'Der Gang vor die Hunde' - Seiten 001 - 079

  • In dieser Auflage stehen Vorwort und Nachwort erst hinten im Anhang, habe ich gesehen. Ich habe es aber nicht gelesen, weil der Abschnitt mit dem Anhang erst am Schluss der Leserunde im letzten Abschnitt kommen soll. Aber zumindest das Vorwort wäre wohl hilfreich ... vielleicht sollte man das doch vor dem Roman lesen? Einiges würde man dann sicher besser verstehen können.

    So halte ich es auch. Ich denke, dass es ganz spannend sein wir, die Vorworte am Schluss, rückblickend zu lesen, mit dem Wissen über das gelesene Buch im Rücken.


  • @ Findus

    Die Handlung müsste 1930 spielen. Gleich im allerersten Absatz sitzt Fabian in einem Café und überfliegt die Schlagzeilen der Zeitung, da ist von einem Luftschiffunglück in Beauvais die Rede, das war lt. Wikipedia in diesem Jahr.

    Im Schutzumschlag meiner Ausgabe steht, dass der Roman im Berlin der späten Zwanzigerjahre spielt.

  • Er äußert sich doch gegenüber seinem Vorgesetzten dahingehend, dass er sein Leben als "Nebenjob" sieht. Ich glaube nicht, dass er so viel Zeit und Geld investieren würde, wenn er nicht sein Vergnügen an seinen Beobachtungen hätte.

    Das mit dem Nebenjob muss ich überlesen haben. Oder es ist in der Neufassung. Hier unterhält er sich mit Fischer, der ihn fragt was er macht, falls er gekündigt wird. Wie er seine Arbeit auffasst wird nicht erwähnt. Allerdings merkt man, dass er nicht an der Arbeit hängt. Vermutlich, weil es unsicher ist und eher ein Glücksfall, überhaupt eine zu haben. Für mich liest es sich so, dass er sie macht, weil er sie hat, nicht, weil ihm viel daran liegt. Aber das gibt es sicher auch heute noch Leute mit der Auffassung.

    Clare bei mir steht nur es ist 1931 erschienen, danke

  • Im Schutzumschlag meiner Ausgabe steht, dass der Roman im Berlin der späten Zwanzigerjahre spielt.

    Dann weiß ich auch nicht - ich hatte das gestern nachgeschlagen, nachdem es erwähnt wurde, weil mich das genaue Datum auch interessiert hatte. Aber das einzige Unglück mit einem explodierten Zeppelin über Beauvais, das ich gefunden habe, war am 05. Oktober 1930. Und das würde einer Handlung noch in den 20er Jahren ja widersprechen.


    Vielleicht klärt sich das im weiteren Verlauf oder wird im Anhang noch genauer erläutert :)

  • Alle Vorworte zu den vorherigen Ausgaben findet man im Anhang.
    Da dieser ein eigener Abschnitt ist, habe ich ihn ausnahmsweise mal nicht vorher gelesen (was ich sonst immer mache).

    Ja, ich habe da auch eine Ausnahme gemacht, aber doch im Vorfeld schon eine Biografie und gelesen und etwas im Netz gestöbert.

    Der Roman hat schon Autobiografisches, finde ich. Man bemerkt auch die journalistische Erfahrung, die Kästner bereits gesammelt hatte.

    Mir ist einiges aufgefallen, etwa die starke Bindung zur Mutter, sie soll auch dem 40 Jährigen noch Wäschepakete geschickt haben. Oder Ralph Zucker, den er am Gymnasium kennenlernte, wo er nach dem Krieg das Abitur nachholte, soll Vorbild für Labude gewesen sein. Wenn man beider Schicksal vergleicht, ist dies schwer anzuzweifeln, das kommt aber erst später. Dann der Bruch Labudes mit seiner Verlobten, zu vergleichen mit Kästners langjähriger Jugendliebe Ilse Julius, auch hier eine Fernbeziehung durch unterschiedliche Studienorte, die dann in die Brüche ging.

