Richard Flanagan: Begehren
Piper Verlag 2018. 304 Seiten
ISBN 978-3-492-30840-3. 11€
Originaltitel: Wanting (2008)
Übersetzer: Peter Knecht
2011 Insel Verlag
2009 unter dem Titel Mathinna im Atrium Verlag
Verlagstext
1839: Der Gouverneur von Tasmanien und Polarforscher Sir John Franklin und seine Frau holen eine Aborigine-Waise zu sich ins Haus. Sie wollen Mathinna durch strenge Erziehung »zivilisieren«. Während Lady Jane ihre mütterlichen Gefühle unterdrückt, kann sich Sir John dem Mädchen gegenüber nicht beherrschen. Als er Jahre später nach England zurückbeordert wird, bleibt Mathinna entwurzelt und zutiefst verstört zurück …
1859: Im ewigen Eis soll Sir Franklin dem Kannibalismus verfallen sein. Lady Jane reist nach London zu Charles Dickens, um den berühmtesten Engländer der Zeit um Hilfe zu bitten.
Der Autor
Richard Flanagan wurde 1961 in Tasmanien geboren. Sein Roman »Goulds Buch der Fische«, ausgezeichnet mit dem Commonwealth Prize, machte ihn 2002 weltweit bekannt, seine Romane sind seither in über 40 Ländern erschienen. Für »Der schmale Pfad durchs Hinterland« erhielt er 2014 den Man Booker Prize, zuletzt erschien von ihm bei Piper »Die unbekannte Terroristin«.
Inhalt
Auf das tasmanische Flinders Island wurden 1830 die letzten tasmanischen Ureinwohner zwangsumgesiedelt, die fast alle an Krankheiten oder Alkoholismus starben. Gouverneur von Tasmanien/Van Diemens Land war 1836-1843 Sir John Franklin, bekannt durch seine Arktis-Expeditionen (1818-1827, 1845 …). Lord und Lady Franklin kamen mit hochfliegenden Plänen auf die Insel, um den dort lebenden „Wilden“ europäische Kultur zu vermitteln. Vermutlich scheiterten sie auf der Spielwiese des Kolonialismus an ihrer Herablassung gegenüber fremden Kulturen und dem Unwissen der damaligen Zeit über den Verbreitungsweg ansteckender Krankheiten. Mit fast 50 Jahren nimmt die kinderlose Jane Franklin ein siebenjähriges einheimisches Mädchen bei sich auf, das sie im Text stets „ihr Projekt“ nennt und das sie zu „natürlichen weiblichen Tugenden“ dressieren will. Mathinna in einem roten Seidenkleid wird als Kind vermutlich von John Franklin missbraucht, für den sie sprachlich – in diesem Text – nicht zu existieren scheint. Als die Franklins wieder nach England zurückkehren, wird Mathinna in ein Waisenhaus gesteckt, in dem sich auch andere Familien ihrer unerwünschten Kinder entledigen, und stirbt bald darauf nach einem deprimierenden Abstieg in die Prostitution.
Weil Lady Franklin sich später an Charles Dickens um Hilfe wandte, um den Kannibalismus-Vorwurf gegen ihren Mann auf seiner letzten Expedition zu entkräften, spielt ein Handlungsfaden in Dickens Familie und seinem neu gegründeten Theater in London. Flanagan schildert Dickens als Jammerlappen, der selbst am Zusammenbruch lavierend, darüber lamentiert, dass alle Frauen in seinem Leben an allem Schuld wären, besonders der ausgelaugte Körper seiner Frau nach 10 Geburten. Auch Franklin kommt schlecht weg bei Flanagan. Ihn erlebt man als Weichling, in dessen Ruhm sich Jane Franklin zu gern gesonnt hätte.
Auf mehreren Zeitebenen kann man den Franklins nach Tasmanien und 20 Jahre später nach London folgen, Franklin auf seine letzte Expedition und Mathinna bei ihrem Absturz in die Prostitution. Flanagan versetzte mich in Wechselbäder zwischen Faszination und Abscheu. Fasziniert, wie scharfzüngig er Franklin und seine Zeitgenossen entlarvt in ihrer Scheinheiligkeit gegenüber den Ureinwohnern Australiens und zugleich abgestoßen von Franklin als lüsternem altem Knacker, der dem „Projekt“ seiner Frau Gewalt antut. Nach Überstehen dieser Wechselbäder finde ich Flanagans Kreisen um den Begriff „Begehren“ sehr treffend, da er die Gier der Kolonialmächte nach Ruhm und Reichtum ebenso umfasst wie die persönliche Habsucht einzelner. Auch bei Jane Franklins Sucht nach dem Schatten berühmter Männer handelt es sich um Begehren.
Flanagan schreibt im Nachwort, dass viele Franklin betreffende Interpretationen pure Spekulationen seien und sein Roman kein historischer Text wäre. Fakt sind Dickens als rassistisch zu interpretierender Artikel und die reale Person der Mathinna.
Fazit
Als weitere Perspektive auf John Franklins Leben kann man den Roman lesen, aber auch als Blick auf die Kolonialzeit aus der Perspektive der südlichen Halbkugel. Schade finde ich, dass die Buchcover kein gemeinsames Design mehr erhalten, wie man bei „Tod auf dem Fluss“ noch hoffen konnte.
7 von 10 Punkten