• Plage


    Es war eine dieser Nächte, in denen man lieber in der warmen Stube sitzen und einem prasselnden Feuer zuschauen würde. Er war noch nicht lange in der Stadt und versuchte, ein paar Regentropfen wegblinzelnd, sich einen Überblick zu verschaffen. Die Gassen waren eng und gewunden. Es ging ein paar Treppenstufen hinauf, dann wieder hinab. An fast allen Häusern waren die Fensterläden fest verschlossen, nur hin und wieder drang ein Schimmern durch ein paar Ritzen nach draussen. Sollen die Bürger dieser Stadt nur in ihren behaglichen Häusern sitzen bleiben, er hatte seinen Auftrag und würde anschließend abkassieren.

    Unzählige Treppen und Abstiege später begab er sich langsam in den tieferen Teil der Stadt. Hier unten, wo selbst bei Tag nur wenig Sonnenlicht die schmalen Gassen erreichte, stank es nach Unrat und ausgekippten Exkrementen. Die kleine Laterne, die er vor sich hertrug, schaffte es kaum seinen Weg zu beleuchten. So klatschten seine Stiefel ein ums andere Mal in morastige Pfützen. Von den schiefen Dächern der eng stehenden kleinen Häuser und Hütten ergoß sich unablässig das Wasser auf seinen Ledermantel, der längst so durchnässt war, daß auch sein Wams darunter feuchte Flecken bekam. Nach der Beschreibung der Stadtältesten musste er bald da sein. Die Häuser um ihn herum waren verlassen, teilweise eingefallen und nur durch die umliegenden Bauwerke zusammengehalten. Selbst die Ärmsten der Armen waren längst verschwunden und hatten diesen uralten Teil der Stadt den nimmermüden, alles vertilgenden Gesellen überlassen, den Ratten.


    Er kletterte in die Ruine, die zu seiner Rechten lag. Ein Brunnenschacht mit einem zerbrochenen Abdeckstein erregte seine Aufmerksamkeit. Der Stein zeigte das Relief eines Kindes, das irgendetwas in seiner Hand hielt. Unmöglich zu erkennen, was es war, denn an dieser Stelle war der Stein gebrochen. Hier musste es sein. Diesen Ort hatten ihm die Stadtältesten beschrieben, der Ort an dem das Unheil hauste und auch seinen Ursprung hatte.
    Er griff nach seiner Tasche und nestelte an den Lederriemen, nur mit Mühe konnte er die mit Wasser vollgesaugten Bänder lösen. Er holte ein kleines Bündel aus der Tasche und schaute sich dabei nach einem Unterstand um, der ihm etwas Schutz vor dem Regen bot. Unter einem Dachgerippe, das nur noch ein paar verwitterte Ziegel hielt, fand er einen geeigneten Platz. Mit einer Hand riss er die dünne Schlinge ab, die an seinem Gürtel befestigt war und eine tote Ratte festhielt. In die Hocke gehend legte er das eingefallene Tier auf den Lehmboden und das Bündel daneben. Seine Finger streichelten sanft über das struppige nasse Fell. Dann bohrten sich seine Fingernägel in das tote Fleisch und rissen den Körper des Nagers auf. Blut, Eingeweide und Regen vermischten sich. Er nahm das Bündel auf und schlug die weichen Tücher auseinander. Eine kleine Flöte kam zum Vorschein. Unscheinbar, ohne Verzierungen lag das Instrument in seiner Hand. Sorgfältig schlug er die Tücher wieder ein und verstaute das nun leere Bündel in seiner Tasche. Er nahm die Flöte und tunkte ihre Enden behutsam in den geöffneten Körper der toten Ratte, darauf bedacht, daß das Instrument rundherum am Mund- und Endstück mit dem Blut des Tieres getränkt wurde.
    Er spürte ihre Anwesenheit. Rings um ihn herum huschten sie ungesehen über Steine und Dreck. Unsichtbar, wie ein Dämon, der ihn auf Schritt und Tritt begleitete. Doch war es wirklich ein Dämon - sein Dämon, sein Fluch. War es nicht eine Gabe, die ihm einst zuteil wurde? Mit einem Tritt begrub er den ausgelaugten toten Körper der Ratte unter seinem Stiefel.