    Das Gedicht ''Eine sachliche Romanze'' soll sich darauf beziehen.


    Was ich von Fabian und diesem Roman halte, weiß ich noch nicht genau. Durch die sachliche, oft leicht zynische Beschreibung stellt sich bei mir eine gewisse Distanz ein. Ich beobachte Fabian dabei, wie er das Treiben in Berlin, sein Leben und seine Zeit beobachtet. Manchmal tut er mir fast leid, aber nur fast. Seine Moral empfinde ich als Doppelmoral, besonders seinen Blick auf die Frauen.

    So nach dem Motto: Alles Schlampen außer Mutti.

    Er und die anderen Herrn, die diese Örtlichkeiten aufsuchen, sind moralisch natürlich tadellos.

    Und nein, ich glaube nicht, dass er immer nur der Beobachter ist, das sagt er auch irgendwo einmal selbst. Ob Labude seiner Leda all die Jahre treu war, bezweifle ich auch, aber er ist mir bisher sympathischer. Er hat Ziele, will etwas verändern, Fabian hat moralische Vorstellungen, wie die Menschen zu sein hätten, solange sie es nicht sind, beobachtet er sie lieber.

    Darauf Labuda auf Seite 46: " Aber du phantasierst lieber von einem unerreichbaren vollkommenen Ziel, anstatt einem unvollkommenen, das sich verwirklichen läßt, zuzustreben. Es ist dir bequemer so. Du hast keinen Ehrgeiz, das ist das Schlimme."


    Mal sehen, wie sich das im zweiten Teil entwickelt.

  • "Alles Schlampen außer Mutti" ja, das passt irgendwie. Fabian will sich auf nichts einlassen, scheut die Verantwortung, vermutlich auch die für das eigene Leben.

    Klappentexte sind nicht immer richtig aber das Ersterscheinungsdatum 1931 müsste ja stimmen.

  • Der Blick und die Mutmaßungen auf Fabians Charakter ist mir wieder mal zuviel Mirkoebene. Ich präferiere da die Makroebene und lese aus dem ersten Abschnitt eine Beschreibung Kästners der damaligen gesellschaftlichen Zustände raus. Wörtlich ist der Titel in diesem Zusammenhang zu nehmen: Alles geht vor die Hunde und genau das zeigt uns Kästner.


    Im Krieg wurden vor allem Männer getötet, von daher gibt es einen Frauenüberschuss, was deren sexuelles Verlangen darstellt, aber auch die Suche nach wirtschaftlicher Absicherung. Eigentlich gibt es aber diese Absicherung nicht: Es ist alles völlig egal, was man macht (laut Fabian). Kästner bereitet damit schon auf den nächsten Krieg von, der scheint für ihn schon deutlich sicher zu sein, obwohl das Buch erst 1931 erschien. Selbst Labudes Vater rät ja, während der Lebzeiten das Leben zu genießen und nicht auf später zu hoffen.


    Interessant auch sein Blick auf die politischen Auseinandersetzungen. Von Wirtshausschlägereien, die nur namentlich kurz erwähnt werden bis hin zu dieser exemplarischen Schießerei. Wer hätte gewonnen, wenn beide besser gezielt hätten? Anders gefragt: Was soll der Blödsinn? Kästner scheint schon jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufgegeben zu haben.

  • Natürlich muss man das auch so lesen, aber da Kästner keinen politischen Zustandsbericht sondern einen Roman mit Charakteren geschrieben hat, denke ich, ist es durchaus legitim sich über die verwendeten Figuren und ihre dargestellten menschlichen Eigenschaften Gedanken zu machen.

    Anders gefragt: Was soll der Blödsinn?

    Ich denke, es soll zeigen, dass sich die rivalisierenden Gruppen in ihrer Auseinandersetzungsfähigkeit ähnlich beschränkt sind oder beide letztlich nur gegenseitige Verletzungen beibringen und keine Konflikte lösen können. :gruebel Hier sehe ich eher die Makroebene, weil den beiden Duellisten keine weiteren Charaktereigenschaften zugeschrieben werden.

