'Der Engel mit der Posaune' - Kapitel 21 – 27

  • „Nicht viel passiert? Nicht mehr, nicht weniger als alles!“ (S. 283)

    Es ist lange her, daß mich ein Buch dermaßen mitgenommen und aus dem Takt gebracht hat wie dieser Abschnitt. Selten (oder vielleicht noch nie) habe ich ein Buch gelesen, in welchem in so lakonisch-neutraler Erzählweise ein dermaßen scharfes und gleichermaßen hochemotional aufgeladenes Bild entworfen und beschrieben wird wie hier. Ich habe das erst mal einige Stunden sacken lassen müssen, ehe ich jetzt hier schreiben kann und bevor es lesemäßig weiter geht. Ich werde wohl nur nüchtern einige Dinge aufzählen können, auf Neudeutsch könnte ich sagen, dieser Abschnitt hat mich dermaßen „geflasht“, daß ich derzeit nicht viel Sinnvolles von mir geben kann. Ohne dem Ende vorgreifen zu wollen (ich habe schon mal ein Buch in der Mitte als Jahreshighlight bezeichnet - und am Ende würde ich von diesem Autor nie wieder etwas lesen und war mit dem Buch extrem unzufrieden, so daß ich da etwas vorsichtig geworden bin) - wenn es so bleibt, hat der „Engel mit der Posaune“ das Zeug zum Jahreslesehighlight.


    Hans bekommt also Zweifel, ob Martha Monica ein Kind seines Vater ist. seine Mutter bestätigt ihm das. „In dem Zimmer hier ist immer gelogen worden, dachte sie, vom Tag an, als seine Mauern kaum noch standen. Eine Lüge mehr oder weniger - was macht das aus.“ (S. 215) Irgendwo irgendwie hat Henriette recht. Und ändern läßt sich eh nichts mehr.


    Ich hatte es vergessen, bei einem Buch über Mahler ist mir schon mal begegnet - wie einige Seiten weiter bestätigt wird, sind wir inzwischen im Jahr 1910 -, daß seinerzeit Antisemitismus weit verbreitet war und zunahm, einschließlich Gewalttaten. S. 218 taucht das recht massiv hier auf, bis in die höchsten Kreise. Die Folgen sind bekannt. Und wenn ich an die heutigen Zeitungsberichte über die aktuellen Entwicklungen lese, wird mir ganz anders. Alles schon mal da gewesen und nichts dazugelernt.


    S. 230ff frage ich mich, ob das tatsächlich die Meinungen und Stimmung von damals wieder gibt oder ob es die Meinung des Autors über Österreich ist. Immerhin - und Gott sei Dank! - ist das Buch nicht zensiert und auf heutige political correctness umgeschrieben worden, wie der Begriff „Negerdialekt“ auf Seite 230 zeigt. Ich schätze, diese fast schon philosophischen Absätze werde ich noch ein paar Mal separat lesen, da steckt ungeheuer viel drin.


    Ob es den Streik damals gab, weiß ich nicht; ich vermute jedoch schon. Jedenfalls wird Hans darin verwickelt. Interessant in diesem Zusammenhang die Rechnung, die er aufmacht. Die geforderte Lohnerhöhung in Relation zum gerade erwirtschafteten Gewinn (S. 239). Durch die Verhaftung kommt er direkt in Kontakt mit den „niederen Volksschichten“ und deren Problemen. Ob ihn das verändern wird? Ich schätze schon. Aber mit was für Folgen?


    Es kommt an dieser Stelle, kurz vor dem 1. Weltkrieg mit den uns bekannten Folgen, nochmals in voller Härte und Deutlichkeit die herrschende Meinung zu Wort (in Gestalt des Onkels und Oberstaatsanwaltes). Wenn man das so liest, ist es im Nachhinein eigentlich geradezu zwangsläufig, daß da Änderungen kommen müssen. Und wenn nicht willig, dann mit Gewalt.


    Hans verliebt sich in ein Mädchen von niedrigerem Stand als er, klar, daß der Vater dagegen ist. Schon aus Prinzip. Nicht so klar ist mir, wie das ausgehen wird. Erstaunt war ich, daß Hans mit 24 noch nicht volljährig ist. Wann wurde man das damals? Mit 25? (Hier in diesem Artikel steht, daß man seinerzeit mit Vollendung des 24. Lebensjahres großjährig - also volljährig - wurde. Da müßte er doch eigentlich gerade volljährig geworden sein?) Aber erst muß er aus dem Krieg zurück kommen. Es sind so viele Angehörige aus dem Haus der Seilergasse Nr. 10 im Krieg, daß ich die Befürchtung hege, es werden nicht alle zurück kommen. Und ich habe keine Ahnung, von wem wir nur noch ein Mal hören werden...

