Christina Dalcher: Vox

  • Christina Dalcher: Vox

    S. Fischer Verlag 2018

    als kindle-Ausgabe 1.8.2018. 6,99€
    ASIN: B07CKK3RWN

    Seitenzahl der Print-Ausgabe: 400 Seiten

    Übersetzerinnen: Marion Balkenhol, Susanna Aeckerle


    Verlagstext

    In einer Welt, in der Frauen nur hundert Wörter am Tag sprechen dürfen, bricht eine das Gesetz. Das provozierende Überraschungsdebüt aus den USA, über das niemand schweigen wird!

    Als die neue Regierung anordnet, dass Frauen ab sofort nicht mehr als hundert Wörter am Tag sprechen dürfen, will Jean McClellan diese wahnwitzige Nachricht nicht wahrhaben – das kann nicht passieren. Nicht im 21. Jahrhundert. Nicht in Amerika. Nicht ihr.

    Das ist der Anfang.

    Schon bald kann Jean ihren Beruf als Wissenschaftlerin nicht länger ausüben. Schon bald wird ihrer Tochter Sonia in der Schule nicht länger Lesen und Schreiben beigebracht. Sie und alle Mädchen und Frauen werden ihres Stimmrechts, ihres Lebensmuts, ihrer Träume beraubt.

    Aber das ist nicht das Ende.

    Für Sonia und alle entmündigten Frauen will Jean sich ihre Stimme zurückerkämpfen.


    Die Autorin

    Christina Dalcher pendelt zwischen den Südstaaten und Neapel. Die gebürtige Amerikanerin, zu deren Helden Stephen King und Carl Sagan zählen, promovierte an der Georgetown University in Theoretischer Linguistik und forschte über Sprache und Sprachverlust. Ihre Kurzgeschichten und Flash Fiction erschienen weltweit in Magazinen und Zeitschriften, u.a. wurde sie für den Pushcart Prize nominiert. »Vox« ist ihr Debütroman.

    Interview


    Inhalt

    Jean McClellan ist Spezialistin für das Wernicke-Areal im Gehirn (eine der beiden Hauptkomponenten des Sprachzentrums) und Mutter von vier Kindern. Da sie sich nie für Politik interessiert hat, wird Jean von der Machtübernahme der radikalen religiösen Sekte „Die Reinen“ in den USA überrascht, die Frauen zukünftig nur 100 Wörter pro Tag zu sprechen erlaubt. Weiße, heterosexuelle Männer fühlten sich offenbar entthront, obwohl sie an der Macht waren, und setzten ein simples hierarchisches Weltbild durch. Über alle Menschen herrscht Christus, über jede Frau deren Vater oder Ehemann. Frauen sind zum Ruhm des Mannes geschaffen, sie haben sittsam und unterwürfig zu sein. Alle Frauen verlieren ihre Arbeitsstellen und Parlaments-Mandate, alle öffentlichen Tätigkeiten werden von nun an von Männern übernommen. Mit dieser Maßnahme wären angeblich alle brennenden sozialen Probleme der USA lösbar, auch Amokläufe an Schulen.


    Ein Wortzähler am Handgelenk straft Mädchen und Frauen sofort schmerzhaft, wenn die Wörter-Grenze überschritten wird. Das Mundtotmachen von Frauen umfasst auch Papier, Stifte und Briefmarken, so dass findige Frauen das Sprechverbot selbst auf schriftlichem Weg nicht umgehen können. Der Frage, wie in dieser Gesellschaft kleine Kinder mit 100 Wörtern am Tag erfolgreich von Erwachsenen das Sprechen lernen, geht Dalcher leider nicht genauer nach, obwohl mich das brennend interessiert hätte. Seit 8 Jahren sind „Die Reinen“ nun an der Macht; der amerikanische Bibel-Gürtel hat sich zum Korsett ausgewachsen. Die restliche Welt wurde in Trump-Manier zu feindlichem Gebiet erklärt.


    Jeans drei ältere Kinder sind Söhne, die die Marginalisierung von Frauen unterstützen, weil sie selbst dadurch nichts zu verlieren haben. Sie plappern nach, was ihnen eingetrichtert wird, z. B. warum es besser für Jean wäre, keine Wissenschaftlerin zu sein. Das Schicksal der erst 6-jährigen jüngsten Tochter macht Jean die Unterdrückung der Hälfte der amerikanischen Einwohner besonders schmerzhaft deutlich. Auch für Sonia gilt die 100-Wort-Grenze; sollte sie im Schlaf sprechen, muss sie sofort geweckt werden. Als der Bruder des Präsidenten durch eine Kopfverletzung eine Schädigung des Wernicke-Areals erleidet, fällt den Regierenden die stumm geschaltete Expertin Jean McClellan ein, deren Hilfe nun dringend benötigt wird. Jean will die Gelegenheit nutzen, um für Sonia und sich Privilegien heraus zu handeln, aber kann sie den Regierenden überhaupt trauen?


