Antje Wagner: Hyde
Verlag: Beltz & Gelberg 2018. 408 Seiten
ISBN-10: 3407754353
ISBN-13: 978-3407754356. 17,95€
Vom Verlag empfohlenes Alter: 15 - 17 Jahre
Verlagstext
Seit sie denken kann, ist Hyde Katrinas Zuhause gewesen. Hier ist sie aufgewachsen, mit ihrer Schwester Zoe und ihrem Vater. Jetzt ist Hyde verschwunden – und Katrina auf sich allein gestellt. Von dem, was geschehen ist, weiß sie nur noch Bruchstücke. Als sie beginnt, ein verfallenes Haus zu renovieren, mit dem sie sich auf seltsame Weise verbunden fühlt, führt sie dies auf die Spur eines ungeheuren Geheimnisses. Ist sie überhaupt diejenige, die sie glaubt zu sein?
Brillant und mit großem Gespür für ihre Figuren, lässt Antje Wagner aus dem Alltäglichen das Unheimliche erwachsen, dessen Faszination sich niemand entziehen kann.
Die Autorin
Antje Wagner, geboren 1974, studierte deutsche und amerikanische Literatur- und Kulturwissenschaften und lebt in Hildesheim. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung nahm sie 2012 in den Kanon der 20 besten deutschsprachigen Schriftsteller unter 40 Jahren auf. Bislang erschienen u.a. ihre Romane »Unland« (ver.di Literaturpreis 2010, Prädikat »Beste 7 Bücher für junge Leser« (DeutschlandRadio/Focus)), »Schattengesicht« und »Vakuum« (u.a. ausgezeichnet mit dem Leipziger Lesekompass 2013).
Inhalt
Katrina ist als frisch freigesprochene Tischlergesellin auf der Walz und hat sich den Regeln ihrer Zunft zu unterwerfen. Unterkunft und Verpflegung muss sie sich unterwegs erarbeiten und sie darf ihre Heimatgemeinde während dieser Zeit nicht betreten. Katrinas Gedanken wandern in Rückblenden in ihre frühe Kindheit, die sie mit Vater und Schwester Zoe in „Hyde“ verbrachte, gelegen in einem abgelegenen Waldstück. Etwas Grauenhaftes muss inzwischen passiert sein. Abweichend von der Zunftordnung will Katrina unbedingt Geld verdienen, das sie für einen geplanten Rachefeldzug benötigt. Gleich mehrere spannende Fragen stellen sich: Was ist mit Katrina geschehen, wo ist ihre Schwester, was genau ist Hyde (eine Gegend, ein Haus oder eine Lebenseinstellung?) und - in welche Reihenfolge gehören die Schnipsel ihrer Erinnerungen? Noch spannender wirkt die Handlung, indem Wagner nicht allein ihre Hauptfigur beschreibt, sondern andere auf Katrina reagieren lässt.
Zoe und Katrina wurden offenbar, tief in einem Wald hinter Brombeergestrüpp verborgen, auf hohem Niveau unterrichtet und gleichzeitig für ein Leben außerhalb des Waldes vorbereitet. Zoe wusste alles über Pflanzen und was sich aus Pflanzenauszügen herstellen lässt und Katrina wusste alles über Holz. Dass die Mädchen sich in große Gefahr bringen, wenn sie von der eingepaukten Routine abweichen, ist von Anfang an spürbar und lässt mich rätseln, wer sie so diszipliniert trainiert und warum. Gründe, um mit Kindern unterzutauchen, fallen mir viele ein; auch Eltern, die mit ihren Kindern autark leben wollen, hat es schon immer gegeben. Katrina wiederum ist überzeugt davon, dass der Mann, der sie derart sorgfältig über das Leben und die Natur unterrichtete, nicht der sein kann, den all ihre Kontaktpersonen in ihm sehen.
Nach einigen Umwegen landet Katrina im märchenhaften „Haus Waldkauz“ mit Türmchen und dem Charme abblätternder Emaille, für das ein Hausmeister gesucht wird. Offenbar hat es bisher kein Bewohner darin so lange ausgehalten, dass die notwendige Renovierung endlich in Angriff genommen werden konnte. Katrina als Handwerkerin scheint die passende Person für diese Aufgabe zu sein und wird von der Gemeinde eingestellt, der Eigentümerin des Hauses. Da Katrina deutlich Probleme mit ihrem schwächeren Bein hat und ihr Gesicht sorgfältig unter einem Tuch verbirgt, kann ich sie mir anfangs noch nicht frei stehend bei der Arbeit auf einem Ziegeldach vorstellen. Mitten im unwirtlichen Winter plant sie die dringendsten Arbeiten und beginnt zu ahnen, dass das Haus wie ein Lebewesen agiert und mit einigen Geheimnissen aufwartet. Wie Katrina einen Schrank liebevoll restauriert und der Schrank darauf sichtlich antwortet, war eine der eindringlichsten Szenen für mich. Zugleich lässt Katrina die Suche nach ihrer Vergangenheit und dem Nachlass ihres Vaters nicht los, den er in Hyde für sie vergraben hat.
Von schlauen, handwerklich versierten Figuren wie Katrina hätte ich als 14-Jährige gern gelesen, allerdings hätte ich in dem Alter noch kein Interesse an den fantastischen Elementen des Romans gehabt. Wegen ihrer starken Mädchenfiguren bin ich schon lange Fan von Antje Wagner. Als erwachsene Leserin hat der Roman mich kritisch fragen lassen, warum ich die Personen so einschätze, wie ich es tue - das tut mir immer gut.
Fazit
Antje Wagner erzeugt mit einer Zuflucht hinter Brombeerranken und einem verwunschenen „sprechenden“ Haus eine unheimliche Atmosphäre, die mich sofort gepackt hat. Zahlreiche Handlungsabschnitte müssen von den Lesern erst zu einem neuen Faden verdrillt werden, ehe ein logisches Bild der Geschehnisse entstehen kann. Wer sich auf die reiche Symbolik des Romans einlassen kann, erfährt eine neue Sicht auf Erinnerungen contra Wahrheit, auf Elternschaft, Verletzungen, Therapie und auf Türen, die sich im Leben öffnen können. Das Lektorat bekommt leider nur ein Befriedigend, weil ein für die Auflösung wichtiger technischer Ablauf nicht ausreichend recherchiert wurde.
Empfehlen würde ich das Buch Lesern ab 16, die eine Prise Mystery vertragen und nach starken Mädchenfiguren suchen.
9 von 10 Punkten