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    Von den vielen Welten, [...] ist die Welt der Bücher die größte. (Hermann Hesse)


    :lesend MZB: Darkover-Universum

  • Ich denke, es soll zeigen, dass sich die rivalisierenden Gruppen in ihrer Auseinandersetzungsfähigkeit ähnlich beschränkt sind oder beide letztlich nur gegenseitige Verletzungen beibringen und keine Konflikte lösen können.

    Meine Frage richtet sich nicht an Kästner, sondern soll nur Kästners Schlussfolgerung in anderen Worten ausdrücken.;) Deine Interpretation teile ich an dieser Stelle und ich denke, es war auch Kästners Interpretation, der damit - etwas burschikoser formuliert - den Disputanten zurufen könnte "Was soll der (euer) Blödsinn?".

  • aber da Kästner keinen politischen Zustandsbericht sondern einen Roman mit Charakteren geschrieben hat

    Woher nimmst Du diese Sicherheit?

    Ich vermute mal eher, dass Kästner mit seinem Roman eine Botschaft verbindet. Diese nur auf ein paar Charaktereigenschaften zu reduzieren, wäre meiner Meinung nach recht wenig. Aber wir haben für die Aufklärung später ja auch noch den Anhang.

  • So, den ersten Abschnitt habe ich nun auch durch. Ich musste mich erstmal in den Schreibstil einlesen, Wobei der Stil ja grundsätzlich sehr locker und flüssig ist.


    "Der Gang vor die Hunde" ist mein erster Kästner, wobei in meinem Bücherregal noch "Emil und die Detektive" darauf wartet, gelesen zu werden.


    Fabian und sein Freund Labude scheinen ja zwei gegensätzliche Persönlichkeiten zu sein, Labude erscheint mir sehr ergeizig und Fabian hat so gar keine Ambitionen für etwas, wechselt regelmäßig den Job und die damit verbundenen Tätigkeiten, momentan ist er "Propagandist" sprich Werbetexter für die Zigarettenindustrie ist. Seine Ziellosigkeit äußert sich ja auch darin, dass er durch die Stadt streift, von einem Etablissement ins nächste marschiert und mehr beobachtet als selber aktiv zu werden.


    Überhaupt scheint sich die Stadt ein einem Dauerrausch zu befinden.

    Was ihn nicht davon abhält, seinen Spaß mit Fabian auf Kosten der Fahrgästen im Stadtbus durch Berlin zu treiben. Sie spielen Tourist und Fremdenführer, der die Sehenswürdigkeiten falsch benennt

    Das fand ich auch amüsant, die zuhörenden Fahrgäste waren am Ende auch ziemlich schnell genervt. Ich konnte mir anfangs nicht so recht vorstellen, dass sie den beiden das Schauspiel abgekauft hatten. :)


    Aber ich glaube, dass seine Art, allesund jeden durch den Kakao zu ziehen und nichts ernst nehmen zukönnen, nur Fassade ist, mir scheint, dass dahinter ein einsamer, ruheloser,zweifelnder Mensch steckt.

    Ich vermute auch, dass diese Art mit seiner Umwelt zu kommunizieren, ein großer Teil Fassade darstellt, oder seine Zweifel äußeren sich auf diese Art.

    Einerseits finde ich ihn großspurig und überheblich, und auf mich macht er den Eindruck, als wäre er sehrvon sich selbst eingenommen, als fände er sich ungemein witzigund allen anderen weitüberlegen. Andererseits ist er dann wieder sehr nachdenklich undernsthaft, sogar empfindsam.

    So kommt er mir bisher auch rüber. Möglich, dass es daran liegt, dass nicht mit sich im Reinen ist. Vielleicht bräuchte er ein Ziel, auf dass er hinarbeiten könnte, anstatt planlos durch Berlin zu streifen.

    ich frage mich, wieso er dann überhaupt studiert und diesen Wegeingeschlagen hat, wenn er eigentlich gar nichts erreichen will.