    „Vox“, eine spekulative politische und auch feministische Dystopie, entstand aus einer Kurzgeschichte, die für eine Anthologie vorgesehen war. Es ist zweifellos ein wichtiges Buch, das schon vor dem Erscheinungstermin gerade bei Frauen in den 20ern für erhebliches Aufsehen sorgte. Bemerkenswert finde ich es schon deshalb, weil Logopäden seit langem beklagen, der Verlust von Sprache auf unterschiedlichen Ebenen würde in der Literatur zu selten thematisiert. Aus dem Schatten von Margaret Atwoods großem dystopischen Roman „Der Report der Magd“ kann „Vox“ als kleine Schwester allerdings nicht heraustreten. Christina Dalcher (die Autorin ist Linguistin) setzt ihren Warnruf sehr plakativ um vor einer Zukunft, in der der Zugang zu Sprache behindert wird. Sprachlosigkeit lässt sich hier mühelos auch als Ausgrenzung, als nicht Gehörtwerden oder als Existenz von Parallelgesellschaften interpretieren.


    Fazit

    Mich konnte „Vox“ nicht vollständig begeistern, weil für einen Umfang von 400 Seiten die Figuren recht blass blieben und die Icherzählerin Jean McClellan für meinen Geschmack einen zu begrenzten Blickwinkel auf sich und die eigene Familie hatte. Logisch, so wünscht sich das System der „Reinen“ alle Frauen, aber lassen sich 40 Jahre Lebenserfahrung wirklich auf Befehl aus dem Bewusstsein ausradieren?


    7 von 10 Punkten



  • Ich kann mich Buchdoktor vollinhaltlich anschließen. Leider. Mich hat das Buch überhaupt nicht überzeugt. Ein Vergleich mit dem "Report der Magd" verbietet sich. Die Geschichte selbst ist - trotz des eingeflochtenen Fachwissens - schon sehr an den Haaren herbeigezogen.

    Wie kann man denn innerhalb von einem Jahr eine ganze Gesellschaft dermaßen umkrempeln und alle Frauen gewaltsam mundtot machen. Und dass gerade eine intelligente Wissenschaftlerin das mit sich machen lässt, hat die Autorin leider nicht überzeugend herübergebracht. Über viele Dinge und Fragen mogelt sie sich hinweg. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man kleine Mädchen von zwei, vier, oder sechs Jahren zum Schweigen bringen kann. Und warum auch? Hätte ja gereicht, ihnen das Armband feierlich zum 14. Geburtstag umzulegen. Auch das Handeln des ältesten Sohnes ist mehr als befremdlich. Es muss ja vor dem Machtwechsel eine Art Erziehung stattgefunden haben, oder? Ebenso bleibt der Ehemann undurchsichtig, da wären zwischendrin ein paar Zweifel angebracht gewesen.

    Auch der Plot war schwach. Ich musste den Schluss zweimal lesen, um mir irgendwie vorzustellen, wie man das Ganze zuende gebracht hat. Mehr kann ich hier nicht schreiben ohne Spoiler. Aber den show-down hätte ich als Leserin gerne miterlebt. Leider ist er einfach irgendwie passiert, keine Ahnung, wie das geklappt hat. Und ach, überhaupt...

    Ich hab mich so geärgert, dass ich das Buch gleich der Stadtbbibliothek weitergeschenkt habe.

    4 von 10 Punkten, aber nur, weil es eigentlich eine faszinierende Idee gewesen wäre.

  • Das Böse triumphiert, wenn gute Menschen nichts tun


    Die Wissenschaftlerin Jean lebt in einer fiktiven Zukunft Amerikas, in welcher die Regierung beschlossen hat, dass Frauen nicht mehr als 100 Wörter am Tag sagen dürfen. Sie bereut schon bald, dass sie einfach nur zugesehen hat und nichts dagegen unternommen hat. Nun fristet sie ihr Dasein als Hausmütterchen und Ehefrau. Sie muss mit ansehen, wie ihr Sohn diese Ideologie verinnerlicht und ihre kleine Tochter Sonia mehr oder weniger sprachlos aufwächst und kann nichts dagegen tun. Doch dann erkrankt der Bruder des Präsidenten und nur sie scheint in der Lage zu sein, ihm helfen zu können. Kann sie ihre neue Freiheit nutzen, die Regierung zu einer Umkehr zu bewegen?


    Meine Meinung:

    Das Cover ist sehr gelungen, da es das Thema durch das X, das direkt auf dem Mund der abgebildeten Frau sitzt, schon optisch aufgreift.


