'Der Gang vor die Hunde' - Seiten 001 - 079

  • Ich verstehe jetzt gar nicht, wieso ihr das auf einmal so messerscharf in Mikro- und Makroebene auseinanderklabüsern müsst. Sicher geht jeder anders an ein Buch heran, der eine gewichtet die Fakten mehr, der andere eben die Figuren. Aber ich finde hier beides recht gleichwertig nebeneinander stehen. Das sehe ich ähnlich wie Tante Li. Mikro oder Makro ist mir auch echt wurscht, muss ich sagen. Ein Buch lese ich als Ganzes, auch ein vielschichtiges wie dieses.

    Es hat niemand gesagt, dass nicht beides seine Berechtigung hat.

    Ich mag die Figuren hier trotzdem nicht bis ins kleinste Detail sezieren, weil ich das Buch eben anders wahrnehme. Das habe ich ohne Vorwurf geäußert.

    Beides ist legitim und kann auch beides in einer Leserunde so nebeneinander bestehen.

  • so messerscharf in Mikro- und Makroebene auseinanderklabüsern müsst.

    ist mir wieder mal zuviel Mirkoebene. Ich präferiere da

    Hmmm :gruebel ist "... mir zuviel ..." und "... ich präferiere ... " wirklich eine messerscharfe Trennung oder eher nur eine Relativierung? ;)


    Saiya hat das ja auch eben geschrieben: Beides ist möglich, es ist nur die Frage, was man in den Fokus rückt. Jeder hat das wohl eine etwas andere Herangehensweise. Es ist ja auch das Bereichernde einer Leserunde, wenn man diese andere Herangehensweise kennenlernt.

  • xexos

    Okay, vielleicht ist "messerscharf" wirklich das falsche Wort.

    Aber für mich kam das schon ein wenig so rüber, als müsste man sich da jetzt für eine Seite und eine Lesart entscheiden, und das möchte ich einfach nicht, weil ich halt beides gleich wichtig finde.

    Und genau das wollte ich auch nur ausdrücken, dass jeder auf seine eigene Weise an ein Buch herangeht und Gelesenes anders gewichtet. Dann sind wir uns da ja einig :)


    Sind für dich zum Beispiel die Figuren denn viel weniger wichtig als eine reine Beschreibung des Geschehens, und nur nebensächlich? Würde mich jetzt mal interessieren.

    Ich habe auch überlegt, wie das Buch auf mich wirken würde, wenn es diese doch sehr präsente Figur des Fabians nicht geben würde, sondern der Text mehr allgemeiner gehalten und nicht so auf eine Person fokussiert wäre. Aber ich glaube, mir würde es tatsächlich weniger gefallen, es würde mich einfach nicht so "abholen", nicht so bewegen.

  • Sind für dich zum Beispiel die Figuren denn viel weniger wichtig als eine reine Beschreibung des Geschehens, und nur nebensächlich? Würde mich jetzt mal interessieren.

    Das man sich so in den Charakteren verlieren kann, habe ich erst hier im Forum in den Leserunden kennengelernt. Das ein Protagonist sympathisch sein kann oder vielleicht sogar sein muss, war für mich vorher niemals relevant und ich hätte auch nie gedacht, dass andere darüber ein Buch wahrnehmen könnten.


    Die reine Beschreibung der Fakten wäre mir aber wohl auch zu wenig. Es ist für mich wohl eher die Handlungsweise, die Authentizität, der historische Hintergrund usw. Ich brauche da weniger ein Alter Ego, durch den ich mitfiebern kann.

  • Bücherdrache : Ich kann Deinen obigen Worten zustimmen, aber das

    ist etwas zu weit interpretiert. Die wilden Jahre mit dem Sittenverfall waren meines Wissens vor allem auf Berlin begrenzt. Die Nazis haben vor allem Arbeitsplätze und Abschaffung der Reparationsleistungen versprochen. Die Abschaffung der Tanzbars in Berlin standen eher nicht im Fokus der Propaganda.

    Als Wahlversprechen sicher nicht, aber ich könnte ich mir schon vorstellen, dass die NSDAP schon allein durch ihr Auftreten und ihre Reden bei vielen Menschen den (willkommenen) Eindruck erweckt haben, dass sie mit starker Hand durchgreifen und dieses Sodom und Gomorrha wieder aufräumen werden, wieder Zucht und Ordnung herstellen. Das hätte bestimmt vielen gefallen, die sich an diesen allzu lockeren Sitten gestört haben.

