möglichkeit nun tatsächlich hat. Die dezidiert negative Darstellung des koksenden und kiffenden High-Society-Freundeskreises lässt es eigentlich nicht zu, von einer Gleichwertigkeit der gebotenen Alternativen zu sprechen. Auch in den Erzählungen "Hurrikan" bzw. "Bali-Frau" ist die Konstellation ähnlich. Vorgeblich existiert eine freie Wahl, bei näherer Betrachtung ist die Freiheit nicht gewährleistet, die hinausgezögerten oder nur halbherzig getroffenen Entscheidungen lassen stets den Beigeschmack eines Verlustes zurück, einer vertanen Chance, die das weitere Leben nachhaltig negativ beeinflussen wird. Insofern spiegeln die Erzählungen Hermanns nicht allein eine neue Lust am Erzählen, sondern auch eine neue Lust an bürgerlichen Lebensformen. Die kinderreiche Familie ("Bali-Frau") oder die Zweisamkeit ("Sommerhaus, später") fungieren als positives Gegenmodell zur Spaßgesellschaft, als Alternative, die nur ergriffen werden muss und, die Erzählungen Hermanns lassen da kaum Zweifel, auch ergriffen werden sollte, um einer immer sinnloseren Welt der Vereinzelung zu entkommen. Das vorgebliche Öffnen eines Möglichkeitsraumes enthält in der Darstellung eine eindeutige Präferenz für bestimmte Entscheidungen. Und diese sind in ihrer grundlegenden Richtung konservativ.
Die einzige Erzählung, die dieses Schema wenigstens einigermaßen durchbricht ist "Sonja". Hier ist die Beziehung, die für ein bürgerliches Lebensmodell aufgegeben wird, zumindest eine asexuelle. Jedoch spielen auch hier Heirat und Kinder an entscheidender Stelle eine Rolle, wenn Sonja einräumt, zum Zweck des Kinderkriegens dann doch auch ein paar Mal mit dem Erzähler schlafen zu wollen. Die Asexualität wird demnach in der abgelehnten Alternative kurzzeitig außer Kraft gesetzt, um die volle Bürgerlichkeit zu erreichen. Wirklich provokativ kann man einen solchen narrativen Entwurf wohl auch nicht nennen. Ist es also Zufall, dass Judith Hermann gerade in einer Zeit als gefeierte Neuentdeckung gilt, in der die öffentliche Diskussion nicht müde wird, sich um eine neue Spießigkeit der Jugend bzw. um die Hinwendung dieser zu traditionellen Werten zu drehen?
EDIT: Das ging ja schnell! Danke fuers Verschieben!