    Möglich, weil es so von ihm erwartet wird, von seinen Eltern und der Gesellschaft. In dem Sinne, du musst einen guten Schulabschluss machen, eine Ausbildung oder ein Studium um dann irgendwo zu arbeiten. Vielleicht war das Studium für Fabian mehr eine Pflicht als dass er es aus freien Stücken getan hat.

    Das Vorwort Kästners, das in meinem Buch vorhanden ist, erklärt das. Hat das keiner von Euch?

    In meiner Ausgabe ist leider kein Vorwort abgedruckt.



  • Der Blick und die Mutmaßungen auf Fabians Charakter ist mir wieder mal zuviel Mirkoebene. Ich präferiere da die Makroebene und lese aus dem ersten Abschnitt eine Beschreibung Kästners der damaligen gesellschaftlichen Zustände raus. Wörtlich ist der Titel in diesem Zusammenhang zu nehmen: Alles geht vor die Hunde und genau das zeigt uns Kästner.


    Im Krieg wurden vor allem Männer getötet, von daher gibt es einen Frauenüberschuss, was deren sexuelles Verlangen darstellt, aber auch die Suche nach wirtschaftlicher Absicherung. Eigentlich gibt es aber diese Absicherung nicht: Es ist alles völlig egal, was man macht (laut Fabian). Kästner bereitet damit schon auf den nächsten Krieg von, der scheint für ihn schon deutlich sicher zu sein, obwohl das Buch erst 1931 erschien. Selbst Labudes Vater rät ja, während der Lebzeiten das Leben zu genießen und nicht auf später zu hoffen.


    Interessant auch sein Blick auf die politischen Auseinandersetzungen. Von Wirtshausschlägereien, die nur namentlich kurz erwähnt werden bis hin zu dieser exemplarischen Schießerei. Wer hätte gewonnen, wenn beide besser gezielt hätten? Anders gefragt: Was soll der Blödsinn? Kästner scheint schon jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufgegeben zu haben.

    Mir geht es wie dir. Mir liegt die Makroebene bei diesem Buch auch mehr.


    Ich finde erstaunlich, wie viele Andeutungen politischer, historischer oder gesellschaftlicher Art Kästner in den "Nebensätzen" versteckt und eben auch seine persönliche Meinung.


    Ich bin übrigens schon fertig mit dem Buch. Mir hat es (und vor allem die Figur Fabian) so sehr gefallen, dass ich einfach gelesen und gelesen habe, ohne Rücksicht auf Leserundensbschnitte. Ich bin mehr als beeindruckt. Es ist ein großartiges Buch.

  • Woher nimmst Du diese Sicherheit?

    :gruebel Wollen wir nun die Definitionen von Bericht und Roman diskutieren? :augenreib


    Ich vermute mal eher, dass Kästner mit seinem Roman eine Botschaft verbindet. Diese nur auf ein paar Charaktereigenschaften zu reduzieren, wäre meiner Meinung nach recht wenig. Aber wir haben für die Aufklärung später ja auch noch den Anhang.

    Natürlich verbindet Kästner eine Botschaft mit seinem Roman, aber diese würde ich nicht schon am Anfang suchen, sondern erst wenn ich den ganzen Roman gelesen habe.

    Zunächst begegnen mir Charaktere, über die ich mir Gedanken machen kann. Das heißt doch nicht, dass ich den Text nur darauf reduzieren möchte.

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    :lesend MZB: Darkover-Universum

  • Mir geht es wie dir. Mir liegt die Makroebene bei diesem Buch auch mehr.


    Ich finde erstaunlich, wie viele Andeutungen politischer, historischer oder gesellschaftlicher Art Kästner in den "Nebensätzen" versteckt und eben auch seine persönliche Meinung.