    Eigentlich kann man sich nicht vorstellen, dass in unserer modernen Welt so etwas passieren kann - Frauen plötzlich ihre Jobs verlieren und mehr oder weniger ohne Stimmrecht durchs Leben gehen. Doch in Zeiten wo jemand wie Trump Präsident werden kann, der mitunter auch die abstrusesten Ideen hat, ist sowas vielleicht noch nicht mal so weit hergeholt. Die Entwicklung in Amerika beobachte ich schon mit Sorge.


    Doch nun zum Roman zurück. Jean ist eigentlich eine intelligente und moderne Frau, doch auch sie hat wie die meisten anderen einfach nur zugesehen, als sich diese Ideologie entwickelte und hat nichts dagegen unternommen. Ihre Freundin Jackie, die sich gegen das System gestellt hat, hat sie nur belächelt.

    Viele haben das getan, sodass die Gegenbewegung in der Minderheit und somit zum Scheitern verurteilt war. Die Gegner, so wie Jackie, fristen jetzt ihr Dasein in einem Lager, wo sie in einer Fischfabrik oder einer Farm schuften müssen.

    Und so erkennt auch Jean, dass das Böse nur siegen kann, wenn die Guten nichts dagegen unternehmen.


    Der Roman rüttelt den Leser wach, weist ihn darauf hin, das Zeitgeschehen aufmerksam zu beobachten und sich nicht alles gefallen zu lassen.

    Wichtig ist vor allem auch, dass wir der Jugend das Interesse an der Politik aufzeigen, damit sich so ein Szenario gar nicht entwickeln kann.


    Den Schluss fand ich etwas verwirrend und zu schnell abgewickelt, aber ansonsten ist der Roman flüssig und angenehm zu lesen.


    Fazit: Fiktiver Roman, der zum Nachdenken anregt.

  • Ich kann mich Buchdoktor vollinhaltlich anschließen. Leider. Mich hat das Buch überhaupt nicht überzeugt. Ein Vergleich mit dem "Report der Magd" verbietet sich. Die Geschichte selbst ist - trotz des eingeflochtenen Fachwissens - schon sehr an den Haaren herbeigezogen.

    Wie kann man denn innerhalb von einem Jahr eine ganze Gesellschaft dermaßen umkrempeln und alle Frauen gewaltsam mundtot machen. Und dass gerade eine intelligente Wissenschaftlerin das mit sich machen lässt, hat die Autorin leider nicht überzeugend herübergebracht.

    ...

    Ich fand reichlich enttäuschend, dass die Autorin auslässt, wie dieses System praktisch funktionieren soll und das selbst Leute wie Jean nicht hinterfragen lässt. Trumpismus läuft wohl genau so. Wenn ich mir vorstelle, alles weibliche Pflegepersonal würde plötzlich entlassen, alle Erzieherinnen und Grundschullehrerinnen, müsste doch ein gigantischer Fachkräftemangel herrschen. Wenn dort Frauen bisher ausbilden, ist die Lücke kaum zu füllen. Und beim Präsidentenbruder fällt ihnen dann plötzlich ein, dass es mal sowas wie Fachkräfte gab ...

  • Stimme zu. ... wobei ich mich frage, ob das überhaupt mit dem Bruder zusammenhing, denn die Experimente laufen ja schon viel länger. Also - da hat es hinten und vorne nicht gestimmt.

    Mit diesem Arbeitskräftevakuum geht sie sehr salopp um: Das klappt schon, wenn man einfach alle Schul- und Hochschulabsolventen auf deren Jobs setzt. Ja. Klar. Schon verstanden. Geht besonders gut bei routinierten Wissenschaftlerinnen, Chirurginnen oder ... Herrje. So schade.

    Man hätte echt mehr aus dem Thema machen können.

  • Christina Dalcher hat mit ihrem Debütroman VOX ein sehr interessantes Thema aufgegriffen. Der Roman spielt in Amerika. Die neue Regierung befiehlt, dass Frauen nur noch 100 Worte am Tag sprechen dürfen und auch aus der Arbeitswelt ausgegrenzt werden. Man könnte so manche Parallelen zur Realität sehen, was bestimmt von der Autorin auch beabsichtigt war. Bestimmt hat sie auch das eine oder andere autobiographische in den Roman mit einfließen lassen.


    Ich würde das Buch in das Genre Dystopie einordnen. Sowohl das Thema ist spannend als auch die Umsetzung ist in meinen Augen sehr gelungen. Beim Leser macht sich ein mulmiges Gefühl breit, ich habe teilweise mitgelebt, mit der Mutter, mit der Wissenschaftlerin, mit der Ehefrau. Als die Regierung merkt, dass auf das Fachwissen der Protagonistin nicht verzichtet werden kann, holt man sie unter gewissen Bedingungen wieder mit ins Boot.