    Als er zu spielen anfing, wirkte er auf einmal größer, nicht mehr so gedrungen wie zuvor. Er kletterte über die Ruinen und lenkte dabei seine Schritte wieder auf die Gasse zurück. Seine Finger huschten über die Tonlöcher und seine Lippen vibrierten zu einer unhörbaren Melodie. Einem Schatten gleich streifte er durch die Stadt und sammelte hinter sich ein dunkles Heer. Wie eine Flut ergoß sich der Strom der Tiere auf die schmalen Wege. Über- und untereinander wirbelten die Ratten in dem Versuch so schnell wie möglich der Melodie zu folgen, die nur sie hören konnten.
    Er ahnte, wie die Bürger der Stadt ängstlich in ihren Häusern kauerten, aufgeschreckt durch das Getrappel abertausender Klauenfüße, die über das Pflaster eilten. Nach einer endlos erscheinenden Zeit, jedoch immer noch ins Dunkel der Nacht eingehüllt, gelangte er wieder zu dem alten Brunnenschacht zurück. Er blieb vor der finsteren Öffnung stehen und spielte weiter und weiter. Der Rattenstrom teilte sich um ihn und ein Tier nach dem anderen verschwand in dem kreisförmigen Schacht. Erst als die letzte Ratte an ihm vorbeihuschte veränderte er die stumme Melodie. Daraufhin schob sich, wie von Geisterhand bewegt, der gebrochene Abdeckstein mit dem Relief über den Schacht. Das Kratzen und Schaben des Steins waren die einzigen Geräusche, die außer dem nachlassenden Regen in diesem verlassenen Teil der Stadt die Stille unterbrachen. Als der Stein an seinem Platz lag, nahm er die Flöte von den Lippen und sank erschöpft zu Boden. Sein Atem beruhigte sich nur langsam. Das Gold, das ihm versprochen war, würde ihn für seine Anstrengungen mehr als genug entlohnen.


    Sie schickten ihn tatsächlich weg, nannten ihn einen Scharlatan und einen goldgierigen Taugenichts. Er war verbittert und schalt sich selbst. Er hätte es wissen müssen, daß diese Leute nicht zu ihrem Wort standen, aber er wollte ja nicht auf seine innere Stimme hören, die sehr wohl den Geiz und die Verschlagenheit dieser Menschen erkannt hatte. Als er noch einmal auf den Vertrag hinwies und sein Gold einforderte, jagten sie ihn aus der Stadt und wiesen ihn an sich nie mehr blicken zu lassen. Von dem Pöbel durch die Stadttore gestoßen, fiel sein finsterer Blick auf ein kleines Kind, das das Schauspiel scheu und an die Hand seiner Mutter geklammert beobachtete.
    Er spürte, wie der Dämon sich rührte, hörte wie sich tief in seiner Seele jene Töne formten, die Tod und Vergessen brachten. Nur eine handvoll Bürger, die nahe genug waren, hörten die Worte, mit denen er die Stadt verfluchte und großes Wehklagen über alle bringen wollte.


    Es war ein Leichtes im Schutz der Nacht wieder in die Stadt heineinzugelangen. Fast ebenso einfach war es, eines der verwahrlosten Kinder aus dem Armenviertel habhaft zu werden. Die Kinderleiche lag nun aufgeschlitzt neben dem Brunnenschacht, dessen Abdeckstein wieder entfernt war. Vielleicht spielten ihm seine Sinne einen Streich, doch ihm war, als ob aus der unheimlichen Öffnung weit entfernt das Geräusch tausender Klauenfüße heraufdrangen. Er setzte die schmucklose kleine Flöte an den Mund und begann, eine lautlose Melodie spielend, ungesehen und ungehört durch die Gassen zu wandern.


    Mit der Morgendämmerung und dem ersten fahlen Licht des Tages kam die Verzweiflung über die Stadt. Die Gassen wurden durchkämmt, Suchtrupps in die umliegenden Wälder geschickt. Auch der alte Brunnenschacht wurde nach einigem Zaudern noch untersucht, doch alle Kinder blieben spurlos verschwunden, genauso wie der geheimnisvolle Fremde. Der Abdeckstein ruhte nun wieder auf seinem Platz. Er hatte auf wundersame Weise keine Risse mehr und das Reliefbild zeigte ein Kind, auf dessen Hand eine Ratte saß.


    (c) Doc

  • Schöne Geschichte, lieber Doc, die sich aufs Wesentliche beschränkt.


    Gute, stimmungsvolle Beschreibungen. Der Flötenspieler bleibt mysteriös, obwohl man die Dinge mit ihm sieht.


    Nur der erste Satz des letzten Absatzes gefällt mir nicht ... Erstens ist mir das "auch" zuviel, und zweitens stößt hier "die Stadt" zweimal aufeinander (Anfang des zweiten Satzes!). Gibt es eine Alternative wie z.B. "über die Bürger"?

