Posse aus den letzten Tagen der ersten Bananenrepublik
Beim Lesen dieses Romans war ich hin- und hergerissen, ihn entweder strunzblöd oder tendenzgenial zu finden. Ich muss zugeben, dass ich auch nach dem Ende der Lektüre nicht sicher bin, ob ich Michel Decars Achtziger-Story um einen Privatermittler, der hunderte Diskotheken abklappert, um einen geheimnisvollen Anrufer zu finden, für einen unfassbaren Glücks- oder totalen Insklogriff halten soll. Irgendwie ist's vermutlich irgendwas dazwischen, denn Decars Schreibe ist zwar zum Niederknien, Detailreichtum, Geschichtskenntnisse, Dialoge und Figurenzeichnung hauen einen komplett aus den Socken, aber es passiert - im Sinne von fortschreitender Handlung - auch nur äußerst wenig in diesem unkonventionellen, sperrigen Buch - und zwischendrin langweilt's leider sogar ein bisschen. Manchmal hat es mich an Billy Hutters "Karlheinz" (Metrolit, 2015) erinnert, ohne genau sagen zu können, warum. Aber es hat viele Eigenarten, die auf andere Autoren zu verweisen scheinen. Zuweilen ist es ein bisschen walseresk, aber auch Jörg Fauser und Wolf Haas kamen mir beim Lesen in den Sinn.
In den ausgehenden Achtzigern war ich selbst in vielen Diskotheken unterwegs, meistens als Plattenaufleger. Die Läden rund um den Westberliner Ku'Damm, meinem Einzugsgebiet, hießen First, Village, Cotton Club, Space, Tolstefanz, Twenty-Five, Ciro, Coupé 66, Zig Zag, VIP-Club, Big Apple und so weiter. Ganz ähnlich nannten sich die zahlreichen Tanzschuppen, die es zu dieser Zeit überall in der Republik gab, und in denen es immer gleich aussah und ablief. Man soff ab zweiundzwanzig Uhr Bier, Sekt und Longdrinks, rauchte sehr energisch und zappelte zu Kool & The Gang, Rick Astley, Earth, Wind & Fire - oder zu den Songs von Madonna Louise Ciccone, deren drittes Album "True Blue" zu dieser Zeit in drei Dutzend Ländern die Charts anführte. Aber ein Stück davon, "White Heat", das kannte kaum jemand, und in den Diskotheken wurde die etwas schräge Nummer auch nicht oder nur sehr selten aufgelegt. Ich selbst hab's nie getan.
Aber trotzdem läuft genau dieses Lied im Hintergrund, als der Bundesbahnvorstand Georg Mauke am 9. Juli 1988 um 23.40 einen Anruf bekommt, offenbar aus einem solchen Tanzladen. Er beauftragt den Privatermittler Frankie, der für ihn schon zweimal junge Damen ausgeforscht hat. Frankie soll sich auf die praktisch aussichtslose Suche nach einer Spur des namenlosen Anrufers machen, der sich acht Stunden nach dem Anruf mit Mauke treffen wollte, um brandheißes Material zu übergeben, Dokumente, die einen Maulwurf im Bahnvorstand entlarven sollen, aber der Mann erschien nicht. Mehr als diese alleräußerst vagen Hinweise gibt es nicht, dafür aber gutes Honorar und Spesenzuschüsse, deshalb springt Frankie in seinen zucchinigrünen Opel Admiral, raucht ein- bis zweitausend Marlboro Menthol, kippt sich hektoliterweise Bacardi-Cola in den Hals und grast eine Disco nach der anderen ab, Läden, die Malibu und Coconut und Miami Weiß und so heißen, dehnt die Suche nach dem mysteriösen Anrufer, die er nur für Besuche bei etwas schwierigen Exfreundinnen unterbricht, nach und nach auf fast die gesamte Republik aus, lediglich in einem bestimmten Laden fragt er den DJ nicht, was der am 9. Juli 1988 um 23.40 wohl aufgelegt hat: In seiner eigenen Stammdisko, dem Sugar Shack in München.
Decar schreibt witzig und pointiert, seine Dialoge bestechen - und sein Frankie, dessen Duktus der Autor hinreißend entworfen hat und bravourös durchhält, ist ein Stenz, wie er im Buche steht. Dabei ist dieser Frankie nicht unbedingt die Hauptfigur, sondern die Bundesrepublik der ausgehenden Achtziger, als der ICE Geschwindigkeitsrekorde bricht und die Ost-West-Paranoia ihrem Klimax entgegenstrebt, aber noch keiner weiß, dass in einem Jahr alles ganz anders sein wird. Die Detektivgeschichte um die völlig absurde Suche nach der sprichwörtlichen Stecknadel im Heugebirge ist nicht auf eine Auflösung im Sinne eines Whodunnits angelegt. Wer das erwartet, wird von "Tausend deutsche Diskotheken" enttäuscht werden. Eigentlich aber enttäuscht Decar jede denkbare Erwartung, denn dieser Roman, dessen Autor übrigens nur ein Jahr vor dem Zeitpunkt des geschilderten Geschehens geboren wurde, steht in vielerlei Hinsicht nur für sich selbst und damit ganz allein da. Weshalb alle Vergleiche scheitern. Es macht Spaß, dieses Buch zu lesen, aber es ist über einige Strecken auch ein bisschen anstrengend.