Der Engel mit der Posaune - Ernst Lothar

  • Er schüttelte den Kopf. „Ich kann’s mir nicht vorstellen, dass man im Jahr 1914 Krieg führt!“ (...)

    Katastrophen konnte man sich erst vorstellen, wenn sie da waren. (Seite 271)


    543 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag

    Verlag: Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016

    ISBN-10: 3-552-05768-4

    ISBN-13: 978-3-552-05768-5




    Zum Inhalt (eigene Angabe)


    Ein Engel, der eine Posaune bläst, thront als Steinfigur über dem Eingang zum Haus in der Seilerstatt 10 in Wien und wacht seit dem Bau über die Bewohner. Diese sind alle Mitglieder der Familie Alt, einer alteingesessenen Klavierbauerfamilie. Mit Henriette Stein, die ein enges Verhältnis zum Kronprinzen Rudolf hat, kommt „frisches Blut“ in die Familie, als sie den Fabrikerben Franz Alt heiratet. Doch nicht alle Familienmitglieder sind ihr gewogen, und manchmal erscheinen die Sitten im Haus ähnlich streng wie die bei Hofe.

    Zwischen dem Selbstmord des Kronprinzen Rudolf und dem „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich entwirft der Autor, in dem er die Geschichte der Generationen der Alts in der Seilerstätte 10 erzählt, nicht nur eine Familiengeschichte, sondern das Bild vom Untergang des alten Österreich.



    Über den Autor


    Ernst Lothar (eigentlich Ernst Lothar Sigismund Müller) wurde 1890 in Brünn geboren. Er studierte Germanistik und Jura an der Universität Wien, Abschluß 1914 mit Dr. jur. Er heirate (Scheidung 1933) und wurde zum Kriegsdienst eingezogen. Nach dem Krieg wurde er als Staatsanwalt tätig und veröffentlichte erste Werke unter Pseudonym. 1925 wurde er als Hofrat pensioniert. Danach arbeitete er als Theater- und Literaturkritiker, führte Regie am Burgtheater und wurde 1935 Nachfolger von Max Reinhardt am Theater in der Josefstadt. 1933 heiratete er die Schauspielerin Adrienne Gessner, mit der er 1938 vor den Nazis über Paris in die USA floh. 1946 kehrten sie nach Österreich zurück. Von 1948 bis 1962 war er als Regisseur am Burgtheater tätig, bis 1959 gehörte er der Direktion der Salzburger Festspiele an.

    Er starb in Wien am 30. Oktober 1974.


    Informationen im Internet:

    Die Seite zum Buch beim Verlag (mit Leseprobe)

    Der Wikipedia-Eintrag zum Autor

    Eine Biographie (mit Bibliographie) auf der Seite des Archivs für die Geschichte der Soziologie in Österreich


    Meine Meinung


    Ein Engel mit einer Posaune thront wachsam über dem Eingang des Hauses Seilerstätte 10; mit diesem beginnt sowohl das Buch als auch die Verfilmung des Romans „Der Engel mit der Posaune“, durch welche ich auf die Buchvorlage aufmerksam wurde. Wie ich inzwischen weiß, weicht der Film in Teilen erheblich vom Roman ab; das Buch erscheint mir härter - und damit vermutlich realistischer - zu sein. Auch wenn sich das Buch gut lesen läßt, wenn man sich an den Stil des Autors gewöhnt hat, so ist es jedoch alles andere als einfache Kost. Aber das sollte alleine schon durch die Anfang und Ende des Romans bezeichnenden Ereignisse klar sein.


    Von Beginn an hatte ich das Gefühl, in einer anderen Zeit zu sein. Lothar hat es verstanden, daß ich in den Jahren, die während des Kaiserreichs spielten, stimmungsmäßig dort war und er verstand es, die bedrückende Atmosphäre, die sich mit dem Nahen der Nazis mehr und mehr ausbreitete, spürbar werden zu lassen. Selten (oder vielleicht noch nie) habe ich ein Buch gelesen, in welchem in so lakonisch-neutraler Erzählweise dermaßen scharfe und gleichermaßen hochemotional aufgeladene Bilder entworfen und beschrieben werden wie hier. Das führt stellenweise zu Szenen, in denen einen das Grauen förmlich aus den Buchseiten heraus ins Gesicht springt. Viel deutlicher kann man die Verworfenheit und Absurdität der Nazi-Ideologie nicht mehr entlarven.