  • Hi Doc!
    Auch wenn ich eigentlich ein Fan von dir bin :knuddel1, aber


    mit der Geschichte haste bei mir keinen Blumentopp gewonnen.
    Nicht dass sie schlecht geschrieben ist oder schlecht formuliert.
    Aber ich mag keinen Xten Aufguss, die ewig gleichen Geschichten nur im neuen Kleid.


    Wenn du wieder eine NEUE hast, dafür bin ich immer offen. ;-)

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    Grüßle, Heaven


    Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen. (Goethe) ;-)

  • Iris
    Stimmt, da muß ich Dir recht geben. Ich ändere das im letzten Absatz ab. Schau's Dir mal an.


    Heaven
    Das ist ok.
    An der Stelle vielleicht kurz zur Erklärung, wie es zu der Geschichte kam. Als Kind hat mich die Sage um den Rattenfänger unheimlich fasziniert, ich lauschte gebannt der Erzählung und wollte stets wissen, was in jener Nacht eigentlich geschah, wie der Rattenfänger mit seiner Flöte überhaupt Ratten und Kinder dazu bringen konnte, ihm zu folgen. Schon als Kind dachte ich mir, daß es wohl eine Art Zauber, ein verzaubertes oder verfluchtes Instrument, sein musste.
    Ich habe also versucht mit dieser Adaption der altbekannten Geschichte den Schauder und die unheimlichen Gefühle, die ich dabei als Kind empfunden habe, ein Gesicht zu geben.


    Gruss,


    Doc

  • Zitat

    Original von Doc Hollywood
    Schau's Dir mal an.


    Bestens!


    Was das Thema "neu" angeht: Ich habe die Erfahrung gemacht, daß es eigentlich keine "neuen" Geschichten gibt, eigentlich gibt es überhaupt nur ganz wenige unterschiedliche Geschichten. Es ist immer das Wie, die Umsetzung, die das spezifisch "Neue" ausmacht. Und das kann manchmal einfach in KLeinigkeiten liegen.
    Literatur ist ein Diskurs mit der Welt die uns umgibt, und den Geschichten, die vor dieser, die wir gerade erzählen, erzählt wurden.
    Wer etwas anderes erwartet, wird immer wieder enttäuscht sein -- ent-täuscht eben.
    Aber wie man die Ent-Täuschung aufnimmt, ist Sache dessen, der ent-täuscht wird. ;-)



  • Ja, die Geschichte liebe ich auch, hab sie als Kind oft gelesen.
    Deinen Grund, sie neu zu schreiben verstehe ich jetzt nun. Dafür ist sie gut gelungen. ;-)



    Iris


    Klar gibt es vieles schon. Aber was ich meine ist, wenn ganz offensichtlich etwas neu aufgewärmt wird, zb. Dracula zum Xten Mal oder eine Story fast identisch ist.

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    Grüßle, Heaven


    Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen. (Goethe) ;-)

  • Zitat

    Original von Heaven
    Aber was ich meine ist, wenn ganz offensichtlich etwas neu aufgewärmt wird, zb. Dracula zum Xten Mal oder eine Story fast identisch ist.


    Hmm ... mich stört es nicht, wenn ich die zugrundeliegende Geschichte schon kenne. Die Umsetzung muß mich packen, das ist das Entscheidende. Das kann eine scheibar neue Story sein oder auch die 789. Version von Dracula.
    Ich kann mir auch einen Roman komplett erzählen lassen und trotzdem noch genießen, wenn die Geschichte gut erzählt ist.

  • Ok, das wird mir zwar kein Schwein glauben, aber am Anfang der dritten Szene noch bevor der Rattenfänger sein Bündel aufschlägt, kam mir die Rattenfängergeschichte in den Sinn. Ich habe absolut keine Ahnung warum, aber plötzlich war er da. Es ist eins der wenigen Märchen, die mich früher vollends in ihren Bann gezogen haben. Fein inszeniert. :-)


    In Hameln war ich übrigens schon ein paar Mal. Einmal im Jahr haben die früher auch das Märchen aufgeführt. Ich weiß nicht, ob das immer noch so ist.

  • Als Kind habe ich die Geschichte auch gemocht... und ich mag sie immer noch. Im Märchen bleibt ja offen, was des nachts passiert.


    Mir gefällt die Beschreibung dessen, "wie es gewesen sein könnte". ;-)

    Lieben Gruß,


    Batcat


    Ein Buch ist wie ein Garten, den man in der Tasche trägt (aus Arabien)