    Naja, alles eben nur Interpretation und Spekulation. Und eine Sache allein war es sicher nicht, die die Nazis an die Macht gebracht haben.

  • Sind für dich zum Beispiel die Figuren denn viel weniger wichtig als eine reine Beschreibung des Geschehens, und nur nebensächlich? Würde mich jetzt mal interessieren.

    Du hast zwar xexos angesprochen, aber mich bewegt die Figur Fabian in diesem Buch so sehr, dass ich immer noch im ersten Abschnitt hänge. Deshalb antworte ich auch mal und versuche, meine Lesart zu beschreiben.

    Es ist sehr spannend für mich, wie ein Autor seine Figuren anlegt. Da wählt Kästner einen ganz besonderen Weg, wie ich finde. Fabian ist nicht richtig greifbar, er ist einer von vielen. Ich denke, dass Kästner sehr bewusst einen gebildeten Angestellten gewählt hat, der die Bevölkerung Berlins repräsentiert. Bei der Begegnung mit Frau Moll ist mir aufgefallen, dass er seine sexuellen Abenteuer als etwas betrachtet, dass er untersuchen möchte. "Man war ein Chirurg, der die eigene Seele aufschnitt." (S.16)

    Auch in Sachen Politik weiß er zwar Bescheid, verhält sich aber neutral, fast dessinteressiert. Das wird sehr schön deutlich in der Szene mit der Schießerei. Sowohl der Nationalsozialist als auch der Kommunist werden ins Krankenhaus gebracht.

    Ich denke, dass Kästner mit Fabian die allgemeine Haltung der meisten Menschen abbilden wollte. Und das war das Gefährliche in dieser Zeit, was er so vorhält und damit kritisiert. Der Leser muss eine eigene Haltung finden.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Das man sich so in den Charakteren verlieren kann, habe ich erst hier im Forum in den Leserunden kennengelernt. Das ein Protagonist sympathisch sein kann oder vielleicht sogar sein muss, war für mich vorher niemals relevant und ich hätte auch nie gedacht, dass andere darüber ein Buch wahrnehmen könnten.

    Hat sich durch dieses Wissen deine eigene Wahrnehmung beim Lesen denn verändert? Also, dass du dich jetzt vielleicht intensiver oder einfach anders mit den Figuren befasst?


    Ich finde das ja echt spannend, wie unterschiedlich man an ein Buch herangehen kann. Dass Romanfiguren für einen Leser kaum bis gar nicht relevant sind, wäre mir früher gar nicht in den Sinn gekommen.

    Wobei mir solche Figuren nicht mal sympathisch sein müssen, und ich muss auch nicht alles verstehen, was sie tun. Aber irgendeine Verbindung brauche ich zu ihnen. Wenn mir die Figuren gleichgültig bleiben, bleibt es meist auch das Buch.

  • Hat sich durch dieses Wissen deine eigene Wahrnehmung beim Lesen denn verändert?

    Nein, kein bisschen. :lache

    Wenn mir die Figuren gleichgültig bleiben, bleibt es meist auch das Buch.

    Die Gefühlswelt ist mir eher gleichgültig, nicht das Schicksal. Ich habe beispielsweise die Romanreihe "Coq Rouge" von Jan Guillou sehr gerne gelesen, aber nicht wegen seines Familienschicksals, sondern wegen seiner Erlebnisse.

  • Ich denke, dass Kästner mit Fabian die allgemeine Haltung der meisten Menschen abbilden wollte. Und das war das Gefährliche in dieser Zeit, was er so vorhält und damit kritisiert. Der Leser muss eine eigene Haltung finden.

    Da hast du recht, er ist so mittelmäßig, so unentschlossen. Beim Lesen habe ich mir auch öfters gedacht, dass er es sich mit seiner Haltung schon sehr einfach macht, denn er ist immer nur Beobachter, nie wirklich am Geschehen beteiligt. So muss er auch nie Verantwortung für etwas übernehmen, muss nie für etwas geradestehen oder sich für etwas rechtfertigen. Muss nie für etwas oder jemanden kämpfen, auch nicht für seine Anschauungen, denn im Grunde hat er keine. Es ist eine recht bequeme und auch ziemlich feige Grundhaltung.


    Was mich daran erschüttert, ist, dass Kästners Kritik ja immer noch (oder schon wieder) zutiefst berechtigt ist.