    Ich bin übrigens schon fertig mit dem Buch. Mir hat es (und vor allem die Figur Fabian) so sehr gefallen, dass ich einfach gelesen und gelesen habe, ohne Rücksicht auf Leserundensbschnitte. Ich bin mehr als beeindruckt. Es ist ein großartiges Buch.

    Ich kann mich euch beiden anschließen. Bis jetzt finde ich "Der Gang vor die Hunde" ein wiklich treffender Titel. Das Thema zieht sich durch alle Apekte des Buches durch. Die Orientierungslosigkeit, die Hoffnungslosigkeit, der Hunger nach Leben ist so treffend von Kästner beschrieben, dass ich nur staune.

    Erschreckend finde ich, welche Parallelen ich beim Lesen immer wieder zur aktuellen Stimmungslage lesen kann. Von Rebellion, wie es in den späten 60ger-, 70ger-Jahren der Fall war, als viele für ihre Überzeugungen auf die Straße gingen und sich mit den unterschiedlichsten Systemen anlegten, sind wir heute meilenweit entfernt. Lähmung - der Begriff passt vielleicht ganz gut. So empfinde ich die Stimmung in Kästners Buch auch.


    Fabians Mutter habt ihr, glaube ich, noch nicht erwähnt. Hürzlich habe ich Kästners Kindheitserinnerungen "Als ich ein kleiner Junge war" gelesen, in der Kästner sehr ausführlich seine Mutter beschreibt. Der Brief könnte von Kästners Mutter stammen. Hier sehe ich auch eine biofrafische Parallele.


    Den Aufbau des "Romans" finde ich sehr besonders. Die Überschriften wirken wie Schlagzeilen einer Zeitung, die episodenhaften Kapitel ehre wie Szenen eines Theaterstücks.

    Verwundert bin ich über die einfache, alltägliche Sprache. Ich kenne bisher auch nur die Kinderbücher Kästners. Die Sprache hier weicht nicht von der in den Kinderbüchern ab.

    Die eigentliche Geschichte aber bleibt unerzählt, denn ihre wahre Sprache könnte nur die Sprachlosigkeit sein. Natascha Wodin

  • Ich verstehe jetzt gar nicht, wieso ihr das auf einmal so messerscharf in Mikro- und Makroebene auseinanderklabüsern müsst. Sicher geht jeder anders an ein Buch heran, der eine gewichtet die Fakten mehr, der andere eben die Figuren. Aber ich finde hier beides recht gleichwertig nebeneinander stehen. Das sehe ich ähnlich wie Tante Li. Mikro oder Makro ist mir auch echt wurscht, muss ich sagen. Ein Buch lese ich als Ganzes, auch ein vielschichtiges wie dieses.


    Bestimmt war dem Autor eine Darstellung der Gesellschaft und der Begebenheiten sehr wichtig, aber ich gehe davon aus, dass ihm auch seine Figuren wichtig waren, sonst hätte er kaum so viel Mühe auf sie verwendet und ihnen wohl auch nicht so viel Platz im Buch eingeräumt. Das sind ja nicht nur Statisten, sie haben auch eine Funktion. Und wenn der Roman stark biografisch beeinflusst ist, vermittelt Kästner ja vermutlich auch durch eine dieser Figuren - ich gehe mal davon aus, dass es der Fabian ist - seine Anschauungen und seine Meinung zum Zeitgeschehen.


    Für mich sind es auch gerade diese Figuren, die mir das Geschehen nahe bringen, sie machen aus der reinen Darstellung oder Aufzählung von Fakten erst etwas Persönliches, das mich auch erreicht. Sie reflektieren die Umgebung und die Gesellschaft, in der sie sich bewegen, sie bewerten sie, reagieren darauf, und dadurch wird für mich das Geschehen viel eher greifbar und nachvollziehbar, vor allem dann, wenn ich einschätzen kann, was für ein Mensch diese Figur ist. Die Figuren bringen mich dazu, die Ereignisse nicht nur durch meine aktuelle 2018er-Brille zu betrachten und zu werten, sondern auch, soweit möglich jedenfalls, auch durch ihre eigene, durch die 1930er-Zeitzeugen-Brille.