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • In Wien gab es 1914 auf jeden Fall Streiks von Druckern.
    Die Zustände, die dieses Buch beschreibt, machen mich unglaublich wütend. Sie geht mir richtig

    nahe, diese Geschichte. Womöglich bewirkt das gerade der eher nüchterne Erzählstil.


    Fritz Meinung auf S. 230 war sicher eher eine Minderheitsmeinung.


    Vor Jahren habe ich, da ich vom 1. Weltkrieg wenig in Erinnerung behalten habe, Christopher Clarks Buch "Die Schlafwandler" gelesen. Das war sehr erhellend.

  • Nur eine Frage, da ich selbst mit dem Lesen noch nicht an dieser Stelle bin?


    Bezieht sich der Ausdruck Negerdialekt im Roman tatsächlich auf eine Person, die einen Menschen meint, der heute als Schwarzafrikaner bezeichnet würde? Immerhin hatte der Ausdruck Neger in Wien ursprünglich eine andere Bedeutung, er bezog sich auf jemanden, der "ne ga" war, das meinte eine Person, die nichts besitzt, war also ursprünglich (also um die Jahrhundertwende) noch eine Bezeichnung für arme Leute.

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    Die gefährlichsten Unwahrheiten sind Wahrheiten, mäßig entstellt. (Georg Christoph Lichtenberg)

  • Teresa

    Der Satz im Zusammenhang (Habsburg-Österreich-Vielvölkerstaat) lautet: (S. 230):

    "Der Pole in Przemysl oder der Italiener in Trient oder der Böhm' in Budweis - die denken ja überhaupt an nichts als: Wie komm ich um Gotes willen aus dieem vermaledeiten Gefängnis heraus, wo meine eigene Sprache nicht die 'Amtssprache', sondern ein sechstklassiger Negerdialekt ist; wo man mir von früh bis Abend beweist, dass ich ein drittrangiges Geschöpf bin und wo man, trotzdem, von mir als Selbstverständlichkeit verlangt, für die erstrangigen Wesen, die Wiener, derei Jahr' beim Militär zu dienen und ein ganzes Leben Steuern zu zahlen!"

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Und über einige kann ich nur den Kopf schütteln.


    S. 220:

    Als die alte Fürstin Metternich herausschaute, wich Henriette ihrem Blick aus. Damals, nach der Redoute, wär‘s ein leichtes gewesen, dieselbe Rolle in Wien zu spielen wie die Schratt! Aber nein! Der Franz wollte nicht! Ihre Welt blieb Seilerstätte 10.


    Hier geht‘s zum Wikipedia-Eintrag über Katharina Schratt.



  • Es ist schon gut gemacht, die Hauptpersonen so differenziert zu beschreiben.

    Ich finde, Henriette hat in ihrem Leben bisher nichts dazugelernt. Allein diese Träume, welches Leben sie mit Rudolf hätte führen können (S.220 unten) - wäre sie 17, könnte man es als naive Träume eines jungen Mädchens durchgehen lassen.

    Ob sie sich nie überlegt hat, welches Leben auf sie zugekommen wäre? Die Ablehnung in der Seilerstraße wäre nichts dagegen gewesen.


    Auf den Seiten vorher, wo es um die Rennstallbesitzer geht, kommt wieder der allgegenwärtige Antisemitismus zum Vorschein. Diese Pest war auch damals schon in ganz Europa verbreitet.

  • Das Buch hat bei mir schon von Anfang an eine eher melancholische Stimmung erzeugt. Das hat sich jetzt in diesem Abschnitt noch deutlich verstärkt. Alles scheint mir eher düster und ohne viel Hoffnung. Erstaunlicherweise gefällt mir das Buch trotztdem noch immer wahnsinnig gut und ich kann mich SiCollier nur anschließen:

    wenn es so bleibt, hat der „Engel mit der Posaune“ das Zeug zum Jahreslesehighlight.

    :write

    Bei mir auch!!


    Pelican : Danke für den Link! War für mich sehr interessant, da mir die "Schratt" nicht wirklich was gesagt hat.


    Tja und über Henriette und ihre Einstellung bzw. ihre Träumereien kann ich mich auch nur wundern. Sie ist wirklich wie ein kleines Mädchen, dem man das Lieblings-Spielzeug weggenommen hat....