    Passend zum Untertitel „Roman eines Hauses“, der durchaus mehrdeutig verstanden werden kann, beginnt das Buch mit der Beschreibung eben jenes Hauses in der Seilerstätte 10 in Wien, seiner Geschichte und der seiner Bewohner. Ein Personenverzeichnis wäre hilfreich gewesen, wird es doch von zahlreichen Personen aus verschiedenen Zweigen einer einzigen Familie bewohnt, bei denen man leicht den Überblick verliert. So viele verschiedene Wohnungen das Haus hat, so verschieden sind auch die Menschen, die es bewohnen und die über die Jahre hinweg irgendwie miteinander auskommen müssen.


    Hier hinein heiratet Henriette Stein, die Tochter des der Obrigkeit - und manchem im Haus - etwas suspekten Professors Stein. Von ihrem Gatten Franz, dem Inhaber der Klavierfabrik, heftig geliebt, ist es für sie eher eine Vernunftehe, denn über all die Jahre hinweg trauert sie ihrer großen Liebe, dem Kronprinzen Rudolf, nach.


    Eingebettet in die Zeitläufte erleben die Figuren - und damit wir Leser - die Ereignisse mit: die Monarchie, den Ersten Weltkrieg, die Revolution und Republik, deren Scheitern bis hin zum Anschluß Österreichs an das Deutsche Reich. Die Figuren sind gut gezeichnet und weit entfernt davon, einfach oder gar eindimensional zu sein. Sie haben ihre Ecken und Kanten, ihre guten und schlechten Seiten, so daß es schwer fällt, Sympathie und Antipathie immer eindeutig zu verteilen. Sie handeln nicht immer logisch, nicht immer rational, und mögen manches mal so gar nichts dazu lernen. Es ist, wie im richtigen Leben. Aber gerade deshalb war es mir möglich, vieles so gut nachzuempfinden. Aus ihrer jeweiligen Situation heraus konnten sie nicht anders denken oder handeln, als sie es taten. Der Autor hat seine Figuren, wie es im Nachwort heißt, in der Tat „voller Zuneigung und Humor gezeichnet“. Daß manche sich entwickeln, wie sie es eben tun, ist darob um so erschreckender - und vermutlich um so realistischer.


    Franz’ magere Phantasie ließ ihn im Stich. Waren sie wirklich glücklich gewesen, seine Vorgänger auf Nummer 10? Er hatte sich nie darum bekümmert. (S. 32)

    Ob die Vorfahren glücklich gewesen waren, wird wohl niemand mehr erfahren. Ob aber Franz und die Seinen glücklich geworden sind, ist in diesem Buch zu lesen. Eine längst fällige Wiederentdeckung, ein großartiger Roman und vermutlich mein Lesehighlight des Jahres: Der Engel mit der Posaune.



    Mein Fazit


    Ein großartiger Roman, nicht nur über eine Familie, sondern den Untergang der einen und das Heraufdämmern einer anderen Epoche.


    ASIN/ISBN: 3442715105

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

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  • Ein Buch mit "Sogwirkung".

    Besonders gut hat mir die sehr differenzierte Beschreibung der Personen gefallen. Da hat jede Figur positive und negative Seiten, die mit viel Einfühlungsvermögen geschildert werden.


    Gefehlt hat mir ein Anhang, in dem ein geschichtlicher Überblick über die für uns doch sehr weit entfernten historischen Ereignisse gegeben wird - zumal der Roman auf reale Geschehnisse zurückgreift.


    Insgesamt ein sehr empfehlenswerter Roman.

  • Auch ich kann viele lobende Worte für das Buch finden. Ein sehr authetisch wirkender Roman, der sich immer mit den Fakten deckt, die ich mir aus dieser Zeit angelesen habe. Mit den Personen und Schauplätzen und dem Wiener Slang hatte ich keine Probleme, wofür allerdings meinen Vorfahren zu danken ist :).

    Streckenweise ist das Buch sehr spannend, sogar ein Kriminalfall ist eingearbeitet.

    Ich empfinde das Buch auch als eine Mahnung, die Zeichen der Zeit zu sehen und vor allem zu reagieren.