    Und ich will ja nicht nur wissen, was sich damals politisch und gesellschaftlich getan hat, ich möchte auch wissen, wie die Menschen das erlebt haben, was sie darüber gedacht haben, wie sie mit diesen ganzen Umwälzungen und Krisen fertig geworden sind, wovon sie geträumt und was sie sich gewünscht haben. Ich bin überzeugt, dass Kästner mit diesem Buch auch eine Botschaft an die Leser übermittelt, aber für mich sind es die Figuren mit ihren Handlungen, die sie transportieren.


    Und gerade die Figur des Fabian, der so plan- und ziellos durch diese Zeit trudelt und jeden Einsatz und Ehrgeiz entbehrt, weil er glaubt oder ahnt, dass sowieso alles vor die Hunde geht, macht mir erst sichtbar, welches Tollhaus Berlin in diesen Jahren gewesen sein muss, und dass die Menschen dort offenbar jegliche Moral und Anstand verloren haben. Seine - bis jetzt zumindest - ergebnislose Suche danach demonstriert ja irgendwie erst die Abwesenheit dieser Werte.


    Ich würde annehmen, dass dieser Sittenverfall, diese Zügellosigkeit und der Verlust gesellschaftlicher Normen und Werte auch einen großen Teil dazu beigetragen haben, dass drei Jahre später die Nationalsozialisten an die Macht kamen, weil die Menschen dieser Zeit sich - unbewusst vielleicht - wieder feste Regeln gewünscht haben, Sicherheit, Beständigkeit, einen Maßstab, nach dem sie ihr aus den Fugen geratenes Leben ausrichten können, all das, was die Nazis ihnen dann eben versprochen haben.


    Ich bin jedenfalls froh, dass der Autor seinen Figuren so viel Platz gewidmet hat. Nicht nur den Hauptfiguren wie Fabian und Labude, auch all den kleinen liebenswerten Nebenrollen, die für mich das Berlin der damaligen Zeit erst lebendig machen.

  • Das sehe ich genauso. Sprachlich ist Kästner hier konsequent und das ist absolut passend, finde ich.

    "Als ich ein kleiner Junge war" werde ich bald lesen.


    Für mich ist es schwierig, hier weiter etwas zu schreiben. Ich kenne die Anhänge, ich weiß, was Kästner mit diesem "Roman" bezweckte und wie er zu dieser Figur "Fabian" stand. Deshalb halte ich mich in der Runde hier zurück.

  • Für mich hat Fabian die Funktion eines Kaleidoskops. Kästner beschreibt die wilden als "goldene zwanziger Jahre" berühmt gewordenen Berliner Jahre durch Fabians Augen, die Kästner wie ein Kaleidoskop benutzt und uns damit ein Zerrbild der damaligen Realität anbietet.


    Bücherdrache : Ich kann Deinen obigen Worten zustimmen, aber das

    Ich würde annehmen, dass dieser Sittenverfall, diese Zügellosigkeit und der Verlust gesellschaftlicher Normen und Werte auch einen großen Teil dazu beigetragen haben, dass drei Jahre später die Nationalsozialisten an die Macht kamen, weil die Menschen dieser Zeit sich - unbewusst vielleicht - wieder feste Regeln gewünscht haben, Sicherheit, Beständigkeit, einen Maßstab, nach dem sie ihr aus den Fugen geratenes Leben ausrichten können, all das, was die Nazis ihnen dann eben versprochen haben.

    ist etwas zu weit interpretiert. Die wilden Jahre mit dem Sittenverfall waren meines Wissens vor allem auf Berlin begrenzt. Die Nazis haben vor allem Arbeitsplätze und Abschaffung der Reparationsleistungen versprochen. Die Abschaffung der Tanzbars in Berlin standen eher nicht im Fokus der Propaganda.