  • "Ich skizzierte die kapitalischtische Situation Europas und stellte die Forderung auf, dass die bürgerliche Jugend sich radikalisieren und daß sie den kontinentalen Ruin, der von allen Seiten, passiv oder aktiv, vorbereitet wird, aufhalten müsse. (...) den Kontinent zu reformieren: durch internationale Abkommen, durch freiwillige Kürzung des privaten Profits, durch Zurückschraubung des Kapitalismus und der Technik auf ihre vernünftigen Maße, durch Steigerung der sozialen Leistungen, durch kulturelle Vertiefung der Erziehung und des Unterrichts. Ich sagte, diese neue Front, diese Querverbindung der Klassen sei möglich, da die Jugend, wenigstens ihre Elite, den hemmungslosen Egoismus verabscheue und außerdem klug genug sei, eine Zurückführung in die organischen Umstände einem unvermeidlichen Zusammenbruch des Systems vorzuziehen." S.72f


    Ich bin sprachlos angesichts der Aktualität dieses Buches. Dies lässte Kästner Labude sagen, der so Hoffnungsvoll ist, dass die Jugend eine Wende herbeiführen kann. Mitreißend lesen sich seine Gedanken, die einen Ausweg aus der wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe wären (heute gehört noch der Raubbau an der Umwelt dazu). Das alles prallt an Fabian ab, dieser hat schon vollkommen resigniert. "Und sei mir nicht böse, wenn ich nicht glaube, daß sich Vernunft und Macht jemals heiraten werden." (S.73).

    Zum Zusammenbruch des Systems gehören nicht nur die Ausbeuter, sondern auch die haben eine Schuld, die tatenlos zusehen. So lese ich hier Kästners Kritik, die auch heute noch berechtigt ist.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • und dieses Sodom und Gomorrha wieder aufräumen werden, wieder Zucht und Ordnung herstellen

    Zucht und Ordnung herstellen mit Sicherheit, dieses aber eher wegen solcher politischen Richtungen wie Sozialismus und Kommunismus. Diese Berliner Verhältnisse, die wir hier lesen, waren Randerscheinungen im damaligen Deutschen Reich, das noch wesentlich größer war als das heutige Deutschland. Die mediale Berichterstattung mangels heutiger Technik auch nicht so weitreichend. Iich könnte mir vorstellen, dass nicht einmal alle Berliner wussten, was da in der Nachtwelt passierte, geschweige denn die Menschen in Königsberg, im Schwarzwald oder in Passau.


    Die damaligen Probleme waren grundsätzlicher und eher vom Verlust der Arbeit und der wirtschaftlichen Sicherheit geprägt. Die Menschen hatten gerade die galoppierende Inflation und Hungersnöte erlebt, das waren eher deren Sorgen.

  • Ich habe jetzt den ersten Abschnitt fertig gelesen.

    Puh, ihr ward ja schon sehr fleißig hier mit dem diskutieren.:thumbup:

    Ich habe mir alle Beiträge von Euch durchgelesen und habe das Gefühl, dass ich gar nicht mehr viel Neues dazu schreiben kann bzw. auch leider nicht die Zeit dazu habe.


    Ich finde das Buch bis jetzt sehr interessant. Vor allem, wie der Autor die Stimmung der Menschen in Berlin in der damaligen Zeit einfängt. Für mich steht Fabian auch eher stellvertretend für eine Gesellschaftsschicht der damaligen Zeit. Und der treffende Titel "Der Gang vor die Hunde" sagt eigentlich schon alles aus, über die Gemütslage Menschen. Ich habe jetzt für mich nicht das Bedürfnis, die Person Fabian an sich zu analysieren. Ich lasse das Ganze als ein großes Bild einfach auf mich wirken und bin sehr beeindruckt.

    es ist alles völlig egal, was man macht (laut Fabian). Kästner bereitet damit schon auf den nächsten Krieg von, der scheint für ihn schon deutlich sicher zu sein, obwohl das Buch erst 1931 erschien.

    Das finde ich echt erstaunlich, wie Kästner 1931 schon den nächsten Krieg heraufziehen sieht. Und wie er Europa beschreibt, als eine "Wartehalle". Er sieht die großen Probleme und den Krieg schon am Horizont. Ich hätte nicht gedacht, dass das 1931 für die Menschen so deutlich sichtbar gewesen wäre.