    Lothars Sprache ist erfrischend gut, er beherrscht Rechtschreibung und Grammatik beinahe perfekt. Allerdings kommt er an die wirklich Großen dieses Genres nicht heran.

    Der Roman berührt mich sehr, aber unter die Haut geht er mir nicht. Dazu brauche ich immer noch einen Schnitzler, einen Horvath oder einen Thomas Bernhard.

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde

  • Das Ärgste ist, dass alles weitergeht, als wär‘ nichts passiert! Was müsst‘ eigentlich geschehn, um dieses grauenhafte Weitergehn zu verhindern?“, fragte er im selben Atem.

    Sie antwortete: „Nichts! Es geht immer weiter.“

    Sie dachte an Rudolf und den Tod. (S. 248)



    Meine Meinung


    Noch nie, soweit ich mich erinnere, habe ich zu einem gelesenen Buch eine zweite Rezension geschrieben. Sicherlich ist es kein Zufall, daß ausgerechnet „Der Engel mit der Posaune“ nun das erste ist, was mich zu einer solchen veranlaßt. Denn erst beim zweiten Lesen ist mir die ganze Tragik, die in diesem Buch steckt, so richtig bewußt geworden.


    Es gibt Bücher, und dieses gehört gewißlich dazu, die man wohl am Besten mehrfach liest. Das erste Mal, um sich mit der Handlung bekannt zu machen. Und ein- oder mehrfach weiteres Mal dann, um das Hintergründige, den Gesamtzusammenhang (der sich manchmal erst erschließt, wenn man am Anfang schon das Ende kennt), das, was zwischen den Zeilen steht, voll zu erfassen.


    So erging es mir mit diesem Buch.


    In Kenntnis der Handlung sind mir Hinweise auf Entwicklungen, die kommen aufgefallen, die man beim ersten Lesen als solche vielleicht gar nicht wahrnimmt. Und mir ist die ganze Tragik der Henriette Alt, geb. Stein, bewußt geworden. Es ist ihr Leben, das fast das ganze Buch ausmacht. Am Beginn (der Handlung) die Beziehung zum Kronprinzen Rudolf, der sich an Henriettes Hochzeitstag das Leben nimmt. Am Ende der Einmarsch der Nazis in Wien und der „Anschluß ans Reich“ mit all seinen gräßlichen Begleiterscheinungen. Dazwischen ein Weltkrieg, der Zusammenbruch des Habsburgerreiches, die kurzlebige Republik. Fünf Jahrzehnte österreichische Geschichte auf rund fünfhundert Seiten. Alles innerhalb eines Menschenlebens.


    Vor allem diesen Schlußteil habe ich als extrem intensiv empfunden. Von heute auf Morgen, als ob man einen Schalter umgelegt hätte, kippt die Stimmung, und was nie eine große Rolle spielte, wird plötzlich entscheidend wichtig für Leben oder Tod: ob man nämlich jüdische Vorfahren hat oder nicht. Wie schnell der latente, mal mehr, mal weniger stark vorhandene Antisemitismus in offene Ablehnung, Diskriminierung und Schlimmeres umschlägt. Fassungslos habe ich die Handlung verfolgt und mir immer wieder vor Augen gehalten, daß das „nur ein Roman ist“. Aber da der Autor durchaus eigene solche Erfahrungen in seinem Leben gemacht hat, es also zu befürchten ist, daß er das recht wirklichkeitsnah beschrieben hat.

    Das Leben besteht aus den Pausen zwischen den Katastrophen.“ (S. 533) Wenn ich dieses Buch betrachte und dann den Blick auf die heutige Situation werfe, beschleicht mich das dumpfe Gefühl, daß die derzeitige Pause ihrem Ende entgegen geht.



    Mein Fazit wie gehabt, doch erweitert:


    Ein großartiger Roman, nicht nur über eine Familie, sondern den Untergang der einen und das Heraufdämmern einer anderen Epoche. Wenn ich mich heute in unserer Zeit so umsehe, eine Warnung, was passieren kann, wenn man nicht aufpaßt, Zivilcourage hat und den Anfängen wehrt. Das Buch sollte Pflichtlektüre werden.


    Was für ein Buch! :anbet :anbet :anbet

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")