    Für mich war dies ein Garant für Spannung. Die Sprache war sehr flüssig und das Buch insgesamt interessant zu lesen. Ich freue mich schon auf das nächste Buch von Christina Dalcher. Von mir gibt es die volle Leseempfehlung, ich fühlte mich wunderbar unterhalten.

  • Ich fand es echt gruselig. Beklemmend, Ich habe zwar auch an der kurzen Durchführung der Übernahme gezweifelt, in so einem riesigen Land. Aber auch Jean sagt ja, sie hatten die Leute auf dem Land vergessen. Und ja, die USA funktionieren so. Genau so funktioniert Trump. Er hat immer noch, und das nach 2 Jahren? sehr viel Rückhalt und begeisterte Anhänger, gerade auf dem Land.

    Dass die Mädchen sprachlich verkümmern kann man sich gut vorstellen. Meine Meinung wird wohl knapp 100 Wörter umfassen, so viel, wie Mädchen und Frauen am Tag sprechen dürfen. Da funktioniert keine Familie mehr. Und dass Indoktrinierung funktioniert haben HItler und die DDR ja bewiesen.Ob die Umsetzung gelungen ist? Teilweise. Die erste Hälfte, als es rein um die Familie ging ja, als dann die, ich nenne es mal Laborphase, begann, wurde es undurchsichtig und verworren.

    6 Punkte kann ich aber guten Gewissens geben

  • Dieses Buch durfte ich als Wanderbuch lesen, vielen Dank an Buchdoktor für das Ausleihen (und Findus für´s Weiterschicken).


    Ich habe noch keine Rezensionen zum Buch gelesen und kann daher ganz unbeeinflusst darüber schreiben.

    Die Geschichte an sich fand ich sehr spannend und ich habe seit Jahren eine Angst vor dem alten, weißen und vor allem zornigen Mann aufgebaut. Hier braut sich eine Wolke der Unzufriedenheit zusammen, die sich schon allein, nur als Beispiel, beim Autofahren bemerkbar macht. Von daher stach das Gerüst der Geschichte bei mir natürlich in ein Wespennest.

    Der Aufbau und die logischen Erklärungen waren für mich ausreichend und nachvollziebar.

    Einzig der sehr einfache Erzähl- und Schreibstil hat mich etwas überrascht; ich hatte mit etwas prosaischerem, anspruchsvollerem gerechnet.

    Es wird mir zwischendurch dann auch allzu pathetisch.


    Aber alles in allem fand ich das Buch sehr spannend und natürlich regt es zum Nachdenken an.

    Vielleicht sollte man an alle AfD-Wählerinnen dieses Buch verteilen.


    Ansonsten: lasst uns gut bleiben und wählen gehen.


    8 Punkte von mir.

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“

  • Vielleicht ist es das größte Problem dieses Romans, dass er so intensiv und aufwändig beworben wurde. Damit wurden möglicherweise Erwartungen aufgebaut, die sich beim Lesen nicht oder nur teilweise erfüllen konnten.


    Trotzdem fand ich die Idee spannend und erschreckend nahe an den Möglichkeiten angesiedelt, auch wenn Manches nicht zu Ende gedacht war.

  • Ich hab von der Werbung nichts mitbekommen und es ganz unvoreingenommen gelesen.

    Ich finde, das Buch hätte sich gut für eine Leserunde geeignet. Es gibt jede Menge Diskussionsmaterial.

  • Im Alltag muss ich schon so manches Mal noch an die Geschichte denken.


    Ich habe beschlossen, ein Buch darüber zu schreiben, wie sich die Gesellschaft wohl entwickelt, wenn alle Männer mit zu wenig Empathie und zu viel Alpha-Männchen-Gehabe extra entwickelte Hormon-Armbänder bekommen, die das ausgleichen.


    ;)

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“

  • Der Roman wurde gestern auch bei einem Büchervorstellungsabend durch Buchhändler begeistert hervorgehoben. Scifi ist nicht mein Genre, doch hat michspontan die Handlung schon so interessiert, dass ich es mir den Titel notiert habe und mittags von dem Buch erzählt habe. Kommentar meiner Freundin: "Warum kaufst Du es Dir nicht gleich?" Ich: "Erstens, weil ich mir so viele andere Bücher schon für die nächste Zeit vorgenommen habe und mich zweitens vor dem Kauf gern noch weitere Leserstimmen interessieren."


    Gut, dass es hier schon Stimmungsbilder gibt.

    Manche Bücher müssen gekostet werden, manche verschlingt man, und nur einige wenige kaut man und verdaut sie ganz.
    (Tintenherz - Cornelia Funke)