  • Die damaligen Probleme waren grundsätzlicher und eher vom Verlust der Arbeit und der wirtschaftlichen Sicherheit geprägt. Die Menschen hatten gerade die galoppierende Inflation und Hungersnöte erlebt, das waren eher deren Sorgen.

    So sehe ich das auch. Wie ich ganz am Anfang im ersten Beitrag schrieb, sehe ich die Figuren zwischen zwei Kriegen, dem vergangenen und dem vielleicht drohenden, entwurzelt und scheinbar ziellos in ihrem Lebenshunger.

    Ich mag hier gar nicht, und da bediene ich mich mal bei dem, was du vorher schriebst, so sehr in die "Mikroebene" gehen, sondern will eher lesen und den Roman in seinem historischen Kontext und seiner Aktualität auf mich wirken lassen, denn was Kästner da schreibt, ist großartig und zeigt, wie sich alles Menschliche und Unmenschliche in seiner gesamten Spannbreite im Lauf der Geschichte immer wieder wiederholt.

  • Ich habe mal ein ganz klein wenig bei Wikipedia gelesen:


    “Fabian. Die Geschichte eines Moralisten ist ein sogenannter Großstadtroman von Erich Kästner mit autobiografischen Zügen, der noch der Neuen Sachlichkeit zugerechnet werden kann. Der 1931 bei der Deutschen Verlags-Anstalt erschienene Roman entwirft ein Gesellschaftsbild Berlins am ‚Vorabend‘ der „Machtergreifung“ Adolf Hitlers.“

  • Ich habe auch ein bisschen bei Wikipedia darüber gelesen, 1930 gab es ja diesen "erdrutschartigen" Wahlerfolg der NSDAP, vielleicht war da schon abzusehen, dass diese Machtergreifung nicht mehr aufzuhalten und nur noch eine Frage der Zeit war.

    Und wenn man 80 Jahre später einen Internet-Artikel drüber schreibt, kann man das vielleicht als "Vorabend" bezeichnen, hinterher weiß man ja immer alles besser ;)

  • Ich habe den 1. Abschnitt jetzt auch fertig und bin ganz begeistert von diesem Buch. Es ist mein erstes Kästner-Buch für Erwachsene und ich finde es sehr spannend, wie er mit der gleichen Sprache wie in den Kinderbüchern über völlig andere Dinge schreibt. Außerdem finde ich es wie viele von euch auch sehr erschreckend, wie aktuell das Buch ist - wenn man es nicht wüsste, würde man nicht unbedingt glauben, dass es von 1931 ist! Gerade die "Wartehalle Europa" ist erschreckend aktuell, aber auch an anderen Stellen habe ich erstmal schlucken müssen.


    Ich habe mir noch gar keine großen Gedanken gemacht, ob ich Fabian nun mag oder nicht - für mich ist es Kästner selbst, der durch Fabian seine Sicht der Welt damals kundtut. Vieles davon empfinde ich als zynisch, aber auch als bedrückend bis regelrecht deprimierend. Ein bisschen tut er mir auch leid, denn wirklich schön ist es doch nicht, wenn man nur als Zuschauer durchs Leben geht, die anderen beobachtet, ohne selbst wirklich eigene Ziele zu haben und auch zu verfolgen. Ich frage mich, ob das eine Folge seiner Erlebnisse im 1. Weltkrieg ist - irgendwie scheint er ja mit allem abgeschlossen zu haben, als ob es sich nicht lohnen würde, noch auf irgendetwas hinzuarbeiten. Stattdessen wartet er auf den nächsten Krieg - auch das fand ich sehr verstörend, wie fest Kästner davon ausgeht, dass wieder ein Krieg kommen wird! Auch seine Schilderung der Jugend im 1. Weltkrieg fand ich sehr verstörend, diese Bild von der Vakuumkapsel, aus der langsam der Sauerstoff abgepumpt wird, und die jungen Leute darin, deren Lebenshunger eigentlich das Ringen um Luft zum Atmen ist...


    Überrascht hat mich, wie genau Kästner das Nachtleben des damaligen Berlin mit all seinen sexuellen Ausschweifungen und anderen Absonderlichkeiten kennt - das hätte ich so nicht erwartet. Irgendwie hatte ich von ihm auch eher das Bild des braven Muttersöhnchens, aber hier kommt es ja schon so rüber, als kenne er das meiste aus eigener Anschauung.


    Ich bin gespannt, was mich im nächsten Abschnitt erwartet!


    LG, Bella