  • Ich muss mir immer wieder vor Augen halten, dass dies ein zeitgenössischer Roman ist.


    Spannend finde ich auch wieviel Ernst Lothar weiß. Ich habe vor einiger Zeit mal einen Bericht zu Franz Joseph gesehen, und die Darstellung von Ernst Lothar deckt sich da sehr.

  • Pelican, das muss ich mir auch immer wieder klar machen.

    Das alles war zur Zeit des Entstehens des Romans noch ziemlich präsent, bei einem Österreicher sowieso.


    Heute ist das alles Geschichte und gerade die des ersten Weltkriegs und die kurz davor ist bei mir immer

    zu kurz gekommen. Wurde alles vom zweiten überlagert.


    Es wäre schön gewesen, hätte der Verlag eine kurze Zusammenstellung beigefügt.

  • Pelican

    Danke für den Link über Katharina Schratt!


    Ich finde, Henriette hat in ihrem Leben bisher nichts dazugelernt. Allein diese Träume, welches Leben sie mit Rudolf hätte führen können (S.220 unten) - wäre sie 17, könnte man es als naive Träume eines jungen Mädchens durchgehen lassen.

    Ob sie sich nie überlegt hat, welches Leben auf sie zugekommen wäre? Die Ablehnung in der Seilerstraße wäre nichts dagegen gewesen.

    Ja, dieses "nichts dazugelernt" (oder vielleicht würde ich eher sagen "wenig dazugelernt") sehe ich auch so, damit steht sie sich oft selbst im Weg bzw. das Leben wird schwerer, als es eigentlich sein müßte.


    In Ergänzung zu unserer früheren Diskussion über Henriette ist das für mich ihr "Hauptfehler", der ihrem Lebensglück im Wege steht. Nur: hätte sie diesen "Fehler" vermeiden können, bei den Zeitumständen, bei der Erziehung, die ihr über ihre Mutter etwas vorgaukelte, was nicht existierte und bei dem vielen Schweigen über Wesentliches?


    Ich muss mir immer wieder vor Augen halten, dass dies ein zeitgenössischer Roman ist.

    Ähm, wie meinst Du das jetzt? Für uns ist er nicht zeitgenössisch, denn der Autor ist schon lange verstorben, das Buch 1944 erstmals erschienen. Oder meinst Du "zeitgenössisch" in dem Sinn, als der Autor etwa so alt ist die die Kinder vopn Henriette und Franz?


    Heute ist das alles Geschichte und gerade die des ersten Weltkriegs und die kurz davor ist bei mir immer

    zu kurz gekommen. Wurde alles vom zweiten überlagert.

    :write . Das ist übrigens heute noch so. Das Fach "Geschichte" besteht (zumindest bis vor kurzem, als meine Tochter noch in die Schule ging) aus Rom - und dem Dritten Reich. Der Rest und die übrigen Jahrhunderte / Jahrtausende haben anscheinend nicht existiert. Bei so einer "Geschichtslosigkeit" muß man sich über manche Entwicklung heute vielleicht gar nicht so sehr wundern.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • SiCollier, andererseits hat die Kenntnis der Geschichte bisher auch nicht viel verhindert. Menschen lernen nicht aus der Vergangenheit.

    Man muss ich nur umhören, dann möchte man auswandern. Nur wohin?


    Ich denke, Henriette hätte schon etwas lernen können. Nämlich mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, nicht in genau die gleichen Fehler zu verfallen, die die Mitbewohner des Hauses gemacht haben, als sie neu hinzugekommen ist. Ein wenig Freundlichkeit und Güte zu zeigen. Aber sie hat immer nur ihr vermeintliches Unglück beklagt, die Fehler immer nur bei den Anderen gesucht.

    Wie gut sie es tatsächlich hatte, daran hat sie nie einen Gedanken verschwendet.


    Ich habe übrigens, als Kontrastprogramm sozusagen, den Briefwechsel zwischen Kurt Weill und Lotte Lenya vorgekramt. Lotte Lenya ist 1898 in Wien geboren. Als Kind sehr armer Leute. Zur Einführung gibt es in dem Buch einen zwar kurzen, aber sehr aussagekräftigen Abschnitt über ihre Kindheit und Jugend.


    Mir gefällt nach wie vor sehr gut, wie Lothar seine Personen darstellt. Vor den unbequemen, schlechten Seiten nicht zurückschreckt.

