Andrew O’Hagan: Leuchten über Blackpool

  • Andrew O’Hagan: Leuchten über Blackpool

    Verlag: S. FISCHER 2018. 352 Seiten

    ISBN-10: 3100024184

    ISBN-13: 978-3100024183. 22€

    Originaltitel: Illuminations

    Übersetzerin: Annette Grube


    Verlagstext

    In seinem neuen Roman schildert der preisgekrönte schottische Autor und zweifache Booker Prize-Nominee Andrew O’Hagan die Geschichte zweier Menschen zwischen Erinnerung und Vergessen – ein brisanter Aufschrei gegen den Krieg und die Gesellschaften, die ihn begünstigt haben, und eine vielschichtige, virtuose Erzählung über Familie, Verlust, Geheimnisse und Vergebung.

    In jungen Jahren war Anne Quirk eine außergewöhnliche Fotografin, heute bleiben ihr nur noch Lichtblitze von der Vergangenheit. Die fortschreitende Demenz scheint sie jedoch auch vor allzu unliebsamen Erinnerungen zu schützen. Als ihr geliebter Enkel Luke, Captain in der britischen Armee, aus Afghanistan nach Schottland zurückkehrt, reisen beide nach Blackpool – an den Ort, wo Anne einst ihre Dunkelkammer hatte. Und es ist dort, wo lang verborgene Geheimnisse allmählich ihren Weg ans Licht finden.


    Der Autor

    Andrew O’Hagan, 1968 in Glasgow geboren, lebt in London. Gleich mit seinem Debüt ›Dunkles Herz‹ schaffte er es auf die Shortlist des Man Booker Prize. Seine Romane werden als Meisterwerke der Empathie gefeiert, in denen der Schotte wie kaum ein anderer mit elegantem Humor und leisem Pathos die Konturen unserer Gegenwart einfängt. Darüber hinaus hat sich der Assange-Ghostwriter und Internet-Insider mit faszinierenden Essays und spannenden Reportagen, die u.a. in »Granta«, »The Guardian« oder »The New Yorker« erschienen, einen Namen gemacht. Kein Weg ist ihm zu abseitig, kein Mittel zu unkonventionell, um mit geradezu forensischem wie unbestechlichem Blick den Dingen auf den Grund zu gehen.

    Interview


    Inhalt

    Liebevoll umsorgt von ihrer Nachbarin Maureen lebt die betagte Anne Quirk in Lochranza Court, einer Anlage für betreutes Wohnen an der schottischen Westküste. Bisher hat Maureen mit großem Einsatz die Fassade aufrecht erhalten, dass Anne selbstständig leben kann. Wegen zunehmender Demenz wird ihre Nachbarin bald in ein Pflegeheim ziehen müssen. Die erheblich jüngere Maureen, körperlich und geistig fit, flüchtete vor dem verminten Gelände ihres Familienlebens in die Wohnanlage. Den Ideen von Tochter und Enkeln kann und will sie nicht mehr folgen.

    Anne steckt voller Überraschungen, so muss sie als Kind eine Zeit lang in Kanada und später in New York gelebt haben. Bis heute sieht sie ihre Stadt mit den Augen der Fotografin, die den Lichteinfall beachtet und einen Bildausschnitt wählt. In klaren Momenten erzählt Anne von Harry Blake, ihrem persönlichen Kriegshelden, der ihr den Weg zum Beruf der Fotografin ebnete. Harry und sie trafen sich in Blackpool, dem legendären Urlaubsort der britischen Arbeiterklasse. Immer häufiger jedoch holpert Annes Orientierung und sie glaubt, gerade jetzt zu einem Fotoauftrag aufbrechen zu müssen. Zur Sicherheit hat Anne Harrys Lebenslauf zur Hand, um auf Fragen nach dem Mann auf dem Bild in ihrer Wohnung antworten zu können. Nicht Vergesslichkeit scheint ihr Problem zu sein, sondern Einsamkeit, weil sie in ihrem Alter keine Gesprächspartner mehr auf Augenhöhe findet.


    Annes schwieriges Verhältnis zu Tochter Alice beruht u. a. auf Annes Überweisungen nach Blackpool an Leute, die Alice nicht kennt. Zu Alices Sohn Luke Campbell dagegen hat Anne eine beinahe symbiotische Beziehung. Er verstand schon immer ihre Fotos; in ihm sieht sie eine künstlerische Begabung. Während Lukes Schulzeit hat die Großmutter mitgelesen und mitgelernt, so dass er heute sein Leben in ihrem Bücherregal wiederfindet. Luke kehrt gerade vom Einsatz in Afghanistan zurück. Durch Nachlässigkeit der Verantwortlichen, einer davon Luke, geriet seine Einheit in einen Hinterhalt, es gab Tote und Verletzte, auch unter Zivilisten. Demnächst müssen sich Luke und sein Kamerad Scullion dafür vor Gericht verantworten. Als Leser erlebt man Lukes Afghanistan-Einsatz so ernüchternd mit, als säße man neben ihm im Transportfahrzeug und läge mit ihm im Staub. Annes Erinnerungen an Schottland nach dem Zweiten Weltkrieg, der Tod von Lukes Vater in Nordirland und Lukes Kriegs-Erlebnisse scheinen an einem zentralen Punkt zusammenzulaufen. Anders als die Generation vor ihnen, die nach einem Krieg auf Frieden hoffen konnte, reiht sich für Männer wie Scullion seit dem Falkland-Krieg eine endlos scheinende Reihe von Kriegen aneinander.


    In der Zeit bis zu seinem Disziplinarverfahren will Luke mit Anne nach Blackpool fahren, um mit ihr die legendäre herbstliche Illumination zu erleben. In Blackpool warten warmherzige alte Freunde auf Anne und zu Lukes Überraschung spürt er eine Geschichte auf, die Anne bisher nicht erzählen wollte oder konnte. Sie hatte damals in Blackpool ein winziges Appartement gekauft, das noch immer für sie bereitsteht. Von der Mutter der heutigen Besitzerin sorgfältig bewahrt, finden sich darin ihr Vermächtnis als Fotografin britischen Alltags – und Zeugnisse ihres nicht erzählten Lebens. Darin stößt Luke auf seine persönliche Geschichte und erlangt einen völlig neuen Blick auf seine Mutter. In einem Interview berichtet O’Hagan, dass er Anne Quirk nach dem Vorbild der vergessenen kanadisch-schottischen Fotografin Margaret Watkins (1884-1969) und ihres Werks schuf. Wie O’Hagan Watkins entdeckte, das ist eine eigene Geschichte …


    Die Symbolik von Licht und Erkennen harmoniert perfekt mit dem Leben einer Fotografin, deren Ruhm bis nach Kanada gedrungen ist. Krieg, Demenz, Einsamkeit, Lehr- und Wanderjahre, anfangs wirkt es, als verknüpfe Andrew O’Hara beinahe zu viele Themen miteinander. Feinsinnig beobachtet, mit hinreißenden Figuren, entstand daraus ein zu Herzen gehendes Buch, das schon jetzt zu meinen Jahres-Highlights zählt.


    10 von 10 Punkten