'Lunapark' - Seiten 001 - 088

  • Insbesondere war mir nicht klar, dass Ernst Gennat eine historische Figur war, der sehr viel zur Entwicklung der Berliner Polizei beigetragen hat.

    Ich glaube, ich habe noch bei keinem Buch bzw. bei keiner Serie so viel gegooglet wie bei dieser. Kutscher hat alle möglichen historischen Ereignisse und Personen hier verarbeitet. Über Gennat ist sogar ein eigenes Buch erschienen.


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    Kommissar Gennat ermittelt: Die Erfindung der Mordinspektion

  • Gereon Rath gehört zu den vielen Menschen, die meinen, man könne "unpolitisch" leben und es vermeiden, sich eine Meinung zu bilden. Er möchte nur nicht so sein wie sein Vater.

    Das mag in friedlichen Zeiten gehen - in denen, die er erlebt, ist das nicht möglich.

    Klar, er kann sich nicht offen gegen die Nazis stellen - da wäre er schnell weg vom Fenster. Allerdings müsste er mal die Augen aufmachen, das, was er doch jeden Tag klar vor sich sieht, mal überdenken und eine Haltung dazu suchen.

    Einfach so zu tun, als könne er weiter alleine vor sich hinwerkeln wie es ihm gefällt, das wird nicht lange gut gehen.


    Bei Charly ist das noch anders. Sie sieht die Nazis realistischer, hat aber keine politische Heimat und keine klare Überzeugung, ist aber insgesamt offener.


    Das Problem ist, dass keiner von beiden mit Fritze wirklich spricht. Es geht ihm zwar viel besser in diesen gesicherten Verhältnissen, er ist aber sehr einsam und auch emotional sehr alleingelassen. Kein Wunder, das er Anschluss sucht.

  • Das Problem ist, dass keiner von beiden mit Fritze wirklich spricht. Es geht ihm zwar viel besser in diesen gesicherten Verhältnissen, er ist aber sehr einsam und auch emotional sehr alleingelassen. Kein Wunder, das er Anschluss sucht.

    Vor allem Anschluss an Gleichaltrige, von denen er akzeptiert wird und Freunde findet, das hat er vorher bestimmt nicht gekannt.

    Ich kann gut verstehen, dass er nicht wieder Außenseiter sein will.

  • Wer will schon in dem Alter Außenseiter sein. Das haben sich diverse Diktaturen zunutze gemacht. Und Fritze hat doppelt zu knabbern. Keine Eltern, keine Kameraden oder Geschwister, da lockt die vermeintliche Gemeinsamkeit, das lockere Beisammensein, gemeinsame Interessen

  • Fritze würde ich nie einen Vorwurf machen, aus seiner Sicht ist der Eintritt in die HJ nicht nur verlockend, sondern verständlich. Komplett versagt haben hier Gereon und Charlotte. Dem Jungen ein Bett und etwas zu essen geben, reicht eben nicht aus.

  • Meine Eltern waren bei Kriegsende 12 und 10 Jahre alt und selbstverständlich waren sie Mitglied in den entsprechenden Jugendorganisationen. Auf dem Dorf war das kaum anders möglich.


    Da nach einiger Zeit auch alle anderen Organisationen verboten worden waren, gab es auch nichts anderes. Soweit ich weiß, wurden 1936 auch kirchliche Jugendorganisationen verboten.

  • So kritisch wie ihr sehe ich das nicht. Ich denke, Fritze bekommt bei den Raths schon sehr viel mehr als nur Essen und Unterkunft nämlich u. a. Sicherheit, Geborgenheit, Erziehung, eine schulische Ausbildung und auch Familie und Zuneigung. Abgesehen von seinem Wunsch, in die HJ einzutreten ist er ja auch ein wahres Musterkind: hilft im Haushalt (auch noch Mädchenarbeit!), kümmert sich eigenständig um die Schule, geht mit dem Hund ... Er ist halt in einem Alter, in dem die Guppe von Gleichaltrigen wichtiger wird als die Meinung der "Eltern". Dass ist weitaus "normaler" als umgekehrt.


    Und ich nehme stark an, dass nicht alle Kinder (wie Rumpelstilzchen schon geschrieben hat, war anderes ja die große Ausnahme) in der HJ u. ä. Organisationen aus begeisterten Nazifamilien stammten. Sondern viele aus Familien, die durchaus (wie Charly und Gereon) Bedenken hatten, die diese aber vielleicht nicht in Worte fassen oder sich nicht durchsetzen konnten oder vielleicht (um nicht aufzufallen) auch nicht wollten.


    Gereon Rath gehört zu den vielen Menschen, die meinen, man könne "unpolitisch" leben und es vermeiden, sich eine Meinung zu bilden. Er möchte nur nicht so sein wie sein Vater.

    Das mag in friedlichen Zeiten gehen - in denen, die er erlebt, ist das nicht möglich.

    Klar, er kann sich nicht offen gegen die Nazis stellen - da wäre er schnell weg vom Fenster. Allerdings müsste er mal die Augen aufmachen, das, was er doch jeden Tag klar vor sich sieht, mal überdenken und eine Haltung dazu suchen.

    Einfach so zu tun, als könne er weiter alleine vor sich hinwerkeln wie es ihm gefällt, das wird nicht lange gut gehen.

    Müsste, er, sollte er - ja - aus unserer, heutigen Sicht, natürlich! Aber damals hat er es wohl nicht so gesehen und ich überlege, ob man ihm daraus wirklich einen Vorwurf machen kann. Er weiß nicht, was wir heute wissen, er kennt nur die damalige Zeit und da ergibt halt eins das andere und jeder versucht sein Leben irgendwie weiterzuleben. Gereon war schon immer sehr unkonventionell, er ist jemand, der sein eigenes Ding durchzieht und ich denke nicht, dass er sich da ändern wird. Ich bin gespannt, wie er sich die nächsten Bände entwickelt, sicher nicht in die Richtung, dass er sich als großer Widerstandskämpfer einen Namen macht. Das passt nicht zu ihm. Entweder nimmt er irgendwann doch das Parteibuch, auch wenn er das nicht richtig findet, nur um seine Ruhe zu haben oder geht in den Untergrund. Oder versucht, sich weiterhin so durchzulavieren.


    Aus unserer Sicht nicht richtig. Aber Gereon Rath war noch nie ein "Weißmann", sondern hatte immer schon Ecken und Kanten. Und genau das mag ich an ihn! :)

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021