  • SiCollier, andererseits hat die Kenntnis der Geschichte bisher auch nicht viel verhindert. Menschen lernen nicht aus der Vergangenheit.

    Man muss ich nur umhören, dann möchte man auswandern. Nur wohin?

    :write , leider (also das mit dem nicht dazulernen). Auswandern wäre in der Tat schwierig. Amerika scheidet inzwischen ja auch aus...


    Mir gefällt nach wie vor sehr gut, wie Lothar seine Personen darstellt. Vor den unbequemen, schlechten Seiten nicht zurückschreckt.

    :write :anbet

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • In Ergänzung zu unserer früheren Diskussion über Henriette ist das für mich ihr "Hauptfehler", der ihrem Lebensglück im Wege steht. Nur: hätte sie diesen "Fehler" vermeiden können, bei den Zeitumständen, bei der Erziehung, die ihr über ihre Mutter etwas vorgaukelte, was nicht existierte und bei dem vielen Schweigen über Wesentliches?

    Ja. Es gibt andere, die sich trotz miserabler Voraussetzungen und Ereignisse positiv entwickeln. Also hat jeder diese Möglichkeit im Grundsatz.

  • Ähm, wie meinst Du das jetzt? Für uns ist er nicht zeitgenössisch, denn der Autor ist schon lange verstorben, das Buch 1944 erstmals erschienen. Oder meinst Du "zeitgenössisch" in dem Sinn, als der Autor etwa so alt ist die die Kinder vopn Henriette und Franz?

    Der Roman erschien 1944 und umfasst 60 Jahre bis zu diesem Zeitpunkt. Er wurde damals also als zeitgenössischer Roman erschienen. Wäre er erst heute geschrieben und erschienen, wäre er als historisch einzustufen.

  • Ja. Es gibt andere, die sich trotz miserabler Voraussetzungen und Ereignisse positiv entwickeln. Also hat jeder diese Möglichkeit im Grundsatz.

    Im Prinzip hast Du recht. Da spielt dann vermutlich die Veranlagung noch eine Rolle, so daß nicht jeder alle Möglichkeiten nutzen kann/wird.




    Der Roman erschien 1944 und umfasst 60 Jahre bis zu diesem Zeitpunkt. Er wurde damals also als zeitgenössischer Roman erschienen. Wäre er erst heute geschrieben und erschienen, wäre er als historisch einzustufen.

    Danke, jetzt hab ich, hitzegeschädigt wie ich bin, es kapiert.

    Unter den Büchern finden wir wieder, was uns in der Fremde entschwand, Frieden im Innern und Frieden mit unserer Umgebung.
    (Gustav Freytag, 1816 - 1895, aus "Die verlorene Handschrift")

  • Ich lese den Roman immer noch sehr langsam, Seite für Seite, Zeile für Zeile mit Genuss.

    In meinem Lesekreis an der Uni haben wir uns im Gedenkjahr 2014 sehr ausführlich mit der Zeit damals beschäftigt, und dieser Roman stellt die Dinge wirklich sehr authentisch dar. Vor allem fehlt zum Glück der sentimentale Sisi-Kitsch und die Franz-Joseph-Schönfärberei. Ein großes Lob an den Autor.


    Mein besonderes Interesse galt den Gesprächen von Hans mit Fritz Drauffer und Selma. Kapitel 19 ist ein Fundgrube.


    Zur Frage der Volljährigkeit: wie SiCollier schrieb, wurden Männer damals mit 24 volljährig. Aber Hans war bei Kriegsausbruch "nicht ganz vierundzwanzig", wie man auf Seite 273 lesen kann. Zum Kämpfen und Sterben ist man alt genug, zum Heiraten nicht. Darüber darf der Vater bestimmen.

    Kinder lieben zunächst ihre Eltern blind, später fangen sie an, diese zu beurteilen, manchmal verzeihen sie ihnen sogar. Oscar Wilde

  • Kap. 27 Ein Dienst geht zu Ende


    Die Beschreibung der Einsamkeit am Ende vom Leben des Kaisers Franz Josef, der nur noch zwei kleine Räume im Schloss Schönbrunn bewohnte, hat mich sehr erschüttert. Der Kaiser war in keiner Weise zu beneiden. Als 86jähriger immer noch um 4 Uhr aufstehen und um halb 5 Uhr über den Akten sitzen! :yikes Dann das banale Ende: "Zum ersten Mal im Leben nahmen Seine Majestät die Akten nicht." (S.282)