Deb Spera: Alligatoren
Verlag: HarperCollins 2018. 432 Seiten
ISBN-10: 3959672209
ISBN-13: 978-3959672207. 22€
Originaltitel: Alligator
Verlagstext
Seit Stunden belauern sie sich gegenseitig: das Alligatorweibchen, das seine Jungen beschützen muss, und Gertrude, deren vier Töchter seit Tagen nichts gegessen haben. Ein Schuss fällt, doch er trifft nicht das Reptil – es gibt Schlimmeres als den Hunger.
Auch Annie, die Plantagenbesitzerin, hat einen größeren Feind, als sie wahrhaben möchte. Ihren jüngsten Sohn kostete das bereits das Leben.
Doch als Oretta, Annies schwarze Haushälterin und in erster Generation von der Sklaverei befreit, Gertrudes kranke neunjährige Tochter bei sich aufnimmt, finden diese drei Frauen, die unterschiedlicher nicht sein können, zusammen. Denn sie alle haben eins gemeinsam: die unstillbare Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung.
Die Autorin
Deb Spera wuchs in Louisville, Kentucky, auf, als Tochter von selbst noch sehr jungen Eltern. Heute lebt sie mit ihrem Mann und zwei ihrer drei Kinder in Los Angeles. Ihr gehört das TV-Produktionsunternehmen One-Two Punch Productions, das u.a. Serien wie Criminal Minds, Army Wives, Reaper – Ein teuflischer Job, Finding Carter und Aim High – Hohe Ziele stecken produziert. Deb Spera war Finalistin des Montana Literaturpreises und zweimalige Finalistin des Kirkwood Literaturpreises. Ihre Arbeiten wurden in der Online-Zeitschrift Sixfold für Kurzgeschichten und Lyrik, in Garden & Gun, in der Wascana Review und im L.A.Yoga Journal veröffentlicht. Sie ist Co-Autorin des Theaterstücks „On the Road to Kitty Hawk“, das vom Actors Theater Of Louisville aufgeführt wurde. Alligatoren ist ihr erster Roman.
Inhalt
G e r t r u d e stand im Sumpf irgendwo bei Branchville/Alabama einem riesigen Alligator-Weibchen gegenüber, das seine Jungen verteidigte. Auch Gertrude hätte ihre Töchter beschützen müssen, doch durch die Wirtschaftskrise zu Beginn des vorigen Jahrhunderts und den Alkoholismus von Vater Alvin steht die Familie P a r d e e kurz vor dem Verhungern. Gertrude kann seit ihrer Kindheit mit Waffen umgehen – und sie schießt. Zwei ihrer Töchter hat sie bereits bei ihrem Bruder gelassen, der aber niemanden mit durchfüttern kann. Bruder Berns hat Fäden geknüpft für Gertrude, sie könnte Arbeit in einer Näherei finden und in das bescheidene Arbeiterhäuschen ihrer verstorbenen Vorgängerin an der Nähmaschine ziehen. Doch in den Häuschen von Shag Rag haben bisher immer nur Schwarze gelebt …
Die Näherei gehört zur Plantage der Familie Coles, die durch eine wiederkehrende Baumwollkäferplage kurz vor der Pleite steht. A n n i e C o l e s hat eigenes Vermögen, das sie laut Erb-Vertrag nur ihren Kindern vererben darf, nicht ihrem Mann. Edwin Coles müsste offiziell einen Kredit bei seiner Frau aufnehmen, um seine Plantage zu retten – in den 20ern, in den amerikanischen Südstaaten!! Die Töchter des Paares haben sich bereits vor Jahren von ihren Eltern losgesagt, und die Söhne entwickelten sich anders, als Edwin Cole es gern hätte.
Gute Seele im Haus der Coles ist das schwarze Hausmädchen R e t t a (Oretta) B o o t l e s, die kocht, organisiert, Annie Geburtshilfe bei der Geburt ihrer Kinder leistet und die Kinder der Herrschaften praktisch aufgezogen hat. Die Plantagenbesitzer können sich drauf verlassen, dass sie im hohen Alter vom schwarzen Personal gepflegt werden. Umgekehrt funktioniert die Vereinbarung allerdings nicht. Falls Retta im Alter schwächer würde oder Pflege bräuchte, muss sie damit rechnen, vor die Tür gesetzt zu werden – selbst wenn der Hausherr nur vom Vermögen seiner Frau leben würde. Und dann muss es im Haushalt der Coles noch eine Person mit zu ungesundem Interesse an kleinen Kindern geben.
Wie Edwin die Plantage auf Tabakanbau umzustellen versucht, wie Sohn Lonnie aus der ehemaligen Näherei für Futtersäcke ein erfolgreiches Modeatelier macht – und wie die kinderlose Retta plötzlich für einen Schock kleiner Mädchen zu sorgen hat, das lässt Deb Spera in drei deutlich unterscheidbaren Stimmen von drei Frauen unterschiedlicher sozialer Schichten erzählen. Als liebenswerte Nebenfiguren tauchen der Hausarzt der Familie auf und Mrs Walker, deren Platz an der Nähmaschine die Pardees vor dem Verhungern retten könnte.
Die Perspektiven weißer Plantagenbesitzer, verarmter Weißer und des schwarzen Dienstpersonals (dessen Eltern oft noch Sklaven waren) vermittelt die Autorin glaubwürdig und mit einer Fülle an Details. Retta beim Organisieren des großen Haushalts und ihrer Beziehung zu ihrem geliebten Odell bin ich mit großer Anteilnahme gefolgt.
Deb Spera hatte beim Schreiben ihres üppigen Südstaaten-Dramas die Figur ihrer Großmutter und deren Geschichten aus den Südstaaten im Hinterkopf. Sie siedelt die Handlung u. a. in einer real existierenden Arbeitersiedlung an und lässt mit Clelia McGowan eine bekannte Sufragette auftreten. All ihre Figuren haben einen Strauß an biblischen Plagen zu erleiden: Feuer, Wasser, Todesfälle, die von Singvögeln vorher angekündigt werden, Seuchen, Schlangen, rauflustige Alligatoren, Stechmücken, und nicht zuletzt gewalttätige Ehemänner. Der Erzählton balanciert oft haarscharf am Pathos vorbei, durch die Ichperspektive der drei Frauen kommt man als Leser jedoch schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück.
9 